Hochschulen sehen sich als gesellschaftliche Institutionen mit dem globalen Wandel und der dadurch wachsenden (Un-)Sichtbarkeit von Heterogenität unter Studierenden, Lehrenden und weiteren Organisationsmitgliedern konfrontiert. Den erforderlichen Umgang mit Diversität als „Querschnittsaufgabe“ (47) der Hochschulen nehmen alle 13 Kapitel des Sammelbandes „Diversität im Kontext Hochschullehre: Best Practice“ zum Ausgangspunkt ihrer Ausführungen.
Marie-Theres Gruber, Katharina Ogris und Britta Breser blicken auf die Hochschule als „Ort der Diversität“ (13), wobei sie einerseits die Heterogenität der Studierenden, andererseits Diversität selbst als Lehr- und Lerngegenstand in den Mittelpunkt rücken. In ihren einleitenden Worten adressieren sie an Hochschulen die bedeutsame und hochaktuelle Frage, „was Lehrende und Absolvent:innen eines Studiums zum demokratischen Gelingen einer pluralen Gesellschaft beitragen können“ (15). Wenngleich die Entwicklung einer „Diversity-Kompetenz“ (13) als hochschuldidaktisch-normatives Ziel formuliert wird, verweisen die Autorinnen auf machtkritische Diskurse und die Gefahr des Otherings, wenn eine Überkategorisierung stattfindet und damit einhergehende Normalisierungs- und Abweichungspraktiken nicht kritisch hinterfragt oder reflektiert werden. Der Band verspricht eine Sammlung und Reflexion von Best-Practice-Beispielen aus der Hochschullehre, ihre Einordnung in theoretische Diskurse und empirische Forschung sowie Inspirationen zur Weiterentwicklung einer diversitätssensiblen Hochschuldidaktik. Das Inhaltsverzeichnis lässt eine thematische Gliederung der Kapitel missen, wodurch die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen im komplexen Feld der Diversität und der Hochschule als multidisziplinären Gegenstand nur durch das Lesen der einzelnen Überschriften oder der Kapitelvorstellungen in der Einleitung zu erahnen sind.
Wird in der Einleitung von den Herausgeberinnen noch die Frage formuliert, „wie Diversitätskompetenz gelehrt und gelernt werden kann“ (15), verlagert Manuel Pietzonka in Kapitel 2 die Frage vom „Wie“ zum „Ob“ und rückt die Grenzen der Vermittelbarkeit von Kompetenzen im Umgang mit Diversität in den Fokus. Da Kompetenzen immer nur als beobachtbares Verhalten oder als subjektive Selbstzuschreibungen von Personen erfasst werden können, plädiert Pietzonka für den Fähigkeitsbegriff und schlägt „Diversitätsakzeptanz“ (30) als neues Konstrukt zur Beschreibung des individuellen Umgangs mit Diversität vor. Er attestiert der Hochschuldidaktik einen Mangel an Evaluationsforschung und stellt gleichzeitig zur Debatte, Fähigkeiten zum Umgang mit Diversität überhaupt als Learning Outcome von Hochschulen zu formulieren. Insgesamt überschätze die Hochschule ihre Einflussmöglichkeiten auf den Umgang mit Vielfalt durch Lehrangebote. Der Beitrag hebt sich insofern von den anderen ab, als dass er eine rein theoretische Einordnung und Diskussion unternimmt und die Frage nach einer erfolgreichen Vermittlung durch die Hochschule bewusst ausblendet (vgl. 22).
Die darauffolgenden Beiträge nehmen Konzepte einer diversitätssensiblen Lehre und ihre evaluative Beforschung in verschiedenen hochschulischen Settings in den Blick. In Kapitel 3 und 7 wird Diversität als mehrdimensionales Konstrukt entworfen, das von Studierenden in Form von Modulen gelernt werden kann. Anja Seng und Rouven Lippmann stellen hierzu die „Diversity-Toolbox“ (48) vor, die Lehrende bei der Vermittlung unterstützen kann. In einem Studienschwerpunkt zu sozialer Vielfalt vereinen Doris Baum und Katharina Fischer umfangreiche Aspekte von Diversität und die historische Entstehung von Diskriminierungsformen, die Studierende in (außer-)schulischen Praxisphasen reflektieren sollen. Eine hochschuldidaktisch besonders interessante Perspektive nehmen Imke Buß und Petra Schorat-Waly in Kapitel 4 ein, wenn sie entlang eines Workshopformats für neuberufene Professor:innen das Konzept der „lernrelevanten Diversität“ (59) entwerfen. In einer textbasierten Toolbox werden die für das individuelle Lernen von Studierenden nachweislich wichtigen Facetten vorgestellt. Anschlussfähig an eine solche Relevanzsetzung sind die systemisch-konstruktivistischen Perspektiven auf Lernen von Henrik Dindas und Sven Oleschko, die in Kapitel 5 die Bedeutung der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden ins Zentrum setzen. Die Autoren bieten eine Übersicht zu praxisorientierten Professionsüberzeugungen, die Lehrenden helfen können, ihre Rolle als Lernbegleiter:innen zu schärfen.
Kapitel 6, 8, 9, 10 und 11 befassen sich mit Sprache bzw. Mehrsprachigkeit als Dimension von Diversität unter Studierenden sowie in Bezug auf die zukünftige Klientel der Hochschulabsolvent:innen. Katharina Grannemann stellt praxisnahe Konzepte und Übungen zur Reflexion von „beliefs“ (101) von Lehramtsstudierenden mit dem Fokus auf ihre Selbst- und Fremdwahrnehmungen im Bereich Mehrsprachigkeit vor. Eine fachdidaktische Perspektive nimmt Georg Marschnig ein und stellt in seiner Studie zu Präkonzepten von Studierenden die Bedeutung von Sprachsensibilität im Fach Geschichte dar. Marie-Theres Gruber nimmt die Dimension (Bildungs-)Sprache in der Lehrveranstaltung „Content and Language Integrated Learning (CLIL)“ (147) für Primarpädagog:innen als Herausforderung für alle Schüler:innen in den Blick. In Kapitel 10 wird von Heidrun Demo und Dario Ianes eine Vorlesung zur Integrationspädagogik vorgestellt, die mit der tradierten Sprachentrennung an der Universität Bozen bricht und die sprachliche Heterogenität der Studierenden zur Ressource umfunktioniert. Eva Seidl setzt die „Translationsorientierte Sprachlehre (TOSL)“ (181) im Rahmen eines Lehr-Lern-Settings im Bachelorstudium Transnationale Kommunikation ins Zentrum ihrer Überlegungen, in der vor allem die diversen (finanziellen) Lebensumstände von Studierenden Berücksichtigung finden. Die vorgestellten Übungen zu behinderungs- und migrationsbezogenen Themen stärken laut Evaluation die Empathiefähigkeit und Selbstreflexion.
Schließlich beschäftigen sich die letzten beiden Kapitel mit der Diversitätsdimension Gender im Spannungsfeld von „Dramatisierung und Ent-Dramatisierung“ (221). Anders als die anderen Autor:innen nehmen Sabine Klinger und Andrea Mayr empirisches Material aus einer elementarpädagogischen Einrichtung zum Ausgangspunkt ihrer didaktischen Überlegungen. Angereichert mit Theoriewissen nutzen Studierende die rekonstruierten Orientierungen der Pädagog:innen zur Reflexion eigener biografischer Erfahrungen. In Kapitel 13 stellen Christiana Glettler und Veronika Schweiger-Mauschitz ein monoedukatives „Genderwochenendseminar“ (217) für angehende Primarpädagoginnen an, das mithilfe erlebnispädagogischer Elemente die Reflexionskompetenz und Selbstermächtigung von weiblich identifizierten Personen stärken soll.
Die Beiträge bieten eine Vielfalt an theoretischen Ansätzen, Begriffen und Konzepten, die wertvolle Impulse für Hochschullehrende in ihrer Auseinandersetzung mit diversitätssensiblen Inhalten und Methoden sein können, wenngleich nicht alle Dimensionen und Diskriminierungsformen abgedeckt sind. An passenden Stellen verweisen die Autor:innen in ihren Einzelbeiträgen gegenseitig aufeinander, doch leider bleibt eine abschließende Diskussion der sich ergänzenden, punktuell jedoch auch stark widersprechenden Perspektiven aus. Die auf die ernüchternde These von Pietzonka folgenden Vorschläge zur Vermittlung von Diversitätskompetenz, die immer in einer positiven Evaluation und oft in einer pathetischen Romantisierung von Vielfalt münden, lassen den:die Leser:in auf theoretischer Ebene womöglich etwas ratlos zurück. Auch die einzelnen Beiträge differieren stark in ihrer fachlichen Tiefe und professionstheoretischen Einordnung. Insbesondere der Beitrag von Dindas und Oleschko eröffnet eine theoretisch fundierte Einordnung in die soziale Konstruiertheit von Kategorien und das Risiko von Diskriminierungspraktiken in der hochschulischen Lehre. Zwar benennen die meisten Beiträge die Gefahr der Reproduktion von Stereotypen im pädagogischen Handeln sowie im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, doch einige Autor:innen sind durch ihre Darstellungen in Form von plakativen Personenbeschreibungen (vgl. 24) oder binären Geschlechtertypen (vgl. 228) durchaus an der Herstellung von Abweichung und Normalität beteiligt. So zeigt sich stellenweise auch in diesem Sammelband: „Wer die Macht der Normalität auf seiner Seite weiß, hinterfragt sie nicht.“ [1]
[1] Sierck, U. (2010). Disability Studies – fundiertes Wissen. Zeitschrift für Inklusion, 4(3).
EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)
Diversität im Kontext Hochschullehre
Best Practice
MĂĽnster: Waxmann 2021
(246 S.; ISBN 978-3-8309-4409-6; 34,90 EUR)
Isabel Kratz (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Isabel Kratz: Rezension von: Gruber, Marie-Theres / Ogris, Katharina / Breser, Britta (Hg.): Diversität im Kontext Hochschullehre, Best Practice. MĂĽnster: Waxmann 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094409.html
Isabel Kratz: Rezension von: Gruber, Marie-Theres / Ogris, Katharina / Breser, Britta (Hg.): Diversität im Kontext Hochschullehre, Best Practice. MĂĽnster: Waxmann 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094409.html