WĂ€hrend quantitative Schulentwicklungsforschung in den letzten Dekaden breit angelegte Studien im Sinne datenbasierter Schulentwicklung hervorgebracht hat und methodisch vielfach vereinheitlicht vorgeht, existieren im Bereich qualitativer Schulentwicklungsforschung zwar eine Reihe von Studien, eine breitere theoretische, methodologische und methodische Diskussion ĂŒber qualitative ZugĂ€nge mit Bezug auf diesen spezifischen Gegenstand besteht bislang allerdings kaum (erste Versuche bei Moldenhauer et al. [1]). Der Sammelband von Enikö Zala-Mesö, Julia HĂ€big und Nina Bremm ist damit nicht nur als Gewinn fĂŒr die Dokumentarische Methode, sondern fĂŒr die qualitative Schulentwicklungsforschung insgesamt einzuschĂ€tzen und leistet darin Pionierarbeit.
Insofern erscheint es angemessen, dass die Autor:innen in der Einleitung von einem âPotentialâ (7) fĂŒr die Schulentwicklungsforschung schreiben. Ăber die einzelnen BeitrĂ€ge hinweg wird dabei erstens die Rekonstruktion von Sinngehalten der Akteur:innen und zweitens deren Analyse v.a. mit Blick auf âstillschweigend vorhandenes und handlungsleitende[s] Wissenâ hervorgehoben, das âfuÌr Prozesse der Schul- bzw. Organisationsentwicklung relevant istâ (162). Gerade dieser Gegenstand kann als bedeutsamer Beitrag angesehen werden, den die Dokumentarische Methode (und sicherlich auch andere rekonstruktive Methoden) der Schulentwicklungsforschung anzubieten hat.
Vor dem Hintergrund der Fragestellung, was die Dokumentarische Methode also fĂŒr die Schulentwicklungsforschung zu leisten imstande ist (9), gliedert sich der Band in fĂŒnf Abschnitte. ZunĂ€chst befassen sich Kramer und Goldmann in zwei BeitrĂ€gen mit theoretischen, methodischen und methodologischen Ăberlegungen. Kramer dekliniert hierfĂŒr das Potential dokumentarischer Forschung fĂŒr die Analyse von Schulentwicklungsprozessen entlang von Kerntheoremen der Dokumentarischen Methode durch. Analytisch aufschlieĂend erscheint bei ihm v.a. die Frage, wie Friktionen zwischen Akteursgruppen und -milieus (relevant besonders im Beitrag ĂŒber multiprofessionelle Teams von Köpfer et al.), Norm und Habitus (relevant v.a. bei Studien, die sich mit stark fixierten Reformkontexten auseinandersetzen, im Band ebenfalls Köpfer et al. hinsichtlich Inklusion, Zala-Mesö et al. hinsichtlich Partizipation oder Miceli hinsichtlich der SelbstĂ€ndigen Schule) sowie Orientierungsrahmen und konjunktivem Erfahrungsraum als Treiber oder Folgen von Schulentwicklungsprozessen fungieren (27f). Kramer wirft als Limitierung die offene Frage nach Institution und Organisation auf, die etwa auch von Köpfer et al. (93) und Hertel (98) bearbeitet wird und auf die Goldmann im zweiten metatheoretisch-methodologischen Beitrag reagiert. Er versteht die Organisation gerade nicht als konjunktiven Erfahrungsraum, sondern als âpolykontexturalâ (40), und betont damit nicht die Einheit der Organisation, sondern die Vielfalt sozialer Wissenshorizonte, die in ihr auftreten. In den Mittelpunkt rĂŒckt dann bei Goldmann die Frage, wie unterschiedliche Sinnhorizonte ĂŒber eine âVerbundkontexturâ vermittelt werden können. Seine Ăberlegung, ob das dann noch dokumentarisch ist, mag eine Frage sein, die vielleicht der begrifflichen Hermetik des dokumentarischen Diskurses geschuldet ist. In jedem Fall ist sein Ansatz fĂŒr qualitative Schulentwicklungsforschung hochgradig instruktiv, denn vielfĂ€ltige Deutungshorizonte zeigen sich nicht nur in fast allen BeitrĂ€gen des Bandes, sie widersprechen auch dem oft bemĂŒhten prĂ€skriptiven Diktum von der Schule als pĂ€dagogischer Handlungseinheit.
Die weiteren Abschnitte konzentrieren sich auf aktuelle Inhalte von Schulentwicklung, deren ProzessphÀnomene sowie datenbasierte Schulentwicklung. Der zweite Abschnitt thematisiert Ungleichheitskonstruktionen und nimmt dabei inhaltlich sozialrÀumliche (Kamm), inklusive (Köpfer et al.) und migrationsspezifische Belange (Hertel) der Schulentwicklung in den Fokus. Im dritten Abschnitt werden insbesondere Aushandlungsprozesse thematisiert.
Zala-Mezö et al. rekonstruieren, wie LehrkrĂ€fte sich unterschiedlich auf den Anspruch der Partizipation beziehen, Miceli rekonstruiert Rekontextualisierungen der Bildungsreform âSelbstĂ€ndige Schuleâ. Paseka und Hinske verstehen die EinfĂŒhrung von Lernplattformen als Steigerung professioneller Ungewissheit, der Schulen durch die Antizipation zu erwartender (auch kritischer) Entwicklungsfolgen proaktiv begegnen können. Im vierten Abschnitt finden sich Untersuchungen zum Umgang mit Daten in der Schulentwicklung. Dabei geht es etwa um die Interpretation quantitativer Daten durch einzelschulische Akteur:innen (RacherbĂ€umer und Bremm), oder auch um die Einspeisung und Kommunikation eigener qualitativer Daten in beforschte Schulentwicklungsprozesse (Asbrand und Martens). In einem Ausblick entwirft schlieĂlich Moldenhauer fĂŒr die einzelnen BeitrĂ€ge ĂŒberblickend eine VerhĂ€ltnisbestimmung von Dokumentarischer Methode und Schulentwicklungsforschung, aus der sie weitere Perspektiven ableitet. Unter den vielfĂ€ltigen Anregungen, die Moldenhauer entlang einer Heuristik der Bezugsprobleme von Schulentwicklung entfaltet, lĂ€sst sich insbesondere hervorheben, dass sie danach fragt, wie die Schule als spezifische, nĂ€mlich pĂ€dagogische Organisation zu fassen sei. Auch wenn solche Gegenstandsbestimmungen aufgrund der metatheoretischen BezĂŒge der dokumentarischen Methode sicherlich vor Herausforderungen gestellt sind, könnte ein Wegweiser hier in der Fundierung im professionellen schulpĂ€dagogischen Handeln liegen, wie dies bei der Schulkulturtheorie der Fall ist. Dann wĂ€ren möglicherweise jĂŒngst von Bohnsack entwickelte Ăberlegungen einer praxeologischen Professionsforschung zu integrieren.
Ăber die BeitrĂ€ge hinweg zeigt sich insgesamt, dass die Dokumentarische Methode (oder andere rekonstruktive Methoden) besonders dann einen interessanten Einsatz fĂŒr die Schulentwicklungsforschung hat, wenn Reformprogrammatiken in besonderer juristischer oder normativer IntensitĂ€t als Normen in Kraft gesetzt werden (etwa Partizipation bei Zala-Mesö et al., SelbstĂ€ndige Schule bei Miceli oder Inklusion bei Hertel). Denn insbesondere bei den damit erhobenen Entwicklungserwartungen ist es bedeutsam, dass und wie diese entlang impliziter WissensbestĂ€nde (Habitus, Deutungsmuster) gebrochen werden und damit die Statik von Strukturen oder zumindest die Langsamkeit und NichtlinearitĂ€t von Prozessen untersucht werden können. Das Potential der Dokumentarischen Methode erscheint zugleich an einigen Punkten unausgeschöpft. Dies zeigt sich deutlich etwa daran, dass Kramer in seinem Beitrag viele forschungspraktisch anregungsreiche analytische Heuristiken der Dokumentarischen Methode nur im Konjunktiv mit Schulentwicklung in Verbindung bringen kann. Sichtbar wird dieses Potential auch an den vielfĂ€ltigen Anregungen, die Moldenhauer entlang einer Theorie der Schulentwicklung aufweist und denen abschlieĂend noch eine weitere anheimgestellt werden soll: Alle BeitrĂ€ge des Bandes beziehen sich darauf, welche Orientierungsrahmen hinsichtlich der ProzessphĂ€nomene oder der Inhalte von Schulentwicklung rekonstruierbar sind. Sie fragen also nach Deutungen des Wandels. In der Schulentwicklungsforschungen finden sich zugleich jedoch gerade hinsichtlich der wesentlichen Akteur:innen von Schulentwicklung â der LehrkrĂ€fte â auch vielfache Verweise auf eine professionalisierungsinduzierende Wirkung von Schulentwicklung bzw. gar die conditio sine qua non von Professionalisierungsprozessen in ihrem Kontext.
Forschungspragmatisch gewendet wirft dies die Frage nach dem Wandel von Deutungen auf, der im Band unbeantwortet bleibt. Dieser Umstand könnte einerseits daran liegen, dass dieser Wandel tatsĂ€chlich empirisch kaum stattfindet. Dies könnte aber andererseits auch Fragen aufwerfen, die die Dokumentarische Methode als Methodologie in zweierlei Hinsicht betreffen: Ist erstens der metatheoretische Rahmen (Habitus) zu statisch, um VerĂ€nderung in den Blick zu bekommen [2]? Ist zweitens das methodische Repertoire ausgereift genug, um VerĂ€nderung in der Rekonstruktion zu identifizieren? Inspiration hierfĂŒr findet die Dokumentarische Methode möglicherweise in ihrer eigenen Diskussion etwa bei KoĆĄinĂĄr [3], die in Langzeitstudien die VerĂ€nderung von Teilhabitus rekonstruieren kann oder bei Olk [4], der die implizite Reflexion als Ort potentieller Habitustransformation akzentuiert. Instruktiv könnte auch die transformatorische Bildungstheorie sein, mit der Koller [5] sich sowohl auf den Habitus im Kontext von Wandel, als auch auf Methoden seiner Rekonstruktion bezieht.
Insgesamt liegt mit dem Band eine Textsammlung vor, die einerseits fĂŒr Rezipient:innen mit Fokus auf der Dokumentarischen Methode interessant sein dĂŒrfte, weil er insbesondere Anregungen zur Fragen des Organisationalen und der VerĂ€nderung aufwirft. Zugleich dĂŒrfte er auch fĂŒr Leser:innen aus der Schulentwicklungsforschung stark anschlussfĂ€hig sein, die in den Begrifflichkeiten der Dokumentarischen Methode Anregungen fĂŒr das Verstehen von Schulentwicklung erhalten können, die ĂŒber normative oder technologische Vorstellungen hinausgehen. Die zentrale StĂ€rke des Bandes liegt hier in der theoretisch-methodologischen InstruktivitĂ€t und empirischen ErschlieĂung impliziten Wissens fĂŒr die Schulentwicklungsforschung.
[1] Moldenhauer, A., Asbrand, B., Hummrich, M. & Idel, T.-S. (2021). Schulentwicklung als Theorieprojekt. Springer Fachmedien.
[2] Pauling, S. (i.V.): Ungewissheit und Konvergenz in der Schulentwicklung. Eine Deutungsmusteranalyse an Primus-Schulen. Dissertation, eingereicht an der Carl-von-Ossietzky UniversitÀt Oldenburg am 28.2.2022.
[3] KoĆĄinĂĄr, J. (2019). Habitustransformation, -wandel oder kontextindizierte VerĂ€nderung von Handlungsorientierungen? Ein dokumentarischer LĂ€ngsschnitt ĂŒber Referendariat und Berufseinstieg. In R.-T. Kramer & H. Pallesen (Hrsg.), Lehrerhabitus. Theoretische und empirische BeitrĂ€ge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs (S. 235-259). Klinkhardt.
[4] Olk, M. (2022). Differenzierte Verantwortlichkeit. âImplizite Reflexionâ im (berufs-) biographischen Sprechen einer Klassenlehrerin an einer Grundschule mit inklusivem Selbstanspruch. In E. GlĂ€ser, J. Poschmann, P. BĂŒker & S. Miller (Hrsg.), Reflexion und ReflexivitĂ€t im Kontext Grundschule. Perspektiven fĂŒr Forschung, Lehrer:innenbildung und Praxis (S. 130-135). Klinkhardt.
[5] Koller, H.-C. (2018). Bildung anders denken. EinfĂŒhrung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Kohlhammer Verlag.
EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)
Dokumentarische Methode in der Schulentwicklungsforschung
MĂŒnster, New York: Waxmann 2021
(280 S.; ISBN 978-3-8309-4423-2; 34,90 EUR)
Sven Pauling (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Pauling: Rezension von: Zala-Mezö, Enikö / HĂ€big, Julia / Bremm, Nina (Hg.): Dokumentarische Methode in der Schulentwicklungsforschung. MĂŒnster, New York: Waxmann 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094423.html
Sven Pauling: Rezension von: Zala-Mezö, Enikö / HĂ€big, Julia / Bremm, Nina (Hg.): Dokumentarische Methode in der Schulentwicklungsforschung. MĂŒnster, New York: Waxmann 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094423.html