Häufig klaffen der (Menschen-)rechtsanspruch auf Bildung und die Wirklichkeit auseinander. ‚Bildung‘ wird in unterschiedlichen Auslegungen als zentrale Größe im migrationsgesellschaftlichen Prozess angesehen und dennoch herrscht in Bildungsinstitutionen eine erhöhte Diskriminierungs- bzw. Exklusionsgefährdung aufgrund von Minderheitenzugehörigkeit (98). Annette Korntheuer bearbeitet diese offenkundigen Schieflagen in einer explorativ-qualitativen Studie mit dem Fokus auf Fluchtmigration, in der zwei urbane Ballungszentren mit jeweils hohem Anteil an Neuzugewanderten, München und Toronto, anhand der Bildungsteilhabe junger Geflüchteter einander kontrastierend gegenübergestellt werden. Die Verwirklichung von Bildungsteilhabe von Geflüchteten erweist sich auch aktuell als mehrdimensionales und kontrovers diskutierter Topos, der in vielfältigen Referenzen zum politischen und gesellschaftlichen Tagesgeschehen aufgegriffen, aktualisiert und in seiner anhaltenden Relevanz bestätigt wird. Diesem Spannungsfeld nähert sich der Beitrag mit einem Ansatz, der vom Feld der international vergleichenden Bildungswissenschaft ausgeht und aus der Gegenüberstellung von Bildungsstrukturen und -erfahrungen von jungen Geflüchteten in beiden nationalen Kontexten Implikationen für die pädagogische Praxis in der Asylsozialarbeit und -bildung ableitet.
Nach einer kurzen Einführung widmet sich Korntheuer den „Theoretischen Bezugspunkten“ (I) ihrer Arbeit, die sich in die Unterkapitel „Der Bildungsbegriff: Eine Annäherung“ (I.1.), „Teilhabe im Bildungssystem“ (I.2.), „Fluchtmigration im Jugendalter“ (I.3.) und „Akkulturation und Integration von Flüchtlingen“ (I.4.) aufteilt. Zum Abschluss jedes Unterkapitels werden jeweils zentrale Forschungsfragen formuliert. Der Autorin geht es darum, problemzentrierte Perspektiven auf Flucht und Geflüchtete zu überwinden und stattdessen die Potentiale zur Bildung von Schutzmechanismen und Fördermöglichkeiten in den Blick zu rücken. Die Auslegung des Bildungsbegriffs folgt dem Ansatz der Critical Pedagogy in den theoretischen Ansätzen Wolfgang Klafkis und Paolo Freires und bildet das Fundament für einen direkten Vergleich zwischen kanadischem bzw. nordamerikanischem und deutschem bzw. europäischem Bildungssystem. Der Forschungsgegenstand wurzelt daher in einer Breite an terminologischen und interdisziplinären Schnittflächen (Bildung, Integration, Migration), aus der Korntheuer eine klare Definition von Bildungsteilhabe als an „anti-opressive frameworks“ gebundene und auf Lebenszeit ausgerichtete, gesellschaftskritische und selbstbestimmungszentrierte Bildungspraxis ableitet. Der Zugriff ermöglicht einen Einblick in äußerst vielfältige und heterogene Bildungserfahrungen junger Geflüchtete, auf die in dieser Rezension nur in Kürze eingegangen werden kann, und versäumt es auch nicht, einen Exkurs in formalisierte und oftmals exklusive und disparate Bildungswelten in Kriegs- bzw. Entwicklungsländern vorzunehmen. Mit Blick auf Teilhabe in den Bildungssystemen schildert die Autorin das Missverhältnis zwischen Meritokratie und universalem institutionellen Anschluss auch im Rückgriff auf anglo-amerikanische diskriminierungs- und rassismuskritische Debatten sowie Phänomene des strukturellen Rassismus (vgl. 46f.) bzw. der institutionellen Diskriminierung.
Korntheuer zeigt diese anhand der Rahmenbedingungen in der Geflüchtetenaufnahme in beiden Nationalkontexten auf und kritisiert dabei die weitgehende Abwesenheit internationaler Forschung zu jungen Geflüchteten. Sie charakterisiert Migrationsprozesse als „komplex, multikausal und multifaktoriell“ (59; 67ff.) sowie als mehrdimensionales Gefüge, zu dem eine wissenschaftliche Aufarbeitung, insbesondere der (widersprüchlichen) Ergebnisse der Auswertung von Fluchttraumata fehle. Das letzte Unterkapitel zielt darauf ab, die theoretischen Grundlagen der Konzepte von Akkulturation und Integration zu klären und sie auf die Situation der jungen Geflüchteten zu beziehen (vgl. 79). Gestützt wird sich hierbei v.a. auf die Betrachtung der Akkulturationsstrategien der Mehrheitsgesellschaft nach Berry (1997). Hier wird deutlich, dass „hybride Mehrfachidentitäten“ (82) besser in die als mutlikulturell etablierte nationale Identität Kanadas integriert werden können als das in Deutschland der Fall ist, wo vermehrt Assimilationsvorstellungen vorherrschen (83).
Im zweiten Kapitel kommt es zum „Vergleich der kontextuellen Bedingungen von Bildungsteilhabe in Toronto und München“. Dazu werden jeweils die Dimensionen Gesellschaftssystem (II.1.), Asylsystem (II.2.) und Bildungssystem (II.3.) dargestellt, abschließend geht die Autorin auf die jeweilige Spezifik der urbanen Lebenswelten in München und Toronto ein (II.4). Insbesondere beim Vergleich der Bildungssysteme wird Kanadas Vorbildcharakter (neben skandinavischen Modellen) deutlich gemacht, zum Beispiel durch ein bereits 1978 eingeführtes Resettlementprogramm, in dem Geflüchteten aus dem Ausland die Reise (z.B. aus Flüchtlingsunterkünften) nach Kanada und ihre Niederlassung finanziert werden. Zudem bilden die empirisch belegten durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Leistungsverläufe von zugezogenen Jugendlichen (vgl. 123) in Toronto im Vergleich zur hohen Korrelation zwischen Migrationshintergrund und schulischer Leistungsschwäche in Deutschland gegenteilige Ausgangsrealitäten für den Vergleich (vgl. 134f.).
Nach einem Zwischenfazit (Kapitel III) stellt die Autorin im Methodologiekapitel (IV) ihr qualitatives Forschungsdesign vor, das sich auf eine zweigeteilte Empirie – „Bildungsstrukturen“ (ermittelt auf der Basis von Interviews mit Expert_innen) und „Bildungserfahrungen“ (rekonstruiert auf der Grundlage von Interviews mit betroffenen Geflüchteten) – in enger Anlehnung an die Grounded Theory stützt. Die anschließend rekonstruierten Bildungsstrukturen (Kapitel VI) wirken zunächst recht schwammig, denn die Wechselwirkung der Fragen nach Bildungsmotoren und -hindernissen im individuellen biografisch-sozialen Gefüge erscheinen hyperkomplex. Doch die Vielzahl der Orte (in)formeller, non-formaler und formaler Bildung in beiden Stadtkontexten werden an dieser Stelle ausführlich kontrastiv erfasst und liefern in der verschränkten und verdichteten Zusammenfassung von Einzelaussagen nachvollziehbare Positionen zu Formen der In- und Exklusion in (jugend-)psychologischen, migrationssoziologischen und bildungspsychologischen Figurationen. Die herausgearbeiteten spezifischen Bildungsaspirationen, -erfahrungen und -verläufe von Geflüchteten werden fallübergreifend aufbereitet und rekonstruiert. Insbesondere hinsichtlich der integrativen Kraft gesellschaftsübergreifender Selbstverständnisse – wie Kanadas politischem Multikulturalismus, der sich neben kollektiven Identitätsverständnissen beispielsweise auch systematisch in medialen bzw. Rundfunkprogrammen, Schulcurricula, kultureller und Gedenkstättenarbeit niederschlägt, – gelingt hier an mehreren Stellen eine fundierte wissenschaftliche Rekonstruktion.
Im abschließenden Kapitel (VIII) wird insbesondere die Bedeutung informeller Lernprozesse in Communities, Peer Groups und sozialen Netzwerken der Asylsozialberatung als besonders relevant für Teilhabe und biographische Entwicklungsprozesse gekennzeichnet. Entlang der ausführlichen Entfaltung von Systemreferenzen in den Funktionssystemen Gesellschaft und Asylsystem, in denen Bildungsbarrieren und Exklusion durch Mechanismen der direkten und indirekten institutionellen Diskriminierung vielfach miteinander verwoben sind, gelingt der Nachweis der exponierten Stellung von Kommunen und Integrationsbehörden vor Ort für ihre mögliche Auflösung (vgl. 375f.). Dabei wird auf die reziproke Beeinflussung von Bildungsprozess und Rechtsstatus hingewiesen.
So sensibilisieren die Interviews für gruppenspezifische Bildungsfaktoren wie beispielsweise ausgeprägten Pragmatismus oder hohe Bildungsresilienz als mögliche Folge von Fluchterfahrung im Jugendalter. Im Zuge der Auswertung werden signifikante systemische Schwachstellen identifiziert, wie in München beispielsweise stigmatisierende Assimilationsforderungen hinsichtlich der Eingliederung in das formale Schul- und Berufswesen sowie eine mangelnde Inklusion im Sekundarbereich. Auch das „Nützlichkeitsparadigma“ wird als in München wesentlich präsenter als in Toronto (vgl. 366) charakterisiert. Diskriminierende Strukturen können aber in beiden Kontexten nachgewiesen werden, wobei die kritische Auseinandersetzung mit (institutioneller) Diskriminierung auf Organisationsebene nach Korntheuer in beiden Bezugsräumen noch unzureichend erfolgt. Vielmehr erscheint der Umgang mit Diskriminierungserfahrungen auf die individuelle Ebene verlagert zu werden, wo betroffene Geflüchtete diese (im Sinne einer Bildungsaufgabe) aktiv bearbeiten müssen (vgl. 367f.).
Nach Meinung der Rezensentinnen kann die Publikation, die sich auf bildungshistorische, kultur- und gesellschaftssoziologische und erziehungstheoretische Kontextualisierungen sowie auf juristische Grundlagen stützt, als wertvoller und grundlegender Beitrag zu aktuellen Bildungs- und Integrationsdiskursen im Zusammenhang von Flucht- und Asylpolitik gesehen werden, der eine Bandbreite an Forschungsfragen und -zugängen offen legt. Dabei erweist sich Kanadas in weiten Teilen gelingender Multikulturalismus als mögliches Vorbild zur Auflösung der tendenziellen Segregation in Deutschland, z.B. durch eine strategisch inklusivere Ausrichtung der Schulen und den Ausbau von Unterstützungssystemen. Auch in der Wertschätzung der informellen Bildung in Communities und sozialen Netzwerken, die in Toronto als Bildung „auf Augenhöhe“ und als potentieller empowerment-Faktor zur Stärkung der eigenen Resilienz sowie zum Glauben an Selbstwirksamkeit und als Organisationsentwicklungsfaktor etabliert ist, werden Unterschiede zum Münchner Modell deutlich. Das übliche ‚deutsche‘ „Mentoring“-Programm sei stärker von einem Machtgefälle und Assismilationsforderungen durchzogen und weniger von einer Orientierung am gleichberechtigen Dialog. Besonders zwei Ergebnisse erscheinen für die bildungswissenschaftliche Betrachtung von Fluchtmigration relevant: Zunächst wird der hohe Stellenwert des sorgfältig eruierten gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Kontexts zu Asyl- und Sozialarbeit deutlich gemacht, zum anderen wird die vielfältige Prozesshaftigkeit (geografisch, temporal, kausal) als Spezifikum der Fluchtmigration herausgearbeitet. Den Blick auf beide Aspekte empfiehlt die Autorin auch als wichtige Grundlage für die pädagogische Praxis, zum Beispiel in der Asylsozialarbeit. So können die Ergebnisse auch Praktiker_innen Anstöße bieten, um ihre eigenen strukturellen und institutionellen Verstrickungen zu reflektieren und Inspiration jenseits von Deutschland zu sammeln.
EWR 17 (2018), Nr. 3 (Mai/Juni)
Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge
Faktoren von Inklusion und Exklusion in München und Toronto
Münster: Waxmann 2016
(436 S.; ISBN 978-3-8309-3541-4; 44,90 EUR)
Lisa Schmidt und Sonja Langheinrich (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lisa Schmidt und Sonja Langheinrich: Rezension von: Korntheuer, Annette: Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge. Faktoren von Inklusion und Exklusion in München und Toronto. Münster: Waxmann 2016. In: EWR 17 (2018), Nr. 3 (Veröffentlicht am 06.07.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093541.html
Lisa Schmidt und Sonja Langheinrich: Rezension von: Korntheuer, Annette: Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge. Faktoren von Inklusion und Exklusion in München und Toronto. Münster: Waxmann 2016. In: EWR 17 (2018), Nr. 3 (Veröffentlicht am 06.07.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093541.html