Der Sammelband ist folgendermaĂen aufgebaut: Nach einer Kurzvorstellung der BeitrĂ€ge im Vorwort der Herausgeber/-innen, werden in drei knappen Schritten die âGrundlagen des Verantwortungsbegriffsâ (15) erörtert. Martin Drahmann und Colin Cramer nĂ€hern sich in ihrem Beitrag dem Begriff Verantwortung ĂŒber Berufsethos und ProfessionalitĂ€t der Lehrpersonen, weiterfĂŒhrend kommt bei Julia Hugo die PĂ€dagogische Verantwortung in ihrem RelationsverhĂ€ltnis zu schulrechtlichen Fragestellungen zur Sprache. In einem dritten einfĂŒhrenden Zugriff wird Verantwortung von Jannis Seidemann in ihrer historischen Dimension problematisiert. Damit ist die Grundsatzdebatte vorab abgeschlossen und man eröffnet den Raum fĂŒr interdisziplinĂ€re Perspektiven im zweiten Teil, der den gröĂten Platz im Buch einnimmt.
Dabei kommen die âGesellschaftliche Verantwortung in der Lehrerbildungâ (Nina Beck, 75), âService Learningâ (Britta Klopsch und Anne Sliwka, 87), âschulisches QualitĂ€tsmanagementâ (Stephan Gerhard Huber und Nadine Schneider, 99), âVerantwortung im Kontext wertebasierten FĂŒhrensâ (Stephan Gerhard Huber et.al, 117), âKooperationen von Schulen mit auĂerschulischen Akteurenâ (Pierre Tulowitzki et.al, 131), âpraxeologisch-wissenssoziologische Passungenâ (Jan-Hendrik Hinzke, 141) und zuletzt âkunsttheoretische Erörterungenâ (Nathalie Brink, 153) zum Verantwortungsbegriff zur Sprache. Abgerundet wird abschlieĂend mit zwei Beispielen aus der Praxis, eines, das VerantwortungsĂŒbernahme konkret am Beispiel einer Schule beschreibt (Kai Regner, 173) und ein weiterer Beitrag, in dem Verantwortung aus der Perspektive der Bildungssprache diskutiert wird (Theresa Pendorf, 183). Damit ist der offenbleibende Diskursbogen von Verantwortung von den Grundlagen zu den interdisziplinĂ€ren Perspektiven bis hin zur Praxis formal abgesteckt. Eine derartige inhaltliche Gliederung ist in SammelbĂ€nden nichts Neues und man kann als Leser/-in nach dem GrundsĂ€tzlichen speziell zu gustieren beginnen.
Die Sache eines solchen methodischen Vorgehens ist aber auch nicht gĂ€nzlich unproblematisch, wie man im Vorwort lesen kann: âOffen bleibt allerdings, was besagte pĂ€dagogische Verantwortung umfasst und wie sie realisiert werden kann.â (7) Dieser Satz aus dem Vorwort der Herausgeber/-innen, der in einigen Texten sich wiederholt paraphrasiert wiederfindet, macht einigermaĂen stutzig, will man sich an der âWas ist-Frageâ schlichtweg vorbeischummeln?
Bei der Textauswahl geht es offensichtlich weniger um die Festlegung disziplinimmanenter normativer GrenzverlĂ€ufe. Kritik wĂ€re dergestalt ein Gegenentwurf, der nicht gut ankĂ€me und bloĂ Widerstand erzeugte. Anders gewendet: Landet man beim Thema âVerantwortungâ gewissermaĂen automatisch in einer sokratischen Aporie, nicht sagen zu können, was Verantwortung wĂ€re, obzwar man sehr wohl Beispiele fĂŒr Verantwortung, resp. verantwortliches Handeln, in verschiedenen Bereichen des Schul- und Unterrichtswesens diskutieren kann?
Es geht, mit Prange gesprochen, darum, etwas begrifflich nicht fassen zu können, wenn man versucht, sich beispielhaft an das Problem, den Begriff, in unserem Fall die Verantwortung, heran zu pirschen. Prange in seiner Menon Paraphrase: âImmer neue Beispiele fĂŒhren zu immer neuen Begriffen, und das ergibt keine Antwort.â [1] Was pĂ€dagogische Verantwortung sein kann, woran man sie erkennt, wie man sie erwerben kann, ob man sie schon hat, aber aktivieren mĂŒsse, bleibt in den versammelten Texten des Bandes vage, ohne dass deren LektĂŒre damit aus den verschiedensten Motivlagen heraus nicht wenig zu sagen hĂ€tte. Dass damit nicht gemeint ist, dass es an profunden Definitionen mangelt, auf Basis derer man den Begriff beispielhaft werden lassen möchte, bringt einen auf das nĂ€chste sokratische Problem. Prange weiter: âWir wollen die Tugend erforschen, das Forschen ist ein Suchen und Lernen. [âŠ] Nun kann man aber nur suchen, was man kennt; nicht, was man nicht kennt. Wieder eine Falle schlimmer als zuvor. Lernen ist ein Suchen; und wenn man nur suchen kann, was man schon kennt und weiĂ, kann man nichts dazulernen. Man lernt nichts Neues, sondern findet nur wieder, was man verloren hat, verlegt oder vergessen hat.â [2]
Vielleicht wird nun die StoĂrichtung der Kritik klarer und deutlich, warum der Grundsatzteil des Bandes im Vergleich zum interdisziplinĂ€ren Teil eher kurz geraten ist. Der Begriff âVerantwortungâ aus pĂ€dagogischer Sicht bleibt nĂ€mlich auch im grundsĂ€tzlichen Teil beispielhaft und entwickelt nicht hinlĂ€nglich den dahinterliegenden Begriff. Dies könnte man an dieser Stelle als Mangel der Texte missverstehen, gemeint sind damit aber disziplintheoretische Defizite, die zur Folge haben, dass immer weniger propositionales Wissen ĂŒber einheimische Begriffe der PĂ€dagogik als MaĂstab eines problematisierenden Vernunftgebrauchs zur VerfĂŒgung stehen dĂŒrfte. Die unterschiedlichen pĂ€dagogischen und methodologischen Diskursspielarten stellen fĂŒr den Band offensichtlich zu wenig normatives und kritisches Potenzial sicher, an dem man sich anlehnen oder orientieren könnte. Steht der Sammelband nun als Beispiel fĂŒr die vorangegangene These, so fĂŒhrt diese uns in eine weitere Problematik. Der (Aus-)Weg in die InterdisziplinaritĂ€t ist seit einigen Jahren eine Möglichkeit, die Reichweite eines Ansatzes ĂŒber die Grenzen der eigenen wissenschaftspositionellen Diskursspielart hinaus zu schieben. Dieses HinfĂŒhren zu immer spezialisierteren Fragestellungen fĂŒhrt nun aber dazu, dass die erbrachten Ergebnisse hinsichtlich ihrer Geltungsgebiete auseinanderdriften und nicht zusammengefĂŒhrt werden können. Die Texte bleiben unvermittelt und unvermittelbar nebeneinander stehen. Die bildungstheoretische Forderung nach einer Ordnung ihrer selbst, bleibt aus. Ein systematisches Ganze lĂ€sst sich aus den vielen lesenswerten Einzeltexten nicht zusammenbauen. [3]
An dieser Stelle kann auch eingewendet werden, dass ohne eine profunde AbklĂ€rung des Verantwortungsbegriffs aus pĂ€dagogischer Perspektive, der zugegebenermaĂen nicht so leicht möglich sein dĂŒrfte, auch der Zugriff auf Verantwortung im Rahmen interdisziplinĂ€rer Zu- und Ăbergriffe schlichtweg in der Luft hĂ€ngen bleibt. Diese interdisziplinĂ€ren âĂbergriffeâ mĂŒssen unkommentiert ĂŒbernommen werden und entpuppen sich hinsichtlich ihrer Attribuierung als âpĂ€dagogischâ zu schlichten Luftburgen. Vor allem dann, wenn in diesen interdisziplinĂ€ren Zugriffen die Attribuierung âpĂ€dagogischâ auch auf Fachgebiete unwidersprochen adressiert wird, die mit klassischem bildungstheoretischem Blick als problematische Baustellen dieses Diskurses bezeichnet werden mĂŒssen. Schulisches QualitĂ€tsmanagement, Service Learning sowie wertebasiertes FĂŒhren, um nur drei interdisziplinĂ€re Beispiele zu nennen, können in Anspielung auf Foucault, ohne selbstreflexiven Kritikmodus nur in performative Sollensforderungen der jeweiligen âRegierungsformâ [4] gedeutet werden, ihr Umschlagen(-Können) in eine apĂ€dagogische Praxis bliebe an dieser Stelle unbemerkt. Dass damit die Position des Werkes eher einen unsystematischen, eklektischen Beigeschmack bekommt, statt eines heuristisch oder systematischen, in dem gewissermaĂen die Spreu vom Weizen in Bezug auf pĂ€dagogische SĂ€tze versucht wird, ist insofern schade, als damit ein respektabler Versuch, Verantwortung pĂ€dagogisch zu fassen, hinter den Möglichkeiten zurĂŒckbleibt, zurĂŒckbleiben muss. UnabhĂ€ngig davon finden sich in dem Buch besonders lesenswerte Texte, die erst entdeckt werden mĂŒssen. Zu fragen wĂ€re daher, warum der Text ĂŒber die Bildungssprache von Theresa Pendorf unter die Rubrik Beispiele aus der Praxis veraktet wird. Er hĂ€tte es verdient, in die Grundlagen aufgenommen zu werden, weil mit der Bildungs-Sprache das Anliegen bildenden Lernens und Lehrens steht und fĂ€llt.
ResĂŒmierend lĂ€sst sich zum Buch sagen, dass es hinsichtlich seiner Einzeltexte neue Perspektiven und Ăberlegungen dem/der Leser/-n bereitstellt, die in Schule, Studium und Lehre gewinnbringend zum Einsatz gebracht werden können. Das Fehlen einer diskursiven Ausgangsposition zu Beginn oder am Ende des Bandes und die affirmativen Zugriffe, die sich nicht systematisch aufeinander beziehen, lassen den/die kritische/n Leser/-in einigermaĂen unbefriedigt zurĂŒck.
[1] Prange, Klaus: SchlĂŒsselwerke der PĂ€dagogik. Bd.1, Stuttgart: Kohlhammer, 2006, S. 19.
[2] Prange, Klaus: SchlĂŒsselwerke der PĂ€dagogik. Bd.1, Stuttgart: Kohlhammer,2006, S. 19.
[3] Vgl. Heitger, Marian: InterdisziplinaritĂ€t: ihr MiĂverstĂ€ndnis â ihre mögliche Rechtfertigung. In: Borelli, Marian/ Ruhloff, Jörg: Deutsche GegenwartspĂ€dagogik. Bd. 3. Baltmansweiler: Hohengehren, 1998, S. 92-101.
[4] Vgl. Foucault, Michel: Die GouvernementalitÀt. In: Bröckling, Ulrich/ Krasmann, Susanne/ Lemke, Thomas: GouvernementalitÀt der Gegenwart. Frankfurt/Main: suhrkamp, 2000, S. 41-67.
EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)
Verantwortung im Kontext Schule
Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis
MĂŒnster, New York: Waxmann Verlag 2019
(200 S.; ISBN 978-3-8309-4114-9; 34,90 EUR)
Heribert Schopf (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heribert Schopf: Rezension von: Julia, Hugo, / Nathalie, Brink, / Jannis, Seidemann, / Martin, Drahmann, (Hg.): Verantwortung im Kontext Schule, Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. MĂŒnster, New York: Waxmann Verlag 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094114.html
Heribert Schopf: Rezension von: Julia, Hugo, / Nathalie, Brink, / Jannis, Seidemann, / Martin, Drahmann, (Hg.): Verantwortung im Kontext Schule, Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. MĂŒnster, New York: Waxmann Verlag 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383094114.html