EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)

Georg Hans Neuweg (Hrsg.)
Lehrerbildung
Zwölf Denkfiguren im Spannungsfeld von Wissen und Können
Münster, New York: Waxmann 2022
(336 S.; ISBN 978-3-8309-4490-4; 39,90 EUR)
Lehrerbildung Die Frage, wie sich das, was erfahrene und kompetente Lehrpersonen können, zu dem verhält, was sie wissen, wird in der Lehrer*innenbildung üblicherweise als Theorie-Praxis-Problem diskutiert. In der Monographie „Lehrerbildung“ rekonstruiert Neuweg das Theorie-Praxis-Problem in der Lehrer*innenbildung aus einer lehrer*innenbildungsdidaktischen und psychologischen Perspektive als Wissen-Können-Problem. Er richtet seinen Blick auf Gelingen, kompetente Verrichtung, d. h. auf Können und Könnerschaft und insbesondere auf Unterschiede und Brüche zwischen Wissen und Können und erteilt damit der Neigung der deutschsprachigen Forschungslandschaft, das berufspraktische Können von Lehrpersonen als Anwendung des Ausbildungswissens bzw. seiner Prozeduralisierung zu konstruieren, eine Absage. Ist doch damit zugleich die Neigung verbunden, Praxis als tendenziell oder prinzipiell defizitär und kodifiziertes, forschungsbasiertes Professionswissen oder den forschenden Habitus als ebenso prinzipiell überlegen anzusetzen.

Die Lehrer*innenforschung im deutschen Sprachraum taste sich auf der Grundlage eines vieldeutigen und changierenden, bedeutsame Unterschiede z.T. einebnenden Wissensbegriffes vom Wissen her zum Können vor: Man versuche, den Prozess der Transformation von Ausbildungswissen in mentale Strukturen und den der anschließenden Transformation von Kognitionen in Performanz her zu verstehen. Damit würden nicht nur die Rolle informellerer Erfahrungslernprozesse bzw. das nichtpropositionale Erfahrungswissen der Profession, mithin das in seiner Entstehungsgeschichte und Architektur schwer fassbare implizite Wissen insgesamt unterschätzt bzw. gering geschätzt, es werde auch suggeriert, die komplizierten Beziehungen zwischen Ausbildungswissen, persönlichem Wissen und praktischem Können seien bereits dadurch restlos geklärt, dass man Können vom Wissen her denke. Relevante Unterschiede zwischen Wissen und Können würden so verwischt.

Indem Können zum bloßen äußeren Ausdruck des inneren Wissens werde, würden Brüche zwischen Wissen und Können und damit nicht nur das disruptive Potenzial des Konzepts des Könnens und des ihm impliziten Wissens, sondern zugleich auch das Interesse an Könnerschaft insgesamt entsorgt.

Indem er Könnerschaft als lehrer*innenbildungsdidaktischen Fluchtpunkt ansetzt, betreibt Neuweg eine Perspektivenumkehr. Die Fragen lauten dann: Was tun erfahrene und kompetente Könner*innen? Wie regulieren sie ihr Tun? Welches explizite Wissen wäre wie in den Prozess der Könnensgenese einzuspeisen? An welcher Stelle und in welcher Weise würde sich dies als förderliche oder vielleicht gar notwendige Bedingung der Entstehung von Könnerschaft erweisen? Damit schnürt Neuweg die wissensrekonstruktiv festgezurrt geglaubte Lehrer*innenbildungsdebatte könnensrekonstruktiv wieder auf und weist darauf hin, dass es mehr als nur eine Form der Relationierung von Wissen und Können gibt. In seiner Sicht gibt es derer zwölf. Diese unterscheiden sich zum einen in der Beantwortung von vier Grundsatzfragen der Lehrer*innenbildung und verbinden damit zum anderen in der Weise, ob/wie sie ‚Wissen‘ und/oder ‚Können‘ in den Blick nehmen. Darauf richtet Neuweg seinen Analysefokus: Wer sich zum Theorie-Praxis- bzw. Wissen-Können-Problem in der Lehrer*innenbildung äußert, bezieht nach Neuweg explizit oder implizit zu folgenden vier Grundfragen Stellung: der Frage erstens, welche Art von Wissen hinter dem Lehrer*innenhandeln steht, zweitens worin genau das Können einer Lehrperson besteht bzw. worauf es beruht, wie drittens der darauf gerichtete Lernprozess zu gestalten ist bzw. viertens welche Institutionen zu welchem Zeitpunkt welche Aufgaben im Professionalisierungsprozess übernehmen sollen. Die im Laufe der Zeit im Schrifttum zur Lehrer*innenbildung vorgeschlagenen und von Neuweg analysierten zwölf Figuren der Relationierung von Wissen und Können beantworten zwar jede dieser Fragen ganz unterschiedlich, lassen sich aber grob zu zwei Gruppen bündeln: den Integrationsmodellen einerseits und den Differenzmodellen andererseits, wobei Integrationskonzepte unter dem Leitbild einer Lehrperson, die anwenden kann, was sie weiß und begründen kann, was sie tut, durch die Vorstellung geeint ist, dass es möglich und sinnvoll sei, Theorie und Praxis, Wissen und Können zur Deckung zu bringen.

Integrationskonzepte akzeptieren das Theorie-Praxis-Problem und versuchen es dadurch zu lösen, dass Theorie vor die Praxis (Fundierungskonzept) bzw. Praxis vor die Theorie (Induktionskonzept) oder Theorie und Praxis parallelgeschaltet werden (Parallelisierungskonzept). Demgegenüber postulieren Differenzkonzepte eine kategoriale Verschiedenheit und Eigenlogik von Wissen einerseits und Können andererseits, die weder problematisch noch auflösbar ist. Könnerschaft gründet aus der Sicht solcher Konzepte nicht in erster Linie auf propositionalem oder zumindest in Propositionen überführbarem Wissen. Können und Wissen stellen zwei differente Welten dar.

Zwischen ihnen bestehen mehrfach gebrochene, unklare und durch Lehrer*innenbildung nicht kontrollierbare Austauschbeziehungen. Theoretisieren und Praktizieren bilden demnach zwei Praxen mit je eigener Dignität, ohne notwendig aufeinander verwiesen zu sein oder gar voneinander abgeleitet werden zu können.

In dem der Einführung folgenden ersten Teil des Buches stellt Neuweg sechs Konzepte, die von dem Gedanken einer Integration von Wissen und Können geprägt sind, als gleichsam an der Wiege der universitären Lehrer*innenbildung stehend vor. Die mit Technologie (1), Brille (2), Urteilskraft (3), Training (4), Induktion (5) und Parallelisierung (6) bezeichneten integrationstheoretischen Ansätze werden entlang dreier für den Lehrerberuf zentraler Könnensfelder (Unterricht planen und dabei den jeweiligen Lerngegenstand didaktisieren; Sachverhalte wohl strukturiert und verständlich erklären, Klassen führen) nachvollziehbar illustriert, detailreich und kundig diskutiert und anschließend jeweils sehr differenziert gewürdigt. Den Grundgedanken des Integrationstheorems, das dem Wissen einen zentralen Stellenwert beim Aufbau des Könnens zuweist, bringt Neuweg mit der Formel auf den Punkt: Am Ende eines gelungenen Ausbildungsprozesses tut die Lehrkraft, was sie weiß, und sie weiß, was sie tut.

Im zweiten Teil des Buches stellt Neuweg sechs Differenzkonzepte vor, denen die Annahme gemeinsam ist, dass die Beziehung zwischen Wissen und Können nicht als Ableitungsbeziehung aufzufassen ist, weil über Wirklichkeit zu reflektieren und zu theoretisieren eine grundsätzlich andere Sache sei, als sich in ihr kunstvoll bewegen zu können. Mehr noch, es wird davon ausgegangen, dass die Bedingungen, unter denen die komplexe Praxis von Lehrer*innen stattfindet, von der Theorie nicht eingeholt werden können. In Differenzkonzepten wird der Persönlichkeit und der Erfahrung ein zentraler Stellenwert beim Aufbau des Könnens zugewiesen. Wissen ist hier weder immer notwendige noch immer eine hinreichende Bedingung für Können. Analog zum ersten Teil stellt Neuweg hier die mit Persönlichkeit (7), Erfahrungen (8), Anreicherung (9), Reflexion (10), Interferenz (11) sowie Konsekution (12) bezeichneten Differenzkonzepte sehr differenziert entlang der oben genannten Könnensfelder dar und schließt diese Darstellung mit einer tabellarischen Übersicht über die zwölf vorgestellten Figuren ab.

Im letzten Teil des Buches unterbreitet Neuweg einen Vorschlag für die Zusammenführung der Denkfiguren zu einem übergreifenden Gesamtkonzept von Lehrer*innenbildung ausgehend von den Prämissen, dass sich erstens das situativ immer wieder neu zu verausgabende Können von Lehrpersonen aus mehreren Quellen speist, zweitens jede der vorgestellten zwölf Figuren Wahrheitsmomente beinhaltet und es deshalb drittens nicht darum gehe, zwischen diesen Denkfiguren zu wählen, sondern darum, sie zu orchestrieren als in den einzelnen Professionalisierungsphasen zu bewältigende Aufgaben. Ausgehend von den Grundgedanken der Konsekution von Theorie und Praxis als übergreifendem Rahmen lotet Neuweg schließlich zunächst den Sinn des Studiums als akademische und fachorientierte Bildung aus und verortet sodann die einzelnen Denkfiguren nach dem konsekutiven Muster des Lernens in der ersten Phase, in der zweiten Phase und während der ersten Jahre im Beruf sowie in der berufsbegleitenden Fortbildung.

Den Ertrag seiner Überlegungen zusammenfassend ordnet Neuweg den Phasen der Lehrer*innenbildung je besondere Kernfunktionen zu und weist hierzu jeweils die Denkfiguren aus, die aus seiner Sicht das Profil der jeweiligen Phase prägen. Nachdem er das hier vorgestellte Ordnungssystem bereits vor 20 Jahren skizziert und in der Folge in kleineren Schriften mehrfach aufgegriffen hat, legt Neuweg dieses erstmals in einer hoch elaborierten und umfassenden Darstellung vor. Entstanden ist dabei eine nachvollziehbare und durchaus streitbare Topik der Denkfiguren, mit denen der Band jedoch den selbst gesteckten Anspruch, durch Ordnen und Systematisieren im Sinne einer mentalen Landkarte Orientierung in dem unübersichtlichen Diskurs um das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zu bieten und zu einer lehrerbildungsdidaktischen Pluralisierung von Visionen beizutragen, fraglos einlöst. In der Synthese werden die zwölf Figuren zwar als umfassende, miteinander konkurrierende zum Teil konträre Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Wissen und Können vorgeführt, ohne sie jedoch gegeneinander auszuspielen.

Neuwegs „Lehrerbildung“ gibt in einer flüssig lesbaren, feinsinnigen und von vielen originellen Wendungen geprägten Sprache tiefe, hochdifferenzierte und umfassende, klar strukturierte und systematische Einblicke in das als Wissen-Können-Problem reformulierte Theorie-Praxis-Problem der Lehrer*innenbildung. Die Differenzierung in zwölf Denkfiguren ist anspruchsvoll und stellt aufgrund der zum Teil fließenden Übergänge und Kombinationen, durchgängig kritisch-differenzierendem Abwägen sowie einiger Redundanzen durchaus hohe Anforderungen an die Konzentration der Leserin/des Lesers. Allerdings ist Neuwegs „Lehrerbildung“ kein Buch, das man von vorn nach hinten liest, sondern eines, das dazu einlädt, der Neugier und dem Interesse folgend, darin zu lesen und es gleichsam als einen Fundus zu nutzen. Ein differenziertes und gründlich erstelltes Personen- und Sachregister gestattet eine schnelle Orientierung. Ein Buch, das für alle in Forschung, Lehre und Studium mit Lehrer*innenbildung befasste Leser*innen von großem Gewinn und Genuss sein wird.
Thomas Häcker (Rostock)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Häcker: Rezension von: Neuweg, Georg Hans (Hg.): Lehrerbildung, Zwölf Denkfiguren im Spannungsfeld von Wissen und Können. Münster, New York: Waxmann 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094490.html