Dass Kinderarmut auch in der hochindustrialisierten Bundesrepublik, einem der vermeintlich reichsten Länder der Welt, thematisiert wird, erscheint auf den ersten Blick verwunderlich. Und dennoch: bezogen auf das durchschnittliche Nettoeinkommen der Familien lässt sich nach dem von der UNICEF herausgegebenen „Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland“ feststellen, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Kindern in der Bundesrepublik Deutschland – nämlich jedes sechste Kind – in Armut lebt. Diese stellt für Kinder – das belegen beispielsweise die Studien von Chassé et al. [1] und Richter [4] – ein Entwicklungsrisiko dar, das sich – so zeigen Holz et al. [2] – über die gesamte Grundschulzeit erstreckt. Dabei wird in der Regel von einem relativen Armutsbegriff ausgegangen, der sich sowohl auf den materiellen Bereich (Kleidung, Ernährung, Spielzeug), als auch auf die kulturelle Teilhabe (z. B. an Freizeitkultur, Sportvereinen) bezieht und zudem häufig mit der Familienform in einem Zusammenhang steht. So zeigt die 1. World Vision Kinderstudie auf der Basis einer repräsentativen Befragung von Kindern im Alter von 8-11 Jahren, dass Kinder erwerbsloser Eltern (zu 29 %) deren Zuwendung defizitärer einschätzen als Kinder (zu 17 %), deren Eltern vollzeiterwerbstätig sind [3].
In diesem thematischen Kontext ist das Buch „Kinderarmut und krisenhafter Grundschulalltag“ als ein neuer Beitrag zu werten, der auf der Grundlage einer sozioanalytischen Fallrekonstruktion Orientierungshilfen für die grundschulpädagogische, sozialpädagogische und Soziale Arbeit geben will. Der Argumentationsleitfaden orientiert sich dabei an einer Rekonstruktion von Alltagsphänomen in der Grundschule, der Entwicklung von Konzepten und Dimensionen der Kinderarmut unter Bezugnahme auf soziologische, systemische und lebensweltliche Theoriebildungen, einer Auswertung des bisherigen Forschungsstandes, Optionen einer Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe und benennt Forschungsdesiderate aus der Perspektive der Sozialarbeitsforschung. Die bereits im Titel angekündigte Fallrekonstruktion wird in ihrer Zielsetzung und Fragestellung sowie dem Forschungsdesigns und methodischen Ansatz dargestellt und in ihren Ergebnissen analysiert, um daraus praxisorientierte Handlungsempfehlungen ableiten zu können.
Die Fallstudie steht in dem Anliegen, „eine Theorie >vernetzten Denkens< zwischen Grund- und Förderschule im Primarbereich und Sozialer Arbeit / Sozialpädagogik zu generieren“ (90) und damit die vom Autor rekonstruierte Lücke des Fehlens eines sozialökologischen Zugriffs auf das Armutsphänomen sowohl in Forschung und Praxis zu schließen. In dem Verständnis einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik richtet sich der Fokus dabei auf die Ermöglichung subjektiver Entwicklungsprozesse durch Abwehr „sozialer und kultureller Bedrängungen“ sowie der Unterstützung „affektiv fördernder Bedingungen“ (109). Das methodische Vorgehen ist die hermeneutische Analyse kindlicher Lebenspraxis auf der Basis leitfadengestützter offener Experteninterviews mit Grundschullehrkräften sowie sekundärquellenbasierten Aussagen von Kindern (Fachzeitschriften, Internet, biographische Interviews). Die Fallrekonstruktion erfolgt nach den Prinzipien der Objektiven Hermeneutik durch eine aus fünf Sozialpädagogen bestehende Auswertungsgruppe. Als Handlungsempfehlungen herausgearbeitet werden u. a. die Verwendung eines gemeinsamen sozialökologischen Erziehungsbegriffes, eine schülerzentrierte Haltung gegen eine Armutsstigmatisierung, ein kritischer Umgang mit der „Normalitätsfolie“ und die Vernetzung von Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe. Damit rücken die Grundschulpädagogik und die Soziale Arbeit / Sozialpädagogik enger zusammen, eine Absichtserklärung, die durchaus logisch entwickelt, aber auch hinsichtlich notwendiger Grenzziehungen diskutiert wird.
Mit diesem Zugriff öffnet sich ein interessanter, in der Literatur in dieser Nachhaltigkeit bisher kaum skizzierter Blickwinkel, der deutlich macht, dass die Grundschule allein, d. h. ohne unterstützende Netzwerkarbeit, nicht in der Lage sein wird, die aus der Kinderarmut resultierenden schulischen Probleme zu lösen. Den Fokus deutlich auf diese interdisziplinäre Perspektive zu richten, ist das uneingeschränkte Verdienst des Autors. Zugleich aber bleiben – aufgrund des eher appellativen Charakters der Schrift – Fragen der grundschulpädagogischen Umsetzung sowie der Vernetzung mit bildungs-, erziehungs- und sozialisationstheoretischen Ansätze und Schulentwicklungskonzepten offen. Unter methodischen Aspekten wäre für die Gewichtung der getroffenen Aussagen auch eine in qualitativer und quantitativer Hinsicht konkretere Betrachtung der Stichprobe bedeutsam, um die sequenzanalytischen Aussagen kontextbezogen interpretieren zu können.
Welchem Adressatenkreis ist das Buch „Kinderarmut und krisenhafter Grundschulalltag“ zu empfehlen? Zunächst einmal natürlich all jenen, die sich in Forschungsabsicht mit der Thematik auseinandersetzen, also auch Studierenden und Hochschullehrenden – für sie bietet die von Sandro Thomas Bliemetsrieder aufgefächerte Perspektive neue, die bisherigen Forschungsergebnisse in aktueller Weise ergänzende Aspekte. Allerdings ist es weniger als Einstiegsliteratur geeignet, da sowohl inhaltliche als auch forschungsmethodische Kenntnisse vorausgesetzt sind. Grundschullehrkräften ist das Buch zu empfehlen, wenn sie bereit sind, ihr Professionswissen und -handeln um pädagogisch-bezugswissenschaftliche Zugänge zu erweitern und sie Interesse an der Arbeit mit außerschulischen pädagogischen Einrichtungen haben. Dann empfiehlt sich die Publikation in jedem Fall als eine auch die Praktiker bereichernde Lektüre.
[1] Chassé, K.-A./Zander, M./Rasch, K.: Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen. Opladen: Leske & Budrich 2003.
[2] Holz, G./Richter, A./Wüstendörfer, W./Giering, D.: Zukunftschancen für Kinder. Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Endbericht der 3. AWO-ISS-Studie im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. Frankfurt a.M 2005.
[3] Hurrelmann, K./Andresen, S.: Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2007.
[4] Richter, A.: Wie erleben und bewältigen Kinder Armut? Eine qualitative Studie über die Belastungen aus Unterversorgungslagen und ihre Bewältigung aus subjektiver Sicht von Grundschulkindern einer ländlichen Region. Aachen: Shaker 2000.
EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)
Kinderarmut und krisenhafter Grundschulalltag
Sozioanalytische Fallrekonstruktionen als Orientierungshilfe für die Grundschulpädagogik und Soziale Arbeit / Sozialpädagogik
MĂĽnchen: Herbert Utz 2007
(298 S.; ISBN 978-3-8316-0714-3; 48,00 EUR)
Renate Hinz (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Renate Hinz: Rezension von: Bliemetsrieder, Sandro Thomas: Kinderarmut und krisenhafter Grundschulalltag, Sozioanalytische Fallrekonstruktionen als Orientierungshilfe fĂĽr die Grundschulpädagogik und Soziale Arbeit / Sozialpädagogik. MĂĽnchen: Herbert Utz 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383160714.html
Renate Hinz: Rezension von: Bliemetsrieder, Sandro Thomas: Kinderarmut und krisenhafter Grundschulalltag, Sozioanalytische Fallrekonstruktionen als Orientierungshilfe fĂĽr die Grundschulpädagogik und Soziale Arbeit / Sozialpädagogik. MĂĽnchen: Herbert Utz 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383160714.html