Die Studie „Bildet Scham? Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von weiß-mehrheitsdeutsch [1] Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse“ von Tobias Linnemann widmet sich der Auseinandersetzung von Pädagog:innen mit der eigenen Verstrickung in Rassismus. Linnemann geht davon aus, dass „in den Prozessen, in denen eine Auseinandersetzung mit Rassismus, Weißsein, und Privilegien stattfindet, Scham, die Vermeidung, Abwehr und Verarbeitung von Scham sowie Angst vor Scham eine Rolle spielen können“ (14). Der ambivalenten Rolle von Scham in rassismuskritischen Bildungsprozessen wird mit der Analyse von biographisch-narrativen Interviews mit weiß-mehrheitsdeutsch positionierten Menschen nachgespürt, die in diversen pädagogischen Feldern arbeiten. Der Autor reflektiert die Ergebnisse seiner Studie daher auch für das Feld der politischen Bildung, in dem er sich selbst verortet.
Die Arbeit gliedert sich in Einleitung, fünf Kapitel und einen Schlussteil. Im ersten Kapitel wird der rassismustheoretische Rahmen der Studie (17) kenntnisreich ausgebreitet. Mit Peggy Piesche [2] verweist Linnemann zunächst auf die jahrhundertealte Tradition der Beobachtung und Kritik von weißer Hegemonie durch Schwarze Menschen und People of Color (18). Diese Wissensarchive sind für Linnemann die Grundlage (10) für weiße rassismuskritische Positions- und Selbstreflexionsprozesse. Die Analyse und Theoretisierung dieser Prozesse werden als Gegenstand der vorliegenden Studie formuliert. Der Autor arbeitet hierfür zunächst die deutsch- und englischsprachige wissenschaftliche Debatte zu Rassismus und Weißsein auf. Im deutschen Kontext, so resümiert Linnemann, sei Rassismus stark durch Tabuisierung geprägt (22). Ferner findet sich in dem Kapitel eine differenzierte Auseinandersetzung mit den „Uneindeutigkeiten von Weißsein“ und ein „Plädoyer für Ambivalenzen“ (57). Dabei geht es Linnemann nicht um eine essentialisierende Erforschung von weißen Menschen, sondern um die Erforschung einer Gruppe, die er durch die „Abwesenheit von persönlichen Rassismus- und Antisemitismuserfahrungen“ (59f.) definiert.
Im Anschluss daran widmet sich das zweite Kapitel der Scham. Tobias Linnemann definiert Scham mit Alfred Schäfer und Christiane Thompson als „Reaktion auf das scheiternde Verhältnis des Individuums zu seinem idealen Selbstbild“ [3] (100) und verbindet scham- und rassismustheoretische Erkenntnisse auf eine überzeugende Weise. Er arbeitet mit Grada Kilomba [4] heraus, dass „weißen Subjekten […] strukturell ein Selbstverständnis nahegelegt [wird], sich souverän zu wähnen und als Teil einer unmarkierten weißen Norm außerhalb rassistischer Verhältnisse“ (109) zu verstehen. Diese Form der Subjektivierung erschwert oder verunmöglicht Selbst- und Positionsreflexivität. Daher wird die Wichtigkeit des beobachtenden Anderen bei der Reflexion der eigenen machtvollen sozialen Position hervorgehoben, der dazu verhelfen kann „eine andere als die gesellschaftlich dominante und individuell gewohnte Perspektive auf sich zu gewinnen“ (ebd.).
Im dritten Kapitel widmet sich Linnemann der Beschreibung seiner methodischen und methodologischen Vorgehensweise. Die Studie basiert auf qualitativen Interviewdaten, die durch „themenzentrierte biographisch-narrative Interviews“ (142) erzeugt wurden. Die sechs Interviews wurden mit Personen geführt, die sich als weiß-mehrheitsdeutsch positionieren, einen akademischen Hintergrund haben und sich schon längere Zeit mit Rassismus und Weißsein beschäftigen (145). Die Interviewpartner:innen wurden durch Organisationen vermittelt, die sich politisch oder pädagogisch mit den Themen Rassismus, Weißsein oder (Post-)Kolonialismus“ (145) auseinandersetzen. Die Auswertung der Daten basiert auf dem Konzept der „Modellierung“ (150).
In Kapitel vier arbeitet Linnemann anhand von zwei detaillierten Fallrekonstruktionen „empirische Dimensionen von Scham weiß Positionierter“ (173) auf. Der Autor rekonstruiert zunächst die vorgenommenen Positionierungen, die er als Selbstentwürfe interpretiert und „im Hinblick auf den Gehalt bezüglich idealer Selbstbilder“ (175) analysiert. Diesen idealen Selbstbildern, wie „weltoffen“ (175) und „kritisch“ (235), stellt er erzählte Momente der Diskrepanz gegenüber, die sich durch „scheiternde Übereinstimmung von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung“ (196) zeigen. Die Analyse von Linnemann illustriert, dass entgegen des eigenen idealen Selbstbildes, die zwei interviewten Personen im erzählerischen Rückblick „paternalistisch“ (196), „grenzüberschreitend“ (199), „überheblich“ (204), mit „rassismusrelevanten Wahrnehmungen und Phantasien“ (241) sowie „machtvoll und kolonial“ (244) agierten. Diese dominanten und rassismusrelevanten Phantasien und Handlungsweisen wurden häufig erst durch einschneidende und schamvolle Erfahrungen wie einem Kontaktabbruch von rassismuserfahrenen Personen (200) oder in nachgelagerten theorieinspirierten Reflexionsprozessen als problematisch verstanden und lösten krisenhafte Situationen aus.
Im fünften Kapitel nimmt Linnemann den Versuch einer „Systematisierung und Retheoretisierung von Scham weiß Positionierter“ (325) vor. Er unterscheidet zwei Varianten von Scham, die er einerseits „scheiternde Übereinstimmung von idealem Selbstbild und Handeln“ (326) und andererseits „scheiternde Übereinstimmung von Selbstkonzept und Wahrnehmung durch Andere“ (336) nennt. Bei ersterer Variante geht es um Scham, die entsteht, wenn es etwa um „eigenes rassistisches oder überhebliches Handeln“ (327), „rassistische Wahrnehmung“ (329) und „Nichthandeln“ (332) in konkreten rassistischen Situationen geht. Dies wird häufig erst im Nachgang der Situation bemerkt und schamvoll reflektiert. Den empirischen Bezug findet Linnemann bspw. in Metaphern, wie „im Boden versinken“ (103) oder in Vorhaben aus Scham, „kaum noch ins Ausland zu reisen“ (287). In dieser Variante von Scham wird gegen die „moralische normative Orientierung verstoßen“ (335), wodurch „eine Übereinstimmung mit dem idealen Selbstbild scheitert“ (335). Die zweite Schamvariante ist „unabhängig von einem Bezug auf Handlungen oder Nichthandlungen“ (336). Hier geht es um die Erfahrung, dass und wie die eigene privilegierte Subjektposition und das eigene, auch rassistisch unterminierte Selbstkonzept aus einer rassismuserfahrenen Position betrachtet wird. Der damit beginnende Perspektivwechsel, „als weiß Positionierte im realen oder medial vermittelten Blick von Schwarz oder of Color Positionierten anders sichtbar“ (336) zu werden, eröffnet mit Grada Kilomba wichtige Fragen: „Who am I? How do others perceive me? And what do I represent to them?” [4].
Das sechste Kapitel der Studie dient zunächst der allgemeinen Theoretisierung von Scham, Bildung und Bildungsprozessen, ehe Linnemann in einem sehr lesenswerten Ausblick über „Scham und politische Bildung zu Rassismus und Weißsein“ (430) reflektiert. Er spricht sich für eine politische Bildung aus, die „gezielte Beschämung“ vermeiden „und unbeabsichtigtes Schamerlebnis berücksichtigen kann“ (431). Für Linnemann liegt in der Erfahrung von Scham von weiß Positionierten „das Potential von transformativen Bildungsprozessen“ (431) – ohne diese jedoch bewusst zu beschämen. Um den konstruktiven Charakter von Scham zu ermöglichen, empfiehlt Linnemann für Bildungssettings einen Rahmen, der „die Akzeptanz, Anerkennung, Reflexion und Begleitung von aktuellem und vergangenen Schamerleben möglich macht“ (433). Rassismuskritische politische Bildung dürfe sich aber nicht darauf beschränken, Räume für weiße Scham zu schaffen. Die anfängliche Beschämung müsse mit Spivak [5] dazu führen, die Komplizenschaft mit Rassismus anzuerkennen. Dadurch könnten weiße Menschen „nicht so viel Kraft darauf verwenden, sich für ihr Weißsein, rassistische Gedanken oder Handlungen zu schämen oder diese Scham abzuwehren, sondern […] die Kraft für proaktives Handeln auf[zu]wenden“ (444).
Tobias Linnemann sieht seine privilegierte Sprecherposition als Teil seiner Ausführungen und Analysen. Im Text werden persönliche Augenblicke geteilt, wie etwa eigene Zweifel bezüglich der Forschung aus seiner Positionierung heraus (60), oder eigene Erfahrungen mit Privilegien und Weißsein (99). Diese Herangehensweise zeigt die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand. Es ist ein besonderes Verdienst der Arbeit, eine größere Komplexität in die Diskussion um weiße Scham gebracht zu haben. Linnemanns Untersuchung kann zeigen, dass Scham eben nicht nur aus einem moralischen Dilemma entsteht, sondern mit dem privilegiert positionierten Subjekt selbst zu tun hat. Subjektpositionen und Selbstkonzeptionen können nur begrenzt vom Subjekt selbst reflektiert und in noch geringerem Ausmaß verändert werden. Dies führt mit Linnemann zur Notwendigkeit der Vorstellung eines „relativierten und reflexiven Handlungsvermögen[s]“ (449). Gesellschaftliche Verhältnisse können also nicht einfach verlassen werden. Die Involvierung macht uns aber auch nicht handlungsunfähig. Die Studie bietet sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis politischer Bildung wichtige Erkenntnisse.
[1] Weiß und Weißsein werden als machtvolle soziale Konstruktionen „mit realen, nicht selten gewaltvollen Realitäten“ [2] verstanden.
[2] Piesche, P. (2009). Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die kritische Weißseinsforschung? In M. M. Eggers, G. Kilomba, P. Piesche & S. Arndt (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland (S.14–17). Unrast.
[3] Schäfer, A., & Thompson, C. (2009). Scham: Eine Einführung. Schöningh.
[4] Kilomba, G. (2008). Plantation Memories. Unrast.
[5] Castro Varela, M., & Dhawan, N. (2015). Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung. transcript.
EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)
Bildet Scham?
Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von weiß-mehrheitsdeutsch Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse
Berlin: Logos Verlag 2023
(528 S.; ISBN 978-3-8325-5299-2; 47,00 EUR)
Florian Ohnmacht (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florian Ohnmacht: Rezension von: Linnemann, Tobias: Bildet Scham?, Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von '''weiß'''-mehrheitsdeutsch Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse. Berlin: Logos Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383255299.html
Florian Ohnmacht: Rezension von: Linnemann, Tobias: Bildet Scham?, Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von '''weiß'''-mehrheitsdeutsch Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse. Berlin: Logos Verlag 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383255299.html