Ulf Mühlhausen beschreibt selbst sein Buch als ein schulpädagogisches Werk, das den Leser/innen die Möglichkeit bietet, die dort beschriebenen und analysierten Unterrichtsprozesse in Videoszenen, die im Rahmen eines Online-Codes zur Verfügung gestellt werden, mitzuerleben. Damit verbunden ist eine Auseinandersetzung mit Grundfragen des Inklusiven Unterrichts. Daher versteht sich dieses Buch als ein praxisfundiertes Werk des gegenständlichen Diskurses. Das scheint in Anbetracht unzähliger Publikationen zum Thema als ein innovativer Zugang, da das Videomaterial auch Möglichkeiten für die Ausbildung angehender und im Beruf stehender Lehrpersonen bietet. Dieser Punkt könnte jedoch auch als Schwäche ausgelegt werden, da viele Themen im Buch aufgegriffen werden, die bereits im wissenschaftlichen bzw. theoretischen Diskurs bearbeitet wurden und eine theoretische Basis für eine praxisbezogene Auseinandersetzung ermöglichen könnten.
Im einführenden Kapitel 1 wird auf das Konfliktfeld Inklusiven Unterrichts hingewiesen. Dieses bezieht sich auf die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland und erkennt somit Menschen mit Behinderung das Recht auf Bildung zu. Damit einher geht die Verpflichtung ein inklusives Bildungssystem zu etablieren. Es werden seitens des Autors viele unterschiedliche Gründe angeführt, warum diese Umsetzung als zögerlich beschrieben werden kann. Dazu gehören auf unterschiedlichen Ebenen: Widerstand von einflussreichen Personen und Institutionen, der Umgang der Judikatur, die Perspektive von Betroffenen, das familiäre Umfeld, die Schulleitung und Lehrpersonen. In diesem Zusammenhang versucht der Autor einen vielseitigen Blick darauf zu bieten und verweist hier auf unterschiedliche Werke.
Das Konfliktfeld „Inklusiver Unterricht“ wird weiterverfolgt, indem vermeintliche Widersprüche aufgedeckt werden. So wird auf das separierende Lernen als konstitutives Merkmal Inklusiven Unterrichts hingewiesen. Diese Hinführung leitet über zur täglichen Praxis des Inklusiven Unterrichts in deutschen Schulen. Weiterführend geht Mühlhausen darauf ein, dass es „keinen detaillierten, empirisch belegten Gesamtüberblick über Ausprägungsformen und Wirkungen Inklusiven Unterrichts in Deutschland“ (21) gibt und beschreibt die Notwendigkeit von qualitativen und quantitativen Studien. Das Buch bildet sogenannte Bausteine für eine solche Gesamtdokumentation auf der Grundlage von Fallstudien mit verschiedenen Erhebungsmethoden, die aus mehreren Perspektiven die Praxis Inklusiven Unterrichts beleuchten sollen. Diese mehrperspektivischen Fallstudien ergeben sich aus unterschiedlichen methodischen Zugängen wie Hospitationen, Interviews mit Schüler*innen und Lehrer*innen, Auswertungen von Unterrichtsdokumentationen und Videoaufzeichnungen. Der Autor führt an, dass die Schulen für die Fallstudien aus der Region Hannover stammen und die Durchführung einen Zeitraum von neun Jahren beanspruchte. Dabei werden ethische Aspekte wie das Schaffen einer Vertrauensbasis, aber auch die Gütekriterien der Forschung angesprochen.
Im zweiten Kapitel werden die Ergebnisse aus Erkundungsprojekten an zehn inklusiv geführten Regelschulen vorgestellt, die in den ersten Jahren nach der geforderten Einführung von Inklusionsklassen an niedersächsischen Regelschulen durchgeführt wurden. Dabei werden Kurzportraits der Schulen, die Analyseschwerpunkte, der Beobachtungsbogen und der Interviewleitfaden beschrieben. Die Art der Auswertung ist gänzlich offen und es bleibt lediglich bei einer beschreibenden Darstellung der Ergebnisse, die sich als eine „facettenreiche Praxis Inklusiven Unterrichts“ (36) versteht. Dabei wird nicht nur auf die unterschiedlichen Differenzierungsformen und die Zusammenarbeit zwischen Förder- und Regellehrkräfte eingegangen, sondern auch auf die Auswirkungen Inklusiven Unterrichts auf die Schüler/innenbeziehungen, Hindernisse und vorteilhafte Rahmenbedingungen.
Das dritte Kapitel setzt sich mit der Binnendifferenzierung auseinander. Hierbei findet sich ein Verweis auf die nächsten fünf Kapitel, in denen insgesamt fünf Ansätze zur Binnendifferenzierung präsentiert werden, „um gehandicapten Schülern eine Teilhabe am gemeinsamen Lernen“ (71) zu ermöglichen. Dabei wird auf den Wochenplanunterricht, das Gruppenpuzzle, das Stationenlernen, den Projektunterricht und das Monatsquiz eingegangen. Diese Ansätze werden in zweifacher Weise dargestellt, nämlich als didaktisches Konzept und anhand eines Unterrichtsbeispiels aus dem Schulalltag. Im dritten Kapitel werden die Vorzüge dieser doppelten Darstellungsweise und die Nutzung der fünf Hannoveraner Unterrichtsbilder erläutert. Dabei findet sich ein – aus meiner Sicht – wichtiger Hinweis auf die Nutzung in der Lehrer/innenbildung, wobei die konstruktive Kritik im Vordergrund stehen sollte.
In Kapitel 9 stehen die Kontroversen bezüglich Inklusiven Unterrichts in videografierten Schlüsselszenen im Mittelpunkt. Dabei verweist der Autor auf bestimmte Videoszenen, die als Katalysatoren für kontroverse Diskussionen zu den nachfolgenden vier Punkten dienen sollen: Team-teaching zwischen Förder- und Regelschullehrkräften, Zusammenarbeit von Schüler/innen, individuelle Unterstützung seitens der Lehrperson und Regeln und Rituale. In diesem Kapitel wird auf die Nutzung der webbasierten Unterrichtsanalyse verwiesen, die im Rahmen der Lehrer/innenbildung verwendet werden könnte. Dabei wird auf das Konzept, die einzelnen Videoausschnitte (Länge und Aufbau des Videos, Fragestellungen, Exzerpt zur Beantwortung der Fragen und mögliche Analyseergebnisse) und deren Vorzüge eingegangen.
Kapitel 10 widmet sich der Perspektive von SchĂĽler/innen auf den Inklusiven Unterricht. Darin werden der Interview-Kontext und die Anlassgebung, das methodische Vorgehen, die damit verbundene Fragestellung und die Vorbereitung der Interviews beschrieben. Die Auswertung der SchĂĽler/innenantworten wird in einer zusammenfassenden Darstellung wiedergegeben. Wiederum erfolgt kein Verweis zur methodischen Auswertung.
Das letzte Kapitel bildet das Fazit und den Ausblick. Hier wird die in der Einführung begonnene Kontroverse zwischen der Perspektive von den sog. Inklusionsgegner/innen und sog. Inklusionsbefürworter/innen fortgeführt. Es wird auf die Notwendigkeit geeigneter Konzepte zur Gestaltung des Inklusiven Unterrichts verwiesen, die eine ständige Neukonzeption, Erprobung, Evaluation und ggf. Modifikation in den einzelnen Inklusionsklassen erfordert. Des Weiteren gibt der Autor weitere Streitpunkte wieder, die einerseits angeführt und andererseits anhand von Praxisbeispielen näher erläutert werden. Dabei fordert der Autor ein, die strittigen Grundsatzfragen nicht als „theoretischen Prinzipienstreit“ (196) austragen zu lassen, sondern praxisfundiert anhand der Grundlage gemeinsam erlebten Unterrichts zu erläutern.
Insgesamt bietet das Buch einen vielfältigen Einblick in den bereits durchgeführten Inklusiven Unterricht aus der Region Hannover, der anhand von mehrperspektivischen Fallstudien beleuchtet wird. Dabei offeriert es Anregungen, Videos und damit verbundene didaktische Möglichkeiten des Einsatzes in der Lehrer/innenbildung, die eine konstruktive Diskussion in der Lehre ermöglicht. In diesem Zusammenhang sei vermerkt, dass sich das Buch vorwiegend auf einen engen Inklusionsbegriff (dabei steht ein behinderungsbezogenes Adressatenverständnis im Vordergrund) bezieht. Auch sprachlich ist das Buch kontroversiell zu sehen (Gendergerechte Schreibweise ist nicht durchgängig gegeben, z. B. „gehandicapte Schüler“, 71). Wer sich auf einen praxisorientierten Diskurs einlassen möchte, dem kann dieses Werk empfohlen werden.
EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)
Konfliktfeld Inklusiver Unterricht
Eine Praxisfundierung des Diskurses
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2019
(220 S.; ISBN 978-3-8340-2013-0; 19,80 EUR)
Florentine Paudel (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florentine Paudel: Rezension von: MĂĽhlhausen, Ulf: Konfliktfeld Inklusiver Unterricht, Eine Praxisfundierung des Diskurses. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383402013.html
Florentine Paudel: Rezension von: MĂĽhlhausen, Ulf: Konfliktfeld Inklusiver Unterricht, Eine Praxisfundierung des Diskurses. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383402013.html