Die Beiträge des vorliegenden Bandes entstanden im Zusammenhang des (Lehr-) Forschungsprojekts „Körperinszenierungen im Jugendalter – jugendliche und pädagogische Perspektiven“ (2003-2006), das in einer 7. Klasse einer städtischen Hauptschule stattfand.
Das Buch ist in drei Großkapitel gegliedert. Zunächst entwickeln Barbara Friebertshäuser und Sophia Richter vor dem Hintergrund des Habituskonzepts von Pierre Bourdieu eine theoretische Perspektive, in der sich der jugendliche Umgang mit dem Körper fassen lässt. Die Autorinnen verweisen auf die Differenz von „Körperkapital“ im Vergleich zum ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital, sind aber der Auffassung, dass der Körper sehr wohl einen Tauschwert erlangen kann. Er scheint sogar gerade für jene eine wichtige Kapitalsorte darzustellen, die über wenig andere Kapitalgüter verfügen. Der Anschluss an Bourdieu evoziert Fragen nach der Stellung des (jugendlichen) Körperkapitals als Ressource für soziales, aber weiterführend auch für ökonomisches Kapital, u.a. wenn das Körperkapital als Kompensation für mangelndes kulturelles Kapital fungiert und Alternativkarrieren angestrebt werden.
Diese Fragen greifen die folgenden Beiträge des Bandes kaum auf. Mit dem nächsten Beitrag wendet sich Sophie Richter einer Analyse (bildungs-)biografischer Zukunftsentwürfe in der Hauptschule zu. Die Untersuchung basiert auf Experten-Interviews mit ausschließlich Lehrerinnen und bildgestützten biografischen Interviews mit Schülerinnen und Schülern. Während es den Lehrerinnen hauptsächlich darum geht, dass ihre Schülerinnen und Schüler den Hauptschulabschluss schaffen (da ein Scheitern häufig mit sozialem Abstieg einhergeht), eröffnet der erfolgreiche Abschluss der Hauptschule den Schüler/inne/n nur wenig Spielraum zur Zukunftsgestaltung. Das hat zur Folge, dass diese sich gerade nicht an ihrer Bildungsbiografie sondern an einer „allerorts präsentierten Welt“ orientieren, die „individuelle Wahlfreiheit“ und „zahlreiche Möglichkeiten der Lebensgestaltung“ offen lässt (81).
Antje Langer stellt anschließend eine Analyse des körperlichen Bezugs in der Schule als Instrument pädagogischer Beziehungsarbeit vor. Dafür wurden Daten aus der teilnehmenden Beobachtung von Unterrichtssituationen und aus Interviews mit Lehrerinnen ausgewertet. Sie belegen zum einen den hohen Stellenwert von Körperkontakt im pädagogischen Bezug in der Hauptschule und zum anderen, dass Lehrerinnen offenbar nur mit Jungen (direkten) Körperkontakt herstellen, während sie ihn mit Mädchen eher indirekt (durch Blicke) gestalten. Körperkontakt wird von Antje Langer als ein pädagogisches Mittel charakterisiert, das über eine spezifische Form der Beziehungsarbeit Individualität schafft, wobei permanent Grenzziehungen im Rahmen von Professionalität, Moralität und Geschlecht zu beachten seien. Allerdings wird die Körperlichkeit von Beziehungen männlicher Lehrpersonen zu Schülerinnen und Schülern (mit erwartbar anderen Grenzverläufen) hier gar nicht thematisiert. Antje Langer kritisiert die Rolle von Körperlichkeit in der Hauptschule unter der Perspektive sozialer Ungleichheit: Indem die Lehrerinnen körperliche Nähe zuließen, die vielleicht gerade noch in der Grundschule angemessen wäre, regrediere „der“ Hauptschüler, „indem er nicht die gleiche körperliche Distanziertheit kennenlernt und erfährt wie ‚der‘ sprachlich gewandte Gymnasiast, womit ihm eine bestimmte Art des sozialen Kapitals vorenthalten wird“ (96). Dagegen ist zumindest einzuwenden, dass die Hauptschülerinnen, zu denen die Lehrerinnen ja offenbar ein körperlich distanzierteres Verhältnis pflegen, auch nicht – was ihre Aufstiegschancen betrifft – besser dran sind. Außerdem scheint es auch Lehrerinnen zu geben (beschrieben ist eine Fachlehrerin), die körperliche Nähe nicht herstellen.
Der letzte Beitrag des ersten Kapitels (von Katja Stoetzer und Renate Hermann) stützt sich auf die Auswertung fotografischer Quellen, die mit Sequenzen aus Interviews mit Lehrerinnen und Schülerinnen und Schülern kontrastiert werden. Die theoretische Fragestellung, auf die hin das fotografische Material untersucht wurde, bezieht sich auf das Distanz-Nähe-Problem, d.h. wie Pädagoginnen mit umgehen. Vermutlich aus rechtlichen Gründen wurde die für eine Einzelbildinterpretation gewählte Fotografie im Abdruck verfremdet, was den Nachvollzug der Interpretation erschwert. Die Autorinnen lehnen sich zwar an das gestufte Verfahren der ikonografisch-ikonologischen Einzelbildanalyse an, jedoch tritt die Bildhaftigkeit der Aufnahme deutlich gegenüber der Rekonstruktion der kommunikativen Situation zwischen den Abgebildeten zurück. Allerdings blieben die Kommunikation zwischen den Abgebildeten und der Fotografin (immerhin die Projektleiterin!) und auch der fiktive Dialog zwischen den Abgebildeten und den Adressaten, die diese offensichtlich im Blick hatten, ebenso unberücksichtigt wie andere fotografische Perspektiven, etwa die von Schülern und Schülerinnen, die das Material offensichtlich bot. Damit wurden wesentliche Quellendimensionen der Fotografie für die Untersuchung nicht ausgeschöpft. Von daher konnten sowohl das Plädoyer für die Fotoanalyse als auch die Schlussfolgerungen in Bezug auf das untersuchte pädagogische Problem am Schluss nicht ganz überzeugen.
Der zweite Teil des Bandes wird durch einen historischen Beitrag von Henriette Schmitz mit eher lockerem Bezug zum Thema des Bandes eingeleitet: Skizziert werden Körpervorstellungen von der Aufnahme des antiken Körper-Geist Duals durch Descartes über die des 19. Jahrhunderts, der Lebensreform und des Nationalsozialismus bis hin zu aktuellen Körperdiskursen.
Holger Adam wendet sich anschließend der Frage zu, wie eine (erwartete) männliche geschlechtliche Identität im „Akt des Sprechens“ hervorgebracht und als „eigene“ inszeniert und bestätigt wird. Dass dies trotz manch scharfsinniger Deutung im Detail nicht überzeugend gelingt, hat offensichtlich mit der Wahl der Erhebungsmethoden zu tun. Wie der Autor selbst einräumt, erwies sich das Interview insofern als problematisch, weil die Schüler permanent zum Reden animiert werden mussten. Der „Akt des Sprechens“, ein leiblicher Vorgang, bei dem sich durchaus Inszenierungen in Bezug auf Geschlecht beobachten lassen, braucht Entfaltungsspielräume. Die vorgestellten Interviewsituationen mit einem 12jährigen Schüler vermitteln jedoch den Eindruck, dass letztlich durch gezieltes Fragen und auch durch den Einsatz von Bildern als Interviewimpuls Meinungen erhoben wurden, die sich dieser in Bezug auf ein (bipolares) Geschlechterkonzept bereits gebildet hatte. Insofern waren die eingestandene Enttäuschung der Forscher/innen und das Gefühl, dass die Interviewten vielleicht „das Beste“ für sich behalten hätten (167), wahrscheinlich methodisch organisiert.
Im dritten und letzten Beitrag dieses zweiten Teils setzt sich Marion Ott, sozusagen als Beobachterin zweiten Grades, mit den inneren Vorstellungen derjenigen auseinander, die die Daten im Feld erheben. Dazu gehört nach Ihrer Ansicht grundlegend eine bestimmte Vorstellung von „Jugend“, eine „Figur“, deren historische und gesellschaftliche Konstruktionsweisen die Autorin in einem historischen Exkurs offenlegt. Anschließend unterzieht sie die im Zuge des Projekts erhobenen Materialien einer Revision im Hinblick auf dieses Vorwissen. Hier zeigt sich nun aber, dass die eigenen (körperlichen) Erfahrungen der Forschenden mit Schule ihren Blick auf das Schulgeschehen stärker prägen als etwa unterschwellig wirkende Bilder von Jugend. Zwar reflektiert Marion Ott die Bedeutung des institutionellen Rahmens der Schule, dass aber die Institution in einem langen historischen Prozess ein Repertoire professioneller Gesten, Rollen und körperlichen Verhaltensstandards und Disziplinierungstechniken hervorgebracht hat, die direkt auf den Körper zielen und in denen sich die Machtverhältnisse manifestieren, bleibt unberücksichtigt. Sie sind jedoch verbunden mit Typisierungen und Zuschreibungen, die das Verhalten und die Erwartungen der am Forschungsprozess Beteiligten steuern.
Was am Ende mit Blick auf alle hier vorgestellten ethnografischen Untersuchungen und Beiträge am wenigsten Kontur gewinnt, ist gerade das, was Thema sein sollte: Körperlichkeit – insbesondere die der Schülerinnen und Schüler in der Schule. Dabei hätte man zumindest Beschreibungen ihrer allerorts beobachtbaren körperlichen Inszenierungen erwartet, mit denen sie auf die Zumutungen der Institution, der Lehrenden und deren Auftritte reagieren und über die sie den pädagogischen Bezug mitgestalten, in denen sie aber auch ihre Individualität und geschlechtliche Identität in immer wiederkehrenden Performanzen und Ritualen ausformen und erproben. Dabei scheint das erhobene Material durchaus Zugänge zu solchen Aufführungen zu bieten, z.B. setzten sich offenbar Schüler und Schülerinnen vor allem dann in Szene, wenn sie sich gegenseitig fotografierten (217).
Die Heterogenität der Beiträge macht eine Suchbewegung in Bezug auf die theoretischen Fragestellungen und das methodische Setting erkennbar. In Hinsicht auf das komplexe Thema Körperlichkeit und pädagogischer Prozess stehen wir offenbar immer noch am Anfang. Insofern ist auch das letzte Kapitel des Bandes, in dem Sophie Richter und Antje Langer die Tore zur Forschungswerkstatt öffnen und den Mut haben, Irrwege zu beschreiben und Fragen zur Diskussion zu stellen, die im Projekt (noch) nicht beantwortet werden konnten, für all jene wertvoll, die in diesem Feld forschen. Das abschließende Plädoyer von Antje Langer und Barbara Friebertshäuser für weitere Lehrforschungsprojekte im Allgemeinen und im Besonderen zum Thema Körperlichkeit ist daher durchaus zu unterstützen.
EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)
(An)passungen
Körperlichkeit und Beziehungen in der Schule – ethnographische Studien
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010
(252 S.; ISBN 978-3-8340-0675-2; 19,80 EUR)
Ulrike Pilarczyk (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrike Pilarczyk: Rezension von: Lange, Antje / Richter, Sophia / riebertshäuser, Barbara F (Hg.): (An)passungen, Körperlichkeit und Beziehungen in der Schule – ethnographische Studien. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383400675.html
Ulrike Pilarczyk: Rezension von: Lange, Antje / Richter, Sophia / riebertshäuser, Barbara F (Hg.): (An)passungen, Körperlichkeit und Beziehungen in der Schule – ethnographische Studien. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383400675.html