EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)

Menno Baumann / Carmen Schmitz / Andreas Zieger (Hrsg.)
RehaPädagogik, RehaMedizin, Mensch
Einführung in den interdisziplinären Dialog humanwissenschaftlicher Theorie- und Praxisfelder
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010
(310 S.; ISBN 978-3-8340-0721-6; 28,00 EUR)
RehaPädagogik, RehaMedizin, Mensch Der interdisziplinäre Diskurs zwischen Medizin und Pädagogik erfährt neuerdings eine gewisse Renaissance, beispielsweise wenn auf neurophysiologische Grundlagen und Lernprozesse oder Stress erzeugende Situationen im Schulsystem hingewiesen wird. Umgekehrt gibt es pädagogische Beiträge zu Gesundheitswissenschaften im Allgemeinen und pädiatrischen, psychiatrischen und anderen medizinischen Arbeitsfeldern im Besonderen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Felder, in denen Pädagogik und Medizin (wenn auch von unterschiedlicher Seite) involviert sind: Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen können, je nach Krisensituation, durchaus als Patienten einer Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Klienten der Jugendhilfe auftreten. Darüber hinaus sind sie oft Schüler und gegebenenfalls Teilnehmer in Jugendgruppen. Im Bereich der Behindertenhilfe haben wir, wenn es um Förderschulen, Werkstätten oder Wohn- bzw. Freizeitangebote geht, maßgebliche pädagogische Ansätze, während mitunter in Rehabilitationskliniken, Arztpraxen, aber auch in bestimmten Pflege- und Betreuungssituationen (insbesondere auch schwerst oder mehrfach behinderter Menschen) medizinische und darüber hinaus auch pflegerische Momente wichtig sind. Ähnliche Überschneidungen gibt es in sozialpsychiatrischen Feldern, der Drogenhilfe / Drogenarbeit, der Gerontologie und Geriatrie – um nur einige Bereiche zu nennen.

So zahlreiche solche Überschneidungen sind und so wichtig das Wissen um die jeweils andere Sichtweise von Pädagogik und Medizin ist: häufig genug findet sich sowohl in der Praxis als auch im theoretischen Diskurs eine gewisse „Sprachlosigkeit“, die oft genug mit Missverständnissen gepaart ist. Dieser Sprachlosigkeit will das vorliegende Buch begegnen, indem sowohl auf theoretischer, insbesondere aber auch praktischer Ebene unterschiedliche Ansätze der jeweiligen pädagogischen bzw. medizinischen Disziplinen vorgestellt und in Bezug zueinander gebracht werden. Vorab sei noch bemerkt, dass das breite Feld der Pädagogik eine gewisse Einschränkung erfährt, indem vor allem auf die Rehabilitationspädagogik (im weitesten Sinne aber auch die Förder- und Heilpädagogik) eingegangen wird. Ähnlich wird auf der „medizinischen Seite“ vorgegangen, indem der Schwerpunkt im Wesentlichen auf die Rehabilitationsmedizin gelegt wird (wobei es hier aber auch unter anderem sozialpsychiatrische, neurologische, kinder- und jugendpsychiatrische oder neuropsychologische Rehabilitationsansätze geht).

Die Herausgebern verbindet neben gemeinsamer lehrender und praxisorientierter Arbeit an der Carl-v.-Ossietzky-Universität Oldenburg (Institut für Sonder- und
Rehabilitationspädagogik) vor allem ihr Streben, nachbarschaftliche humanwissenschaftliche Disziplinen miteinander zu verbinden. Dabei sind sie typische Vertreter unterschiedlicher Disziplinen: Menno Baumann gehört als Förderschullehrer ebenso wie Carmen Schmitz als Diplompädagogin der pädagogischen Seite, Andreas Zieger als Neurochirurg und Rehabilitationsmediziner eher der medizinischen Seite an. Sie verstehen ihre Disziplinen aber zunächst als eine humanwissenschaftliche und konstatieren, dass die jeweils andere Disziplin dem ebenfalls zuzuordnen ist. Erklärtes Ziel des zu rezensierenden Buches ist es, unterschiedliche und gemeinsame Ansätze jeweils rehabilitationspädagogischer oder rehabilitationsmedizinischer Fragestellungen, Forschungsvorhaben und praktischer Ansätze auszuloten, dabei durchaus den Eigenständigkeiten der unterschiedlichen Disziplinen Rechnung zu tragen, andererseits „über den Tellerrand zu blicken“, voneinander zu lernen und neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten zu entdecken, die es ohne einen solchen Diskurs nicht gäbe.

Auf die Notwendigkeit eines so verstandenen neuen, rehabilitationswissenschaftlichen Paradigmas in Theorie und Praxis gehen die Herausgeber (der Einfachheit halber, Frau Schmitz möge es mir verzeihen, verwende ich die männliche Form) in einer ausführlichen Einleitung dezidiert ein. Zunächst wird deutlich, dass – historisch gesehen – sowohl Mediziner, die sich pädagogisch betätigt haben, als auch Pädagogen, die über die Heilpädagogik hinaus Medizin beeinflusst haben (Pestalozzi), zu finden sind. Dass sowohl ein rein medizinisches wie ein rein pädagogisches Denken zwangsläufig auf Grenzen stoßen, wenn es um die Rehabilitation beispielsweise neurologisch erkrankter Menschen oder Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen oder Herausforderungen geht, wird ebenfalls verdeutlicht. Und schließlich wird bereits angedeutet, dass sowohl der Resilienzgedanke (also die Frage nach gesundheitsfördernden Faktoren) als auch das Konzept der Salutogenese (der gesundheitsfördernden Bedingungen) in beiden Denk- und Handlungssystemen verankert und nutzbar sind.

Der Sammelband ist in fünf Großkapitel eingeteilt, in denen jeweils vier oder fünf Beiträge verschiedener Autoren (sowohl aus der Praxis als auch aus der theoretischen Forschung) zu finden sind. Dabei liegt es dem Autorenteam daran, die „fließenden und verschwimmenden Grenzen“ der jeweils pädagogischen und medizinischen Sichtweise zu verdeutlichen. So befassen sich die Beiträge des ersten Teils (Praxis) mit „fließenden und verschwimmenden Grenzen von Medizin und Sonderpädagogik“, während der zweite Teil (Fließgrenze Forschungsgrundlagen) vor allem auf theoretische Reflexion zum Verhältnis von Medizin und Sonderpädagogik eingeht. Im dritten Teil des vorliegenden Buches (Fließgrenze Psychiatrie) wird unter dem Titel „Wenn Menschen aus der Rolle fallen […]“ auf aktuelle Beiträge der Sozialpsychiatrie eingegangen, während sich das vierte Kapitel (Fließgrenze Hirnforschung) unter der Überschrift „Pädagogik als Neuverdrahtung im Gehirn?“ mit neueren Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Forschung befasst. Ein fünftes Kapitel (Wenn Menschen krank werden – und bleiben […]) befasst sich schließlich mit akuten Erkrankungen und den Überschneidungen von Pädagogik und Medizin in diesem Bereich. Eingeleitet wird jedes dieser fünf Kapitel von einem der drei Herausgeber, wobei knapp und übersichtlich die folgenden Beiträge in Bezug zueinander gesetzt werden.

Schauen wir uns die fünf Kapitel etwas genauer an. Im ersten Kapitel geht es vor allem um Berührungen von Medizin und Sonderpädagogik in der Praxis. In einem ersten Beitrag berichtet der promovierte Pädagoge Karsten Rensinghoff (Institut für Praxisforschung, Beratung und Training bei Hirnschädigung) eindrucksvoll über seine eigenen persönlichen Erfahrungen nach einer Hirnverletzung im Kindesalter und geht insbesondere auf schwierige und belastende Erlebnisse in Schule, Universität und Referendariat ein. Seine persönlichen und subjektiven Eindrücke mögen nicht generell übertragbar sein, sind aber nachdenklich stimmende Eindrücke eines Menschen, der sich trotz und mit einer Hirnverletzung im Kindesalter den Herausforderungen von gesellschaftlicher Teilhabe, persönlicher und beruflicher Entwicklung gestellt hat.

Die Gesundheitswissenschaftlerin und Diplompädagogin Tina Passmann geht in einem Übersichtsaufsatz auf die Grundlagen der Pädagogik in der „Schule für Kranke“ (bzw. „Schule im Krankenhaus“) ein. Dem interessierten Leser, dem diese pädagogische Welt vielleicht bisher fremd war, wird sehr eindrucksvoll, auch an konkreten Beispielen, die wichtige pädagogische Aufgabe in diesem Bereich verdeutlicht.

Auf die interdisziplinäre Kooperation und Kommunikation zwischen Medizinern und Berufsbetreuern geht im nächsten Beitrag die Sozialarbeiterin und Berufsbetreuerin Alice Harms-Collmann ein. Auch hier wird dem interessierten, vielleicht aber noch nicht ausreichend informierten Leser zunächst eine Einführung gegeben, bevor anhand einiger Fallbeispiele auf gelungene sowie misslungene Kooperation der jeweiligen Akteure eingegangen wird. So wird unter anderem beispielsweise deutlich, dass Ärzte mitunter nicht wissen (oder „vergessen“), dass gesetzliche Betreuer in gleicher Weise aufgeklärt werden müssen wie Patienten – dass andererseits auch Menschen, denen ein Betreuer zur Seite gestellt ist, allein über beispielsweise medizinische Eingriffe entscheiden, wenn sie hierzu in der Lage sind.

Ein Beitrag über Kooperation der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe in einer Clearing-Stelle, vorgelegt von der Diplompsychologin Ulrike Bagge, beendet den ersten Teil des vorliegenden Buches. Diese vier Beiträge veranschaulichen auf sehr unterschiedlichen Ebenen, dass in der realen Praxis Schüler, Menschen mit Behinderungen, Jugendliche immer wieder sowohl auf pädagogische Anleitung und Führung als auch auf medizinische Hilfe bzw. Behandlung angewiesen sind und dass es an den Schnittstellen zwischen Medizin und Pädagogik oft genug zu Reibungsverlusten, Missverständnissen und Barrieren kommt – dass sich andererseits – der Beitrag von Harms-Collmann verdeutlicht dies – eine gelungene Interaktion der Akteure sicher als sehr fruchtbar erweisen kann.

Ging es im ersten Teil des Buches um erste praktische Eindrücke, befasst sich das zweite Kapitel mit theoretischen Reflexionen zum Verhältnis von Medizin und Sonderpädagogik, da sich – wie Andreas Zieger in der Einleitung dieses Teils verdeutlicht – auch in der theoretischen Ebene Fließgrenzen feststellen lassen.

Hierzu ist allerdings zunächst eine fachübergreifende Übersicht und Orientierung (S. 77) notwendig. Und so wendet sich der Kinderarzt und Psychotherapeut Hans von Lüpke in einem ersten Beitrag der Basis von „Beziehungsmedizin und Naturwissenschaften“ zu. Er legt dar, dass einerseits der „Sieg der harten Fakten“, also der Einzug der Naturwissenschaften, der Medizin in den letzten 200 Jahren zu gewaltigen Erfolgen verhalf, zeigt andererseits plausibel auf, dass die „harten Fakten schmelzen“ und gerade auch Erkenntnisse der neueren Hirnforschung zeigen, dass Beziehungen und soziale Faktoren mit neuronalen Vorgängen interagieren.

Dem folgenden Beitrag von Carmen Schmitz kommt insofern eine Schlüsselstellung zu, als er sich dezidiert zum einen mit der Resilienzforschung, zum anderen mit dem Konzept der Salutogenese befasst, beides Konzepte zur Erhaltung und Verbesserung von Gesundheit. Letztlich finden sich diese beiden Konzepte wie ein roter Faden in vielen Beiträgen dieses Buches wieder und es wird deutlich, dass gesundheitsfördernde Faktoren wie das Kohärenzgefühl, die Sinnhaftigkeit, der Umgang mit den eigenen Kräften und die Widerstandskraft (Resilienz) gegenüber belastenden Faktoren sowohl in der Pädagogik als auch in der sich rehabilitativ verstehenden Medizin wichtige Aspekte der jeweiligen Disziplin darstellen – zugleich aber über das eigene Fachgebiet hinausweisen.

In seinem Beitrag „Kooperation als Leitprinzip – zum Verhältnis von Pflege, Therapie und Pädagogik in der Betreuung Schwerstbehinderter“ werden von Wolfgang Praschak (Professor für Erziehungswissenschaft bei Beeinträchtigung der körperlichen motorischen Entwicklung, Universität Hamburg) verschiedene Kombinationsstufen im Kreislauf der primären Verständigung vorgestellt und es wird deutlich, dass auch und gerade in alltäglichen Aktivitäten pädagogische und bildende Prozesse zu sehen sind.

Demgegenüber geht die Logopädin Wibke Scharff-Rethfeldt vor allem auf die Kind-Umwelt-Anamnese ein. Sehr gelungen ist insbesondere die Darstellung umweltbezogener Faktoren mit Hilfe eines Genogramms (wie man es ähnlich auch in der systemischen Familientherapie findet). Ihr Ansatz ist durchaus verwandt, wenn auch nicht identisch mit der „Personen-Umfeld-Analyse“ (und ihrem Einsatz in der Rehabilitation), dem sich Gisela C. Schultze, Professorin für Allgemeine Sonder- und Rehabilitationspädagogik, Oldenburg, widmet, wobei sie insbesondere auf die Feldtheorie nach Kurt Lewin sowie auf die Anfänge eines Forschungsprojektes eingeht. Ein Interview mit dem – wie Zieger es formuliert – „Seniorautor dieses Buches“ (81), Wolfgang Jansen, „Förderer eines ‚humansynthetisch’ erweiterten behindertenpädagogischen Verständnisses vom Menschsein“ (ebd.) und emeritierter Professor für Sonderpädagogik, Universität Bremen, in dem die Interdisziplinarität der Frage, was den Menschen bewegt und vor allem die Bedeutung menschlicher Emotionen hervorgehoben werden, beenden den zweiten Teil des Buches.

Einerseits sind die jeweils vorgestellten theoretischen Ansätze sehr heterogen und weit gestreut und es leuchtet dem Leser nicht unmittelbar ein, welchen Bezug sie zueinander haben. Andererseits entwickelt man beim gründlichen Lesen durchaus ein Verständnis dafür, dass alle hier angesprochenen Themen sowohl aus pädagogischer als auch medizinischer, somit eher geistes- oder eher naturwissenschaftlicher Sicht, gesehen, analysiert und durchdacht werden können (und sollten) und dass sich im jeweiligen Wahrnehmen des anderen Standpunkts eine erste Ahnung eines die „two cultures“ überschreitenden Verständnisses humanwissenschaftlicher Fragestellungen ergibt.

Dies ist auch für die Psychiatrie nicht folgenlos. Und so befasst sich das dritte Kapitel mit Situationen, in denen „Menschen aus der Rolle fallen“. Ein erster Beitrag von Roland Pfeifer (Professor für Psychiatrie und Psychotherapie in der Heilpädagogik, Universität Köln) geht auf das Verhältnis von Erziehung und Therapie im Umgang mit „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen ein. Erfreulicherweise widmet er sich auch der nicht einfachen und mitunter kontrovers diskutierten Unterscheidung von Erziehung und Therapie, die auch nach Erfahrungen des Rezensenten für die unterschiedlichen Berufsgruppen, nicht zuletzt aber auch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, von großer Bedeutung ist. Auf seine interessanten Ausführungen kann im Rahmen einer Rezension nicht detailliert eingegangen werden. Dass insbesondere Förder- und Heilpädagogen von seinen Ausführungen sehr konkret profitieren können, sei immerhin angemerkt.

Dass Kinderärzte häufig Ansprechpartner sorgender Eltern in Erziehungsfragen sind, wird von Holger Koppe, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie, analysiert. Beispielsweise bei Schulproblemen, Depressionen, Essstörungen, ADHS – aber auch bei vielen anderen Schwierigkeiten sind die Grenzen zwischen „Erziehungsproblemen“, „Verhaltensauffälligkeiten“ oder „Krisen im Sinne von kinder- und jugendpsychiatrisch relevanten Störungen“ nicht immer eindeutig bzw. – um es positiv zu formulieren – fließend. Neben der Frage der pädagogisch-medizinischen Interdisziplinarität wird in diesem Beitrag aber insbesondere auch auf die Überschneidungen von Sozialpädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie eingegangen.

Menno Baumann, einer der Herausgeber, skizziert in einem nächsten Beitrag die Neuropsychologie der Pädagogik bei Verhaltensstörungen und eine mögliche interdisziplinäre Forschung. An seinem Beitrag ist vor allem beachtenswert, dass ein Dialog zwischen Pädagogik und Neurowissenschaften (insbesondere neurobiologisch orientierte Hirnforschung) zwar möglich ist, aber jenseits „populistischen Marktgeschreis“ (186) neue und zukunftsfähige Forschungsfragen suchen sollte. Seiner fundierten Kritik an mitunter trivialen Veröffentlichungen der letzten Jahre, aber auch seinen Hinweisen auf durchaus fruchtbare und Erkenntnis versprechende Ansätze – sowohl Pädagogik als auch Hirnforschung können voneinander lernen – ist durchaus beizupflichten.

Schließlich geht in einem letzten Beitrag dieses Kapitels der Psychologe und Psychotherapeut Rüdiger Bangen auf alltagsbezogene Rehabilitation für psychisch kranke erwachsene Menschen ein, indem er nach einem kurzen historischen Abriss „von der Anstaltspsychiatrie zur alltagsbezogenen Rehabilitation“ dafür plädiert, rechtliche und institutionelle Möglichkeiten auszuschöpfen – sein Beitrag ist, da sehr ins Detail gehend, nicht immer ganz einfach zu lesen, zeugt andererseits von profunder Kenntnis der Materie.

Pädagogik als „Neuverdrahtung“ im Gehirn? Unter dieser provozierenden These geht das vierte Kapitel des Buches auf Felder ein, in denen neurologisch relevante Situationen bzw. Problemlagen sowohl von pädagogischer als auch rehabilitationsmedizinischer Seite durchleuchtet werden. Nicht nur dem Zeitgeist folgend, sondern auch wegen der durchaus bemerkenswerten und praxisrelevanten neuere Erkenntnissen der Hirnforschung wird, wo dies möglich ist, auch auf eben diese neurobiologischen Ansätze Bezug genommen.

Im ersten Beitrag dieses Buchteils von Bruno Preilowski, klinischer Neuropsychologe und Professor an der Universität Tübingen, gewinnt der Leser einen guten Überblick über den aktuellen Stand neurologischer Diagnostik und Therapie bei Lese-Rechtschreibstörungen. Bemerkenswert ist, dass dieser Beitrag einerseits sehr dezidiert und sachkundig auf die neuesten Erkenntnisse in diesem Bereich eingeht, andererseits allgemeinverständlich und gut zu lesen ist, daher auch einem Leser, der sich in der Materie nicht so gut auskennt, von großem Nutzen sein kann. Dies gilt insbesondere auch für die Schlussbemerkung, die ebenso empathisch wie fachkundig auf kritisch zu sehende, oft als „alternativ“ propagierte „Therapiemöglichkeiten“ eingeht.

Nach diesem eher praxisbezogenen Übersichtsaufsatz wenden sich die Autoren Andreas Zieger und Menno Baumann im Folgebeitrag den „Lernchancen für das soziale Gehirn“ zu und erörtern, was Schulpädagogik und Neuropädagogik im klinischen Kontext voneinander lernen können. Und die Diplompädagogin und Neuropsychologin Monika Armand geht der Frage der Neuropädagogik als Wissenschaft vom Lernen und Lehren nach, wobei sie sehr praxisbezogene Betrachtungen darüber anstellt, ob der „Hirnforschung tatsächlich eine bedeutsame Rolle für die uns hier interessierende Wissenschaft vom Erziehen, Lehren und Lernen“ (254) zukommt. Einerseits, so führt sie aus, sind die neueren Erkenntnisse hirnphysiologischer und biochemischer Prozesse durchaus von Bedeutung, andererseits findet Lernen in einem ganzheitlichen Erlebenskontext (beispielsweise der Betrachtung einer Blumenwiese) statt und es gelingt ihr, plausibel darzustellen, dass Pädagogik mehr als die Initiierung neuronaler Prozesse ist und sein muss. Auf die Notwendigkeit, Körperwahrnehmung zu berücksichtigen, wenn es um individuelle Förderungsprozesse geht, weist der promovierte Förderschullehrer Steffen Völker in seinem, dieses Kapitel abschließenden Beitrag hin.

Auch im vierten Kapitel haben wir eine durchaus heterogene Sammlung unterschiedlicher Beiträge, deren Gemeinsamkeit bereits darin besteht, dass pädagogische und medizinische Aspekte bei der Erfassung neurologisch relevanter (Problem-)Situationen vorgestellt werden. Anders als in den anderen Buchteilen findet in diesem vierten Kapitel aber auch eine zusammenfassende und diese Aspekte durchleuchtende Reflexion, nämlich in dem eben zitierten Beitrag der beiden Mitherausgeber, statt.

Wenden wir uns noch dem fünften und letzten Kapitel des vorliegenden Buches zu, das sich akuten und chronischen Erkrankungen widmet. In ihrem Beitrag zur Bedeutung des „Sense of Coherence“ für Menschen nach einem Schlaganfall greift die Herausgeberin Carmen Schmitz ihre im zweiten Kapitel des Buches vorgestellten Überlegungen zur Resilienz und Salutogenese wieder auf, transferiert sie jedoch auf das konkrete Feld der Begleitung von Menschen nach einem Schlaganfall und stellt ein diesbezügliches Forschungsvorhaben vor, wobei anhand einiger sehr eindrucksvoller Beispiele exemplarisch auf die große Bedeutung des Kohärenzgefühls, also der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit von Erkrankung eingegangen wird – mitunter sind diese Faktoren für die Lebensqualität entscheidender als das Wiedererlangen bestimmter, beispielsweise motorischer Fähigkeiten.

Sven Jennissen, Professor an der Universität Landau, geht auf Kinderhospizarbeit sowie professionelle und ehrenamtliche Begleitung unter den Bedingungen des frühen Sterbens ein und informiert den Leser über den aktuellen Forschungsstand, die wichtigsten Aspekte lebensverkürzender Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sowie insbesondere über die Situation der betroffenen Familien und schlussendlich die Aufgaben und Ziele der Kinderhospizarbeit. Der Betrag bietet eine informative Übersicht über den gegenwärtigen Stand.

Und schließlich geht in einem letzten Beitrag des Buches der promovierte Psychologe Joachim Kutscher exemplarisch am Beispiel der Epilepsie auf Krankheit und ihre pädagogische Bedeutung ein. Zum einen zeigt er sich als profunder Kenner spezifischer Fragestellungen von Epilepsie betroffener Menschen, zum anderen gelingt es ihm in beeindruckender Weise, neuere neurobiologische Kenntnisse mit klinisch und lebensperspektivisch relevanten Aspekten zu verknüpfen, beispielsweise wenn er darauf eingeht, dass die vermeintliche „Eigensinnigkeit“ mancher Betroffener verständlich wird, wenn man ihr notwendiges Bemühen um Selbstbestimmung auch in Lern- und Bildungsprozessen im Zusammenhang mit veränderten und im Lernprozess Zeit erfordernden Strukturen im Bereich des Hippocampus sieht. Hier wird deutlich, wie fruchtbringend sich neurophysiologisch begründete Erkenntnis auch in einem anderen, dem pädagogischen Feld auswirken kann – nämlich dann, wenn man Verhaltens- und Erlebensweisen besser versteht und quasi mit „anderen Augen“ sieht.

Was ist nun von einem Buch zu halten, das so viele unterschiedliche Beiträge sowohl theoretischer als auch praktischer Relevanz vereinigt? Meine erste Befürchtung war, es könne sich um eine Sammlung eher additiver Beiträge handeln. Dies hat sich nicht bestätigt. Die Vielfalt der Ansätze ist zwar einerseits auf den ersten Blick verwirrend, und naturgemäß handelt es sich nicht um ein stringentes, einem einheitlichen Duktus folgenden Lehrbuch. Andererseits ist durchaus ein Duktus zu sehen – nämlich in dem Bemühen, immer wieder einerseits die unterschiedlichen Ansatzpunkte von Pädagogik und Medizin, andererseits die Überschneidungen, die Fließgrenzen und Schnittstellen deutlich werden zu lassen – und dies auf den Ebenen der Praxis, der theoretischen Grundlagen und unterschiedlichen Arbeitsfelder.

Es ist den Herausgebern gelungen, erfahrene Praktikerinnen und Praktiker ebenso wie renommierte, eher der Theorie verpflichteten Professorinnen und Professoren für dieses Vorhaben zu gewinnen. Ihrem Anspruch, in den interdisziplinären Dialog humanwissenschaftlicher Theorie und Praxisfelder einzuführen, sind Autoren wie Herausgeber gerecht geworden. Dass sich nach der Lektüre mehr Fragen als Antworten stellen, liegt in der Natur der Sache und ist als positiv zu bewerten. Das Buch kann insbesondere als Lektüre für Studierende und Berufsangehörige der Förder-, Heil- und Rehabilitationspädagogik empfohlen werden, die ja in besonderer Weise an der Schnittstelle pädagogischer und rehabilitativ-medizinischer Fragestellungen stehen. Besonders profitieren können auch Angehörige medizinischer Berufe, insbesondere Rehabilitationsmediziner, Psychiater, Angehörige von Gesundheitsberufen wie Logopäden, Ergotherapeuten usw.

Von einigen Ausnahmen abgesehen, sind die meisten Beiträge einfach zu lesen und geben auch dem nicht spezifisch informierten Leser in verständlicher Weise einen profunden Überblick. Auch wenn die Aufmachung des Deckblatts nicht unbedingt einlädt (aber über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten), weist die Einführung auf der Rückseite des Covers informativ und anschaulich auf die wesentlichen Aspekte des Buches hin, so dass dies, zusammen mit einem ersten Durchblättern, doch zur vertieften Lektüre verleitet.

Wer nicht nur an den grundlegenden theoriebezogenen Aspekten des Diskurses zwischen Pädagogik und Medizin, sondern auch an der konkreten praxisrelevanten Fragestellung, insbesondere an den Schnittpunkten dieser Disziplinen interessiert ist, wird die Beträge dieses Buches mit Gewinn lesen.
Thomas Hülshoff (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Hülshoff: Rezension von: Baumann, Menno / Schmitz, Carmen / Zieger, Andreas (Hg.): RehaPädagogik, RehaMedizin, Mensch, Einführung in den interdisziplinären Dialog humanwissenschaftlicher Theorie- und Praxisfelder. Waldmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383400721.html