Es gibt nichts zu feiern, denn nicht nur an deutschen Regelschulen, sondern auch an deutschen Universitäten ist ein Spannungsverhältnis zwischen der Mehrsprachigkeit der Schüler*innen bzw. Studierenden und der umfassenden Monolingualität der Institutionen gegeben. Der Unterricht an Schulen und die Lehre an den Universitäten findet bis auf wenige Ausnahmen auf Deutsch statt, obwohl zahlreiche Schüler*innen und Studierende nicht nur Fremdsprachen beherrschen, sondern auch „lebensweltlich mehrsprachig“ [1] sind – vielleicht sind es in heutigen globalisierten urbanen Regionen sogar alle, wie die Fallanalysen von Friederike Dobutowitsch vermuten lassen. Die Auswirkungen dieser Schieflage sind im Hinblick auf Schulen in den letzten Jahren ausgiebig untersucht worden. Zur Lage im Hochschulbereich wurden bisher vergleichsweise wenige Daten, Analysen und Konzeptionalisierungen vorgelegt. An diesem Desiderat setzt Friederike Dobutowitsch mit ihrer Dissertation an, in deren Zentrum lebensweltlich mehrsprachige Studierende stehen. Dobutowitsch stellt darin die Ergebnisse einer qualitativen Studie vor, in der es um die Frage geht, wie sich die lebensweltliche Mehrsprachigkeit bei Studierenden zeigt und welche – mit Pierre Bourdieu gedacht – „Spielräume“ ihnen für die Verwendung, Nutzung sowie den Ausbau ihrer lebensweltlichen Mehrsprachigkeit zur Verfügung stehen. Forschungsmethodisch orientiert sich die Studie u.a. an der Grounded Theory[2]. Über explorative Expert*inneninterviews mit Lehrenden an der Universität hinaus werden die Ergebnisse von 19 narrativen Interviews mit Studierenden vorgelegt.
Nach der Einleitung wird die Studie im zweiten Kapitel in den hochschulpolitischen Diskurs eingeordnet. Das dritte Kapitel enthält den Forschungsstand über die Bildungssituation von mehrsprachigen Studierenden an Hochschulen in Deutschland. Im vierten Kapitel wird der theoretische Zugang entfaltet, der zahlreiche stimmig zusammengeführte Studien und Positionen enthält. Im fünften Kapitel wird der methodische Zugang vorgestellt, auf den im sechsten und siebten Kapitel die Ergebnisse der eigenen Studie folgen, die im achten Kapitel theoretisiert und im neunten Kapitel auf den Kontext „Hochschule“ rückbezogen werden. Zudem werden weiterführende Fragen vorgestellt und hochschuldidaktische Schlussfolgerungen formuliert.
Die Dissertation von Friederike Dobutowitsch schließt an eine Reihe an Qualifikationsarbeiten an, die in den letzten 25 Jahren an der Universität Hamburg entstanden und sich theoretisch an der Habitus-Theorie von Bourdieu orientieren. Vor allem die Theorie des „sprachlichen Markts“ [3] konnte in diesen Arbeiten sehr aufschlussreich genutzt werden, um Mehrsprachigkeit in gesellschaftlichen Zusammenhängen erfassen, lebensweltliche Mehrsprachigkeit in nationalstaatlichen, aber auch transnationalen Räumen zu betrachten und ihre Bedeutung als „Kapital“ der Sprechenden auszuloten. Dobutowitsch schließt in ihrer Studie an diese „bourdieusche Perspektive“ an, geht allerdings einen Schritt weiter, indem sie das Theoriegerüst um begrifflich-konzeptionelle Perspektiven erweitert, die in jüngster Zeit in migrationspädagogischer[4], machtkritischer und postkolonial informierter[5] interdisziplinärer deutschsprachiger Forschung herausgearbeitet und für das Verständnis von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit fruchtbar gemacht wurden. Diese Perspektiven ermöglichen die Betrachtung der sprachlichen Gegebenheiten als migrationsgesellschaftliche und postkoloniale Verhältnisse, sodass Analyseergebnisse in historisch größere und vor allem gegenwartsbezogen spezifischere Zusammenhänge eingeordnet werden können. Neben den Konzepten „Habitus“ und „Kapital“ von Bourdieu nutzt Dobutowitsch also weitere wie „Native Speakerism“ [6], die aus dem erweiterten und sehr nachvollziehbar argumentierten Theoriegerüst stammen. Allein des umfassenden und einzelne Positionen differenziert vergleichenden theoretischen Überblicks wegen würde es sich unbedingt lohnen, die Studie zu lesen.
Der theoretische Rahmen, der, wie in vielen neueren Arbeiten, als „Analyseperspektive“ genutzt werden soll, wird um den konkreten Forschungsstand ergänzt. Erwähnt werden muss auch die Darstellung des Forschungsfeldes der nationalen Universität, die nicht nur von Studierenden besucht wird, die vor Ort im Studienland aufgewachsen sind. Zahlen, Fakten und Forschungsergebnisse zur Studiensituation von Studierenden, die potenziell die Untersuchungsgruppe bilden, werden ausführlich vorgestellt. Der empirische Teil der Arbeit umfasst Fallanalysen von Studierenden, die sehr interessante Einblicke in Formen von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit von Studierenden, die vor Ort aufwuchsen und solchen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer (Bildungs-)Biografie aus anderen nationalen Kontexten kommend ihren Weg an den Studienstandort, an dem Dobutowitsch ihre Daten erhob, gefunden haben. Die Daten und Fallanalysen zeigen ein äußerst dynamisches Bild von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit, das sich sowohl von verschiedensten Aneignungsformen von Sprachen als auch der Praxis in unterschiedlichen Kontexten, nicht zuletzt an der Universität, zusammensetzt. Die Fallanalysen werden durch fallübergreifende Zusammenführungen ergänzt, die theoretisch eingeordnet und im Hinblick auf „Spielräume“ der Studierenden, im Studium ihre Mehrsprachigkeit zu erweitern, zu vertiefen, zu professionalisieren, zu praktizieren und zu nutzen, ausgewertet werden. Im Ergebnis zeigen sich einschlägige Gelegenheiten, auf die die Studierenden zurückgreifen. Diese Gelegenheiten sind auf einer großen Bandbreite von philologischen Studiengängen bis hin zu einzelnen Lehrveranstaltungen angesiedelt und enthalten Praktiken der Nutzung der Sprachen für die Erarbeitung von Studieninhalten. Dobutowitsch arbeitet mit Rückgriff auf die eingangs vorgestellten theoretischen Konzepte heraus, dass zwar Möglichkeiten und Gelegenheiten gegeben sind, aber auch Restriktionen und Verunmöglichungen einer mehrsprachigen Praxis und eines berufsbezogenen Ausbaus der lebensweltlichen Sprachen von Studierenden an einer deutschen Universität. Ansätze für die Verbesserung der bestehenden restriktiven Lage werden von der Autorin abschließend vorgestellt.
Die Untersuchung von Friederike Dobutowitsch bewegt sich auf einem hohen theoretisch-empirischen Niveau und ist durchweg reflexiv verfasst, auch bezogen auf die eigene Begriffsverwendung und Konzeptionalisierungen, bspw. von „Sprache“. Insgesamt liegt eine Studie vor, die nicht nur empirisch spannend und aufschlussreich ist, sondern darüber hinaus theoretisch äußerst umfassend und lehrreich ist, gerade im Hinblick auf die Kunst, unterschiedliche wissenschaftliche Diskursstränge zusammenzuführen und für neue Analysen fruchtbar zu machen.
Die Publikation ist vor allem für Forschende im Bereich „migrationsbedingte Mehrsprachigkeit“ empfehlenswert; auf Grund der theoretischen Breite auch für jene, deren Arbeiten sich auf andere Kontexte als „Hochschule“ beziehen.
[1] Gogolin, I.: Erziehungsziel Mehrsprachigkeit. In Röhner, C. (Hrsg.): Erziehungsziel Mehrsprachigkeit. Diagnose von Sprachentwicklung und Förderung von Deutsch als Zweitsprache. Weinheim / München: Juventa, 2008, 13-24.
[2] Glaser, B. G. / StrauĂź, A. L. (1967/2020): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Huber.
[3] Bourdieu, P.: Was heiĂźt sprechen? Die Ă–konomie des sprachlichen Tausches. Wien: BraunmĂĽller 1990.
[4] Mecheril, P. / Castro Varela, M. / Dirim, İ. / Kalpaka A. / Melter, C. (2010): Migrationspädagogik. Weinheim / Basel: Beltz.
[5] Castro Varela, M.: Postkolonialität. In: Mecheril, P, Kourabas, V. / Rangger, M. (Hrsg.): Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2016.
[6] Holliday, A.: Native-speakerism. ELT-Journal, 60 (4), 2016, 385-387.
EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)
Lebensweltliche Mehrsprachigkeit an der Hochschule
Eine qualitative Studie über die sprachlichen Spielräume Studierender
MĂĽnster / New York / MĂĽnchen / Berlin: Waxmann Verlag 2020
(254 S.; ISBN 978-3-8309-4156-9; 29,90 EUR)
İnci Dirim (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
İnci Dirim: Rezension von: Dobutowitsch, Friederike: Lebensweltliche Mehrsprachigkeit an der Hochschule, Eine qualitative Studie ĂĽber die sprachlichen Spielräume Studierender. MĂĽnster / New York / MĂĽnchen / Berlin: Waxmann Verlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094156.html
İnci Dirim: Rezension von: Dobutowitsch, Friederike: Lebensweltliche Mehrsprachigkeit an der Hochschule, Eine qualitative Studie ĂĽber die sprachlichen Spielräume Studierender. MĂĽnster / New York / MĂĽnchen / Berlin: Waxmann Verlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094156.html