Die im Waxmann-Verlag publizierte und in der Reihe New Frontiers in Comperative Education erschienene Dissertationsschrift „Überfachliche Kompetenzen im Sportunterricht. Governance von Lerninhalten am Beispiel der Bildungsplanreform 2016 in Baden-Württemberg“ von Ulrich Theobald ist als ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu verstehen, welches sich vorrangig in der vergleichenden Erziehungswissenschaft, der (Bildungs-)Politikwissenschaft und der Sportpädagogik verorten lässt.
Unter Berücksichtigung der baden-württembergischen Bildungsplanreform von 2016 und dem daraus resultierenden neuen Bildungsplan, werden inhaltliche und unterrichtspraktische Veränderungen im Bereich der überfachlichen Kompetenzen (14) für das Unterrichtsfach Sport am Gymnasium aufgezeigt. Diese Zielstellung erscheint aufgrund der vorhandenen Forschungsdefizite, in Bezug auf bisher kaum vorhandene evidenzbasierten Kompetenzstrukturmodelle für den Sportunterricht, als folgerichtig. Da es jedoch auch Anspruch dieser Arbeit ist, alle Ebenen des Bildungssektors – von der lokalen Ebene (Setting Unterricht) bis hin zur globalen Ebene (Kompetenzstrukturen) – zu berücksichtigen, stellt sich die Frage, wie dies unter der alleinigen Berücksichtigung zweier Bildungspläne aus Baden-Württemberg und einer LehrerInnenbefragung zu realisieren ist.
Aus der Zielstellung resultieren drei, das Vorhaben eingrenzende, Forschungsfragen: Zum einen wird danach gefragt, welche Veränderungen des baden-württembergischen Bildungsplans von 2016 gegenüber dem von 2004 hinsichtlich der überfachlichen Kompetenzen zu erkennen sind (Kapitel 6). Zum anderen wird nach den Auswirkungen des neuen Bildungsplanes auf die Unterrichtspraxis (Kapitel 7) sowie nach den (inter-)nationalen Faktoren für die Entstehung der neuen Bildungsplanreform gefragt (Kapitel 2 und 3).
Die Systemtheorie und die Educational-Governance-Theorie bilden die theoretische Grundlegung dieser Arbeit. Diese eröffnen den Raum für eine Untersuchung mit dem Fokus auf Interdependenzen – also auf wechselseitige Abhängigkeiten innerhalb der Kommunikation zwischen den einzelnen Ebenen des Bildungssektors – bzw. auf Interdependenzunterbrechungen in bzw. zwischen den einzelnen Ebenen des Bildungssektors. Theobald selbst versteht in seiner Arbeit Governance als Konzept zur Erfassung von Steuerungsprozessen (18).
Forschungsmethodisch orientiert sich das Projekt einerseits an einer induktiv ausgerichteten qualitativen Inhaltsanalyse – wobei die Versionen 2004 und 2016 des baden-württembergischen Fachplans Sport die Grundlage der Analyse bilden (88) – und andererseits an einer mündlichen Befragung, in Form eines leitfadengestützten Interviews. In diesem wurden LehrerInnen interviewt, die bereits mit dem neuen Bildungsplan arbeiten und Aussagen über die praktischen und didaktischen Veränderungen im Unterricht treffen sollen. Mit dem Ziel den LeserInnen einen Gesamtblick auf die verschiedenen Untersuchungsebenen – lokale Ebene (Unterricht); föderale Ebene (Bildungsplanreform); nationale Ebene („Empirische Wende“ im Bildungssystem); globale Ebene (Kompetenzorientierung) – innerhalb des Bildungssektors zu geben, ist die Wahl der beiden Forschungsmethoden durchaus nachvollziehbar. Obwohl es nicht Anspruch der Arbeit ist, einen Vergleich zu anderen Bildungsplänen auf (inter-)nationaler Ebene herzustellen, wäre doch die Erweiterung des zu untersuchenden Textkorpus auf Bildungspläne weiterer (Bundes-)Länder, schon wegen des im Vorwort dieser Arbeit durch Amos postulierten Anspruchs erziehungswissenschaftlich vergleichend vorzugehen, evtl. auch für Folgeprojekte wünschenswert.
In Kapitel 5 (108) wird der Forschungsstand zu vorhandenen Kompetenzmodellen zu überfachlichen Kompetenzen im Sportunterricht in Form einer systematischen Literaturrecherche aufgearbeitet. Der Autor kommt hier zu dem Schluss, dass die bisher bestehenden Taxonomien für überfachliche Kompetenzen uneinheitlich und nicht empirisch überprüft sind (124). Dennoch betont Theobald die besondere Bedeutung von Konzeptionen zu überfachlichen Kompetenzen im Sportunterricht. Die Ausführungen in diesem Kapitel können als erster Schritt in Richtung Bewusstwerdung dieses Forschungsbedarfs angesehen werden.
Die inhaltlichen Neuerungen des baden-württembergischen Bildungsplans von 2016 werden in Kapitel 6 (125) aufgezeigt. Hier wird sichtbar, dass die überfachlichen Kompetenzen (Reflexionskompetenz, Personalkompetenz, Sozialkompetenz, Selbstregulation) sowohl vom quantitativen Umfang als auch vom inhaltlichen Anspruch her in der Version von 2016 wesentlich intensiver berücksichtigt werden. Gerade in den Bereichen Selbstregulation und Reflexionskompetenz, so der Autor, ist eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung – z.B. bei den Themen Bewertung und Akzeptanz von Emotionen; Aufmerksamkeitsregulation; Selbstbild; Entwicklung eigener Leistungsmaßstäbe; realistische Zielsetzungen, u.a. – sichtbar. Auffällig bleibt für den Autor weiterhin, dass die Kompatibilität der neuen Bildungspläne mit theoretisch fundierten Kompetenzmodellen, seien sie noch so komplex, nicht vorhanden ist.
Kapitel 7 (152) beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Bildungsplanreform auf die Unterrichtspraxis. Der Autor kommt u. a. zu dem Schluss, dass bei den interviewten Lehrkräften (N=6) eine Tendenz in Richtung einer Mehrbeachtung von überfachlichen Kompetenzbereichen in Bildungsplänen zu erkennen ist (181). An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Evidenz der obigen Aussage durch die Befragung von mehr Lehrkräften wohl noch erhöht werden könnte. Die von Theobald ausgewiesene Tendenz hätte bei 12-15 Interviews (die bei mittelgroßen Forschungsprojekten durchaus angemessen sind) zu einer vollwertigen Erkenntnis geführt, zumal diese Erkenntnis unter Berücksichtigung der Zielstellungen der Arbeit von großer Bedeutung ist. Das mehr Interviews nicht zu weiteren Erkenntnissen geführt hätten (theoretische Sättigung) wäre an dieser Stelle nicht zu erwarten. Eine weitere Erkenntnis dieser Arbeit ergibt sich im Bereich der methodisch-didaktischen Umsetzung überfachlicher Kompetenzen. Der Autor führt an, dass sich die Lehrkräfte in ihrem Handeln sehr sicher fühlen das diese Sicherheit jedoch nicht auf den neuen Bildungsplan zurückzuführen ist. Ein entscheidendes Ergebnis der durchgeführten Interviews ist weiterhin die Einigkeit der befragten Lehrkräfte im Bereich des infrage zustellenden Nutzens von Bildungsplänen, wenn es um eine Veränderung der Unterrichtspraxis gerade im Bereich der Vermittlung von überfachlichen Kompetenzen im Sportunterricht geht (182). Diese Ergebnisse zeigen, dass eine Interdependenzunterbrechung zwischen der lokalen Ebene (Unterrichtsalltag) und der föderalen Ebene (bildungspolitische Entscheidungsträger) vorhanden ist. Die scientific community sollte, unter Berücksichtigung der obigen Ergebnisse, darauf bedacht sein, die Kommunikationsprobleme (Nichtbeachtung des Bildungsplans bei der Realisierung des Unterrichts) zwischen den einzelnen Ebenen des Bildungssektors aufzulösen.
In Kapitel 8 (184) werden die Ergebnisse der Arbeit umfangreich und gestützt auf weitere einschlägige Studien und Theorien zur Thematik diskutiert und in eine breite interdisziplinäre Kompetenzdebatte eingeordnet. Weiterhin werden unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus der qualitativen Inhaltsanalyse die Umsetzung der Bildungsreform; die Probleme der praktischen Implementierung neuer Kompetenzbereiche im Sportunterricht sowie das methodische Vorgehen und der Gültigkeitsbereich der Ergebnisse diskutiert.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Arbeit ihrem wissenschaftlichen Anspruch gerecht wird, indem sie besonders durch eine nachvollziehbare theoretische Verortung und eine logische Diskussion der Befunde überzeugt. In der Arbeit wird ein Erkenntnisinteresse seitens des Autors sichtbar, welches sowohl für die einschlägigen (Teil-)Disziplinen als auch für die Professionen – gerade in der gymnasialen Sportunterrichtspraxis – einen entscheidenden Erkenntnisgewinn zur Folge hat. Die hier vorliegende Publikation ist aus den genannten Gründen nicht nur für WissenschaftlerInnen, PädagogInnen und EntscheidungsträgerInnen in der Bildungspolitik relevant,sie kann auch als Grundlage für eine Verbesserung der Kommunikation (bzw. der Interdependenz) zwischen den einzelnen Professionen innerhalb des Bildungssektors gesehen werden.
EWR 17 (2018), Nr. 4 (Juli/August)
Ãœberfachliche Kompetenzen im Sportunterricht
Governance von Lerninhalten am Beispiel der Bildungsplanreform 2016 in Baden-Württemberg
Münster: Waxmann 2018
(212 S.; ISBN 978-3-8309-3760-9; 29,90 EUR)
Martin Goldfriedrich (Cottbus-Senftenberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Goldfriedrich: Rezension von: Theobald, Ulrich: Ãœberfachliche Kompetenzen im Sportunterricht, Governance von Lerninhalten am Beispiel der Bildungsplanreform 2016 in Baden-Württemberg. Münster: Waxmann 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093760.html
Martin Goldfriedrich: Rezension von: Theobald, Ulrich: Ãœberfachliche Kompetenzen im Sportunterricht, Governance von Lerninhalten am Beispiel der Bildungsplanreform 2016 in Baden-Württemberg. Münster: Waxmann 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093760.html