EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sammelrezension zum Thema Klassiker und Klassikerinnen der Pädagogik

Sven Kluge / Eva Borst (Hrsg.)
Verdrängte Klassiker und Klassikerinnen der Pädagogik
Pädagogik und Politik, Bd. 6
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013
(210 S.; ISBN 978-3-8340-1258-6; 18,00 EUR)
Patrick Bühler / Thomas Bühler / Fritz Osterwalder (Hrsg.)
Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren
Prisma - Beiträge zur Erziehungswissenschaft aus historischer, psychologischer und soziologischer Perspektive, Bd. 19
Bern: Haupt 2013
(320 S.; ISBN 978-3-258-07814-4; 46,90 EUR)
Verdrängte Klassiker und Klassikerinnen der Pädagogik Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren In dieser Besprechung werden zwei Neuerscheinungen 2013 vorgestellt, die sich beide mit Klassikerinnen und Klassikern der Pädagogik beschäftigen, einmal mit Perspektive auf die Vergessenen und Verdrängten und einmal mit der Frage nach der Herstellung solcher klassischen bzw. Erlöserfiguren.

(I) Verdrängte Klassiker und Klassikerinnen der Pädagogik

Das erste Werk erscheint als sechster Band in der Reihe „Pädagogik und Politik“, die als Einführung in Themen der Erziehung und Bildung konzipiert ist und laut Klappentext zwei Ziele verfolgt, einmal Grundthematiken der Erziehungswissenschaft in sozialkritischer Sicht darzustellen und damit gegen den Mainstream anzugehen. Und zweitens Institutionen und Personen der kritischen Pädagogik vorzustellen, um eine „kritische Auseinandersetzung im Hinblick auf Politik und Globalisierung“ (ebd.) zu ermöglichen. Daraus resultiert die Auswahl der neun in dem Band vorgestellten und laut Titel verdrängten Klassikerinnen und Klassiker, die alle aus dem Kontext der deutschsprachigen historischen Reformpädagogik stammen. Die HerausgeberInnen Eva Borst und Sven Kluge beabsichtigen mit diesem Band, der Auftakt weiterer ähnlicher geplanter Personenporträtierungen ist, nicht den Kanon – wie man ihn bei Scheuerl und Tenorth finde – zu erweitern, aber ihn kritisch zu kommentieren, da dort bestimmte Perspektiven nur randständig bis gar nicht vorkommen (vgl. 7). So fehlen dem Herausgeberduo „Pädagogen und Pädagoginnen, die die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als kritische Gesellschaftstheorie fruchtbar gemacht haben“ (8). Als „besonders schwerwiegenden Mangel“ stufen sie die Ausklammerung der Individualpsychologie Alfred Adlers ein (ebd.). Gründe für diese Ausklammerung gerade dieser aus dem Spektrum des demokratischen Sozialismus stammenden VertreterInnen sehen die HerausgeberInnen in der Wissenschaftspolitik der Universitäten, die eben keine AußenseiterInnen zulasse, und in der geisteswissenschaftlich geprägten Kanonbildung. Dabei versprechen sich Borst/Kluge von einer „intensive[n] Auseinandersetzung mit diesen und anderen ‚verdrängten Klassikern und Klassikerinnen’“, dass Denkalternativen angeeignet werden können und die vom Mainstream der Erziehungswissenschaft geprägte „Konsens- bzw. Identitätsstiftung“ zumindest in Frage gestellt werden könne (10).

Zunächst fällt auf, dass die in ähnlichen Buchprojekten vieldiskutierte Frage nach einer legitimen Auswahl und Aufnahme bestimmter Personen in einen Klassikerband hier nur bezogen auf Scheuerl und Tenorth (und nicht noch Dollinger, Treml, Winkler u. a. [1] besprochen wird, deren Argumentationen folgend diejenigen als KlassikerInnen gelten könnten, denen „ein hervorstechendes, unüberholtes Problembewusstsein und damit eine bleibende historische Geltung zuerkannt wird“ (8), hier fokussiert auf das Spektrum des demokratischen Sozialismus. Leider beantworten die HerausgeberInnen die Frage, warum Olga Essig und Alice Rühle-Gerstel nicht aufgenommen wurden, „obwohl beide entscheidend zur Klärung pädagogischer Probleme beitrugen“ nur diffus als Symptom für die „Macht des Mainstreams ..., die sich insbesondere in der Forschung niederschlägt“ (7). Es bleibt zu vermuten, dass man keine AutorInnen bzw. Forschungsmaterial zu den beiden Frauen finden konnte.

Im Einzelnen werden sechs Männer – Alfred Adler, Otto Rühle, Kurt Löwenstein, Otto Felix Kanitz, Leonard Nelson und Fritz Helling sowie drei Frauen – Minna Specht, Anna Siemsen und Mathilde Vaerting – portraitiert. Damit ist das Geschlechterverhältnis (soweit das ein Wert an sich ist) gegenüber anderen Darstellungen zwar ausgewogener, inhaltlich ist aber anzumerken, dass im gelungenen Beitrag zu Minna Specht von Inge Hansen-Schaberg die pädagogische und politische Zusammenarbeit Spechts mit Leonard Nelson gewürdigt und erläutert wird, dagegen dem Beitrag von Ullrich Kamuf zu Leonard Nelson für eine/n unkundige/n Leser/in kaum zu entnehmen ist, dass es eine Verbindung zwischen den beiden gegeben hat, geschweige denn eine Zusammenarbeit (vgl. 117).

Die politische, nämlich sozialistische Orientierung mag diesem Personenkatalog am ehesten eine Einheit geben, ansonsten haben wir es mit Psychologen, Philosophen, Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrerinnen und Lehrern zu tun. Vier der Porträtierten (Rühle, Löwenstein, Kanitz, Siemsen) sind bereits 1989 in einer Sammlung der „Klassiker der sozialistischen Erziehung“ vorgestellt worden [2]. Die Artikel schwanken in Länge und Qualität, auch der Aufbau ist verschieden. Positiv stechen die Artikel von Inge Hansen-Schaberg und Eva Borst hervor. Negativ fällt der Artikel von Eierdanz auf, der sich in einer hagiografischen und wenig distanzierten Nacherzählung des Lebens von Fritz Helling ergeht.

Nicht überraschend ist fast allen Beiträgen gemein die Formel vom verdrängten Pädagogen bzw. von der verdrängten Pädagogin, was unisono auf die politische bzw. weltanschauliche Einstellung der jeweiligen Person und das verdrängende, mehr konservative Mehrheitssystem der Universitätslandschaft rückbezogen wird. Einzig der Artikel zu Leonard Nelson verwendet diese Argumentation nicht, was aber auch fehlginge, denn bei Nelson handelt es sich nicht wirklich um eine verdrängte Person (allerdings gilt dies auch für Minna Specht oder Mathilde Vaerting, über die in den letzten Jahren immer wieder publiziert wurde). Vor allem als Philosoph wird Nelsons verschiedentlich durch Tagungen und Publikationen, nicht zuletzt durch die Arbeit der Philosophisch-Politischen Akademie (PPA), gedacht (vgl. 122-125). Im Vergleich zu den anderen Aufsätzen fällt hier dann eine breitere Diskussion zur Aktualität von Nelson auf. Es ist daher fraglich, ob für alle dargestellten Personen von verdrängten Pädagoginnen und Pädagogen gesprochen werden kann, manche scheinen eher Klassiker und Klassikerinnen für die Pädagogik als solche zu sein [3].

Didaktisch eher kontraproduktiv erscheint mir die unterschiedliche Strukturierung der Beiträge, insbesondere da der Band grundlegenden und einführenden Charakter beansprucht (so zumindest die Reihenbeschreibung). Formal sei außerdem ein fehlendes Personenregister beanstandet sowie ein inhaltlich resümierender Artikel für die nächsten Bände empfohlen, der die doch unverbunden nebeneinander stehenden Beiträge in einen Zusammenhang bringt. Denn die Zusammenschau der derart dargestellten demokratischen Reformpädagogik ist allemal so interessant, dass ihr das gebührt.

(II) Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren

Der Sammelband einer Tagung vom Mai 2011 in Bern verfolgt eine zentrale Frage, die im Beitrag von Oelkers in aller Schlichtheit zusammengefasst wird: „Wie entsteht in der Pädagogik historische Größe?“ (121). Tatsächlich aber soll das Ganze fokussiert sein auf pädagogische Erlöserfiguren; dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Pädagogik eine „‚gekoppelte’, historische-strukturelle Sakralität“ (8) aufweist, die sich in einer Art inszenierter Heiligsprechung herausragender Pädagogen und Pädagoginnen und/oder mit ihnen verbundener Erlösungsversprechen nachverfolgen lässt. In 15 aufschlussreichen Aufsätzen (neben Vor- und Grußwort) mit interessanten Zugängen stellen sich die AutorInnen der Aufgabe und sehen sich eine breite Auswahl „großer Männer und ... großer Frauen“ an, die zumindest in der einen oder anderen Person (Lorenz Kellner, Girolamo Savonarola) von typischen Klassikerkompendien abweicht.

Der Topos der Erlöserfigur wird nicht stringent beibehalten, sondern um den Klassikerbegriff oder die Rede von großen Pädagoginnen und Pädagogen ergänzt. Daneben widmen sich einzelne Beiträge nur indirekt den Personen und ihren Erlösereigenschaften, dafür mehr deren Artefakten und der darin liegenden Attraktivität, beispielsweise untersuchen Roland Reichenbach und Daniel Dietschi in zugespitzten Worten Carl Rogers’ Metaphorik und Malte Brinkmann Montessoris Pädagogik auf „Praxis, Struktur und Wirkung“, wobei er „Übung und Macht als zentrale Praxen und Strategien“ (200) herausarbeitet. Pia Schmid konzentriert sich auf den Inszenierungsbegriff, grenzt sich von Erlösung als Deutungshorizont ab und fokussiert auch nicht die Person August Hermann Francke, sondern untersucht die in Jubiläen „[i]nszenierte Genealogie“ der Franckeschen Stiftungen. Der Rückgriff auf eine Gründerfigur ist dort sinnvoll, aber nicht so ausschlaggebend wie die – durchaus beschönigte – zusammenhängende Erzählung der (Erfolgs-)Geschichte einer Institution (vgl. 279, 292f). Anhand zweier Vorwörter in Ratgebern und unter Rückgriff auf Webers Charismabegriff rekonstruiert Christiane Thompson sprachlich verfasste Strategien der „Autorisierungsrhetorik pädagogischer Ratgeber", womit „nicht das ‚Qualitätsproblem’ von Ratgeberwissen [fokussiert wird], sondern dessen Logiken und Strategien, die verhandelten Gegenstände mit einer pädagogischen Valenz auszustatten“ (33). Autorisierung stellt auch den zentralen Begriff in Alfred Schäfers Aufsatz zu Berthold Ottos „Versuch der Konstruktion eines zugleich empirischen und transzendenten Grundes“ (178) dar, auf dem pädagogisches Handeln eben autorisiert und legitimiert werden kann.

Personen und ihre Erlöserqualitäten werden dann in den weiteren Beiträgen besprochen: Johannes Bellmann rekonstruiert die „Umwertung eines Klassikers“ am Beispiel von John Dewey. Karin Priem zeichnet Eduard Sprangers Selbstentwurf als wissenschaftliche Persona, die sich an die Figur des Heiligen oder Märtyrers anlehnt (92f), nach. Patrick Bühler widmet sich mit Lorenz Kellner, einem „der seltenen, zu seiner Zeit berühmten katholischen Schulmänner“ (226), dessen Bekanntheitsgrad wohl für die heutige Zeit als eingeschränkt zu bezeichnen ist. Bühler konzentriert sich auf den Widerspruch der stetigen Hervorhebung von Kellners katholischer Konfession und der zwar frommen, aber hauptsächlich unspezifischen Rhetorik in seinem Werk (vgl. 237). In einem unterhaltsamen Beitrag verfolgt Markus Rieger-Ladich (73-90) die These, dass Luhmann bzw. sein „Theoriebesteck“ als „Kältebad und Schocktherapie“ (73, 75) für die Disziplin genutzt worden sind. Als Erlöserfigur laute sein Heilsversprechen, „endlich der mangelnden, kognitiven Disziplin Abhilfe zu schaffen und die bedauerlichen theoretischen Insuffizienzen ... [sowie] endlich die notorisch schlechte Reputation der Disziplin [zu] überwinden“ (75).

Der detailreiche Beitrag von Oelkers versucht herauszufinden, wie Gustav Wyneken, Paul Geheeb und Hermann Lietz zu „Großen Pädagogen“ werden konnten, obwohl faktisch alles gegen eine solche Zuschreibung spricht, was der Autor detailliert zusammenträgt. Die Geschichte, wie Oelkers sie aus den Quellen rekonstruiert, zeigt eine schwarze Pädagogik und weist nach, dass die Stilisierung zu Helden der Pädagogik (im Dolchschen Sinne [4]) zuallererst aus finanziellen Überlebensmotiven geschah: „Der ‚geniale Pädagoge’ existierte nur als Zuschreibung und Außendarstellung einer Privatschule, die auf Kundenwerbung achten musste“ (142).

Weitere untersuchte Personen sind Peter Petersen, dessen Mythos und Pathos Beate Klepper nachspürt, und Ellen Key, deren Inszenierung als Geschmähte wie als Bewunderte von Claudia Crotti besprochen wird; Nicolai Grundtvigs prophetische Botschaft und Rhetorik wird von Alexander Maier untersucht und Johann Heinrich Pestalozzi gilt Daniel Tröhler als Initiator der „öffentlichen Inszenierung der pädagogischen Autobiografie“ (261), die über Entbehrung, Leiden und Kampf – also Martyrium – der eigenen pädagogischen Methode Anerkennung und Legitimation verleiht. Zuletzt tauscht Fritz Osterwalder die Perspektive und deutet Girolamo Savonarolas und Huldrych Zwinglis pädagogische Inszenierung des Prophetenamtes.

Der von Patrick Bühler, Thomas Bühler und Fritz Osterwalder herausgegebene Sammelband ist insgesamt empfehlenswert – zu bemängeln sind allenfalls eine unnötige Häufung bzw. mangelnde Tilgung von Tippfehlern und die fehlenden Bildunterschriften und Quellenangaben bei Abbildungen –, seine Lektüre ist erhellend insbesondere für die Debatte rund um Klassikerinnen und Klassikern. Er geht über die meist üblichen biodoxografischen Referate und Werkparaphrasen (plus der meist als innovativ angebotenen, modernen Werkinterpretation) weit hinaus und bleibt anregend. Trotzdem bleibt bei der Rezensentin die Frage offen, ob hier eine neue Theorie zur Inszenierung von pädagogischen Klassikerinnen und Klassikern geschaffen wird oder doch nur eine neue Auslegung?

Im Vergleich haben wir es einerseits mit einem bekennenden, teils hagiografischen Werk zu tun, und andererseits mit einem Werk, das versucht genau diesem Konstruktionsprozess auf den Grund zu gehen – zusammen gelesen sehr erhellend für die Debatte um das Personal in Pädagogik und Erziehungswissenschaft.

[1] Scheuerl, H.: Klassiker der Pädagogik. 2 Bde. München: Beck 1979; Tenorth, H.-E.: Klassiker der Pädagogik. 2 Bde. München: Beck 2010; Treml, A.: Klassiker – Die Evolution einflussreicher Semantik. 2 Bde. Sankt Augustin: Academia Verlag 1997;
Dollinger, B.: Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft. 3. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag 2012; Winkler, M.: Ein geradezu klassischer Fall. Zur Traditionsstiftung in der Pädagogik durch Klassiker. In: Horn, K.-P. / Wigger, L. (Hrsg.): Systematiken und Klassifikationen in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1994.
[2] Bundesvorstand der Sozialistischen Jugend Deutschlands – die Falken (Hrsg.): Klassiker der sozialistischen Erziehung: Kurt Löwenstein, Otto Felix Kanitz, Edwin Hoernle, Otto Rühle, Anna Siemsen. Bonn: Bundesvorstand der Sozialistischen Jugend Deutschlands 1989.
[3] Vgl. die Argumentation bei Tenorth, H.-E.: Klassiker der Pädagogik. München: Beck 2010, S. 13f.
[4] Vgl. Dolch, J.: Gegenstände und Formen der Pädagogischen Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. (20) 1931, S. 275-300.
Anne Hild (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anne Hild: Rezension von: Kluge, Sven / Borst, Eva (Hg.): Verdrängte Klassiker und Klassikerinnen der Pädagogik, Pädagogik und Politik, Bd. 6. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383401258.html