Das Land Baden-Württemberg bezeichnet die Gemeinschaftsschule als eine „leistungsstarke und sozial gerechte Schule“ [1], in der die individuelle Förderung aller Schüler*innen im Mittelpunkt steht (vgl. ebd.). Die im Jahr 2012 in Baden-Württemberg eingeführte Schulform bietet eine Alternative zu dem dreigliedrigen Schulsystem und postuliert Chancengleichheit sowie die Akzeptanz von Heterogenität in Unterricht und Schule.
Die Herausgeber Lang-Wojtasik, Kansteiner und Stratmann, derzeit Hochschullehrer der Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten (Baden-Württemberg), thematisieren in ihrem Sammelband die pädagogischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gemeinschaftsschule und verfolgen das Ziel, Herausforderungen der letzten Jahre darzulegen und gleichzeitig Bemühungen in Richtung einer gerechteren Gesellschaft zu würdigen.
Die unterschiedlichen Beiträge setzen sich inhaltlich mit verschiedenen Aspekten und Einflussfaktoren auf die Gemeinschaftsschule sowie deren Entstehung auseinander.
Die ersten zwei Aufsätze befassen sich mit der historischen Perspektive der Schulpädagogik und den Entwicklungslinien der Gemeinschaftsschule. Dabei geben Lang-Wojtasik und Jacobs eine konzise Übersicht über erste Klärungsversuche der Bildung, basierend auf den Idealen Luthers, Comenius und seines Postulats omnes, omnia, omnio, den Bildungsbegriff Klafkis sowie aktuelle völkerrechtliche Ziele der UNESCO. Sie berücksichtigen dabei gegenwärtige Themen wie beispielsweise den Paradigmenwechsel von der Input- zur Output-Orientierung, die Kompetenzorientierung, die Diskussion über die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems sowie die Akzeptanz von Vielfalt und Chancengleichheit als Leitideen des Bildungswesens. Wiedenhorn legt seinem Beitrag über die Entwicklung der Gemeinschaftsschule eine diskursanalytische Perspektive zugrunde und thematisiert zusätzlich zur Entwicklung des Volksschulwesens u.a. die Empfehlungen des Bildungsrates sowie die Verteilung von Chancen durch die Schule als Institution.
Neben grundlegenden Beiträgen zur Begriffsklärung („Von der Inklusion zur Heterogenität und wieder zurück. Grundlegende Begriffe und Zusammenhänge mit schultheoretischem Anspruch“, Lang-Wojtasik, Schieferdecker) sowie Rückgriffe auf historische Entwicklungen, Theorien und deren Auswirkungen auf aktuelle Themen wie beispielsweise Inklusion („Reproduktion von Gesellschaft oder wie steht es mit der Chancengleichheit und Inklusion durch Gemeinschaftsschulen“, Sehrer), fokussieren zwei Artikel zudem internationale Sichtweisen.
Urabe analysiert die Gemeinschaftsschule aus japanischer Perspektive mit einem spezifischen Fokus auf Schüler*innen mit heterogenen Lernvoraussetzungen und der Frage der Inklusion. Er beschreibt das japanische Schulsystem metaphorisch als „eingleisig“ (46) im Gegensatz zu mehrgliedrigen Formen der deutschen Bildungslandschaft und befasst sich mit der Frage der Übergänge sowie der Allokationsfunktion von Schule. Unerwähnt bleiben die Thematisierung von sonderpädagogischen Maßnahmen sowie die Frage, wie Schüler*innen mit Behinderung lernen. Dieser Inhaltsbereich hingegen wird von Oza aufgegriffen, die über indische Aspekte des gemeinsamen Unterrichts von Schüler*innen mit und ohne Behinderung berichtet. Sie stellt den Behinderungs- und Inklusionsbegriff dar, beschreibt die bildungspolitischen und strukturellen Entwicklungen in Indien und fasst abschließend zentrale Punkte einer inklusiven Bildung (beispielsweise die Anpassung des Systems an das Kind statt der Anpassung des Kindes an das System) zusammen (91).
Weitere Kapitel des Buchs beziehen sich auf die Professionalität der Lehrkräfte, strukturelle Veränderungen sowie didaktische Besonderheiten in der Gemeinschaftsschule. Janssen konzentriert sich auf organisatorische Rahmenbedingungen von Schule und einer damit einhergehenden Lernkultur, in der die „Förderung thematischer Mit- und Selbstbestimmung sowie operative Selbststeuerung in Lernprozessen und/oder Unterricht“ (96) im Mittelpunkt steht. Er vertritt die These, dass es derzeitig an einer „strukturelle[n] Basis“ (106) für professionelle Kooperation von Lehrpersonen mangelt und präsentiert ein Modell, das die „Bedeutung der strukturellen und organisationalen Rahmenbedingungen für Innovation und Wandel des Lernens betont“ (107).
Ein weiterer Beitrag von Weibrecht über die „Neue Lernkultur in der Gemeinschaftsschule“ (113) beschreibt das Verhältnis der allgemeinen Didaktik („Wissenschaft vom Lehren und Lernen“, 114) und der Lehr-Lern-Forschung (Erkenntnisgewinnung „für die Scientific Community“, 114), die sich weitestgehend überschneiden und deren Verknüpfung unabdingbar sei (114). Die Autorin postuliert, dass inklusiver Unterricht durch eine heterogene Schüler*innenschaft in der Gemeinschaftsschule differenzierte Lernangebot und Spezialisierung benötigt (115), die durch eine neue – im Schulgesetz verankerte – Lernkultur unterstützt werde. Dies erscheint ihr jedoch nur mit einer entsprechenden Vergabe von Ressourcen, Expertise sowie geeigneten Rahmenbedingungen möglich. Eine reine Fokussierung auf Differenzierung für das gemeinsame Lernen hält Weibrecht für nicht ausreichend.
Kansteiner und Traub erörtern die neuen Herausforderungen, die mit einer Schüler*innenorientierung an der Gemeinschaftsschule und der daraus resultierenden geforderten Öffnung des Unterrichts einhergehen. Neben der Beschreibung verschiedener Dimensionen offenen Unterrichts und dem damit einhergehenden Grad der Mitbestimmung, reflektieren sie den Lernzuwachs der Schüler*innen sowie Differenzierungsmaßnahmen (bspw. Kompetenzraster und kooperative Lernformen) kritisch. Sie diskutieren zudem die Qualität von Aufgaben sowie Strukturierungs- und Unterstützungsmöglichkeiten beim Lernen.
Auch Schnebel thematisiert Herausforderungen für die Professionalisierung von Lehrkräften, die mit der Einführung der Gemeinschaftsschule einhergehen. Dazu gehören u.a. eine neue Schüler*innenschaft, ein angepasstes Lehrangebot, individualisiertes Lernen, neue konzeptionelle Anpassungen, Interaktions- und Kommunikationsprozesse sowie ein veränderter „Bildungs- und Erziehungsauftrag“ (143). Als Schlüsselaspekt sieht sie eine unterstützende Lernbegleitung durch die Lehrkräfte mit der Fähigkeit, Lernprozesse zu überwachen, Lernausgangslagen zu erkennen und entsprechend unterstützend einzugreifen. Abschließend präsentiert Schnebel Handlungs- sowie Entwicklungsvorschläge für die Ausbildung von Lehrkräften (bspw. diagnostische Kompetenz) und unterstreicht die Notwendigkeit von Coaching- oder Feedbackangeboten im Berufsleben.
Inhaltlich eröffnet der Artikel von Stratmann und Müller mit der Frage nach neuen Technologien im Unterricht eine weitere Perspektive. Sie stellen den offensichtlichen Mehrwert und mögliche Nutzungsbereiche neuer Medien vor, um Schüler*innen zu forschendem Lernen zu ermutigen und die Lernzeit mit Hilfe von Technologien effektiv zu nutzen.
Der letzte Beitrag von Schieferdecker beschreibt die Auswirkungen der Einführung der Gemeinschaftsschule auf gesellschaftlicher, organisatorischer und interaktionistischer Ebene sowie verschiedene Konflikte der Lehrkräfte hinsichtlich divergierender Erwartungen und Handlungsherausforderungen im Schulalltag. Er sieht die Gemeinschaftsschule als einen Ort, der einen „prädestinierte[n] Rahmen für einen innovativen Umgang mit Heterogenität und Pluralisierung“ (173) bietet.
Der Herausgeberband erörtert multiperspektivisch aktuelle Bestrebungen, gesellschaftliche sowie pädagogische Herausforderungen und Probleme im Kontext der Etablierung der Gemeinschaftsschule im baden-württembergischen Schulsystem. Der inhaltlich meist konsistente Aufbau der Beiträge eröffnet dem Rezipienten vielseitige Einblicke in aktuelle Strömungen der derzeitigen Schulpolitik in Baden-Württemberg. Wenig thematisch stringent wirken allerdings die beiden Artikel aus internationaler Perspektive (Japan und Indien). Der Versuch das deutsche Schulsystem (und damit auch die Gemeinschaftsschule) mit anderen Systemen zu vergleichen und über den deutschen Tellerrand hinaus zu blicken, erscheint sinnvoll, wird jedoch eingeschränkt durch das Fehlen zusätzlicher Sichtweisen internationaler Gemeinschaftsschulsysteme. Insgesamt bietet dieses Buch einen guten Überblick über verschiedene Themenbereiche, bildet den status quo der Gemeinschaftsschulentwicklung in Baden-Württemberg ab und eröffnet neue Perspektiven auf das mehrgliedrige Schulsystem.
[1] Land Baden-Württemberg: https://www.baden-wuerttemberg.de/de/bw-gestalten/schlaues-baden-wuerttemberg/schule/gemeinschaftsschule-faq/ (zuletzt geprüft:12.06.2017)
EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)
Gemeinschaftsschule als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung
Münster/New York : Waxmann 2016
(180 Seiten; ISBN 978-3-8309-3252-9; 29,90 EUR)
Sarah Laßmann (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sarah Laßmann: Rezension von: Lang-Wojtasik, Gregor / Kansteiner, Katja / Stratmann, Jörg (Hg.): Gemeinschaftsschule als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung. Münster/New York : 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093252.html
Sarah Laßmann: Rezension von: Lang-Wojtasik, Gregor / Kansteiner, Katja / Stratmann, Jörg (Hg.): Gemeinschaftsschule als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung. Münster/New York : 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093252.html