Mit seiner Dissertation reiht sich Thomas Kemper in eine Reihe von Beiträgen über die Bildungsdisparitäten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ein [1]. Sein Anliegen ist es, umfassender und differenzierter als bisher mit Hilfe der auf Summendaten basierenden Schulstatistik sowie Individualdatenstatistik vorzugehen. Ein gehöriges Potenzial der Individualdatensätze, die Informationen über die einzelnen Schülerinnen und Schüler beinhalten, sieht Kemper in der Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund nicht ausschließlich über die Staatsangehörigkeit zu ermitteln, was nämlich seit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 zu einer Unterschätzung der Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund führt. Die Individualdatensätze lassen eine differenzierte(re) Analyse zu, beispielsweise kann zwischen einzelnen Herkunftsgruppen, dem Zuzugsalter oder dem Generationsstatus unterschieden werden. Auch ist es möglich, mit Hilfe der Individualdaten die Bildungsdisparitäten an verschiedenen Stellen im Bildungssystem zu analysieren (etwa Klassenwiederholungen, Übergänge und Schulformwechsel). Neben diesen Möglichkeiten zeigt Kemper Herausforderungen und Hindernisse auf: So sind die Daten zwischen den Bundesländern nicht (immer) vergleichbar, und es können somit derzeit keine bundesweiten Analysen und Vergleiche durchgeführt werden. Zudem stehen die erforderlichen Daten nicht aus allen Bundesländern für Analysen zur Verfügung.
Insgesamt verfolgt Kemper zwei Ziele: Zum einen sollen Bildungsdisparitäten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund systematisch und umfassend aufgezeigt werden und zum anderen sollen das Potential sowie die Limitationen von Daten der amtlichen Schulstatistik bezüglich der Analyse von Bildungsdisparitäten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund dargestellt werden. Die zentrale Fragestellung lautet dabei: „inwiefern ein Zusammenhang zwischen den (Migrations-) Merkmalen und der Bildungsbeteiligung sowie dem Schulerfolg von Schülern mit Migrationshintergrund besteht“ (80).
Zu Beginn gibt der Autor einen Überblick über unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze bzgl. Bildungsdisparitäten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, welche jeweils mit einer Darstellung des empirischen Forschungsstandes ergänzt werden. Letztlich ist die Darstellung der Erklärungsansätze recht kurz und bleibt bis zum Ende wenig integriert in die eigenen Analysen.
Daran anschließend beginnen seine eigenen Analysen und Darstellungen. Zunächst zeigt Kemper anhand von Daten des statistischen Bundesamts auf, welche Unterschiede zwischen den besuchten Schulformen und den unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten bundesweit bestehen. Darüber hinaus wird die Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten differenziert dargestellt. Inwiefern die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 auf die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler nach Staatsangehörigkeit in der amtlichen Schulstatistik wirkt, stellt Kemper eindrucksvoll im Anschluss dar. Der Autor kann nämlich aufzeigen, dass der Anteil nichtdeutscher Grundschülerinnen und -schüler mit der Änderung des Staatszugehörigkeitsrechts in Deutschland gesunken ist. Dies trifft vor allem auf den Anteil türkischer Schülerinnen und Schüler zu. Dass das Merkmal Staatszugehörigkeit deshalb alleine nicht (mehr) ausreicht, um den Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zu erfassen, legt Kemper anhand weiterer Analysen mit den Individualdatensätzen der Bundesländer Rheinland-Pfalz, Bayern und Hessen offen. Dabei werden die Merkmale der KMK für die Erfassung eines Migrationshintergrundes zugrunde gelegt: keine deutsche Staatsangehörigkeit, nichtdeutsches Geburtsland oder nichtdeutsche Verkehrssprache. Die zu Hause gesprochene Sprache sowie die Staatsangehörigkeit sind am bedeutsamsten bei der Erfassung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund – das Herkunftsland dagegen am wenigsten. Allerdings kann von der zu Hause gesprochenen Sprache nur bedingt auf die Herkunft der Schülerinnen und Schüler geschlossen werden. Die erhobenen Merkmale beziehen sich jedoch ausschließlich auf die Schülerinnen und Schüler und enthalten somit keinerlei Informationen über deren Eltern, was nach Kemper zu einer Unterschätzung der Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund führt.
Im Anschluss stellt der Autor mit Hilfe des Individualdatensatzes des Landes Rheinland-Pfalz die Analysemöglichkeiten mit einem solchen Datensatz vor. Die zentralen Ergebnisse seiner Analysen zeigen unter anderem, dass die Bildungsbeteiligung zwischen den einzelnen Herkunftsgruppen erhebliche Unterschiede aufweist. So besuchen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund häufiger eine Förderschule und seltener ein Gymnasium als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund. Darüber hinaus kann aufgezeigt werden, dass ebenfalls das Zuzugsalter von entscheidender Bedeutung für den Schulerfolg von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ist. Auch geht mit dem Zuzugsalter die Verwendung von Deutsch als Familiensprache einher. Ebenso kann der Generationsstatus als entscheidend angesehen werden: die Mehrheit der Herkunftsgruppen in der zweiten Generation besucht gegenüber der ersten häufiger ein Gymnasium. Für die erste Generation konnte ein negativer Zusammenhang zwischen dem Zuzugsalter und dem Anteil des Gymnasialbesuchs dargestellt werden. Wird das Geschlecht der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt, wird deutlich, dass in den meisten Fällen die Schülerinnen eine höhere Gymnasialbeteiligung aufweisen können. Darüber hinaus werden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund häufiger nicht versetzt als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund. Ein Unterschied konnte zudem in Bezug auf den Schulerfolg aufgezeigt werden: So verlassen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund häufiger die Schule ohne (Haupt-)Schulabschluss. Jedoch zeigen sich bei Berücksichtigung des Migrationshintergrundes nach Herkunft der Schülerinnen und Schüler erhebliche Unterschiede zwischen ihnen.
Zusammenfassend zeigt die Dissertation umfangreiche und interessante Ergebnisse auf. Die klare Gliederung ermöglicht es, die einzelnen Kapitel separat zu betrachten, da diese jeweils in sich abschließend sind und somit einen Interessenfokus der Leserin oder des Lesers zulassen. Kemper kann empirisch aufzeigen, dass die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund nicht als homogene Gruppe angesehen werden können, sondern z.T. erhebliche Unterschiede zwischen ihnen hinsichtlich des Bildungserfolges bestehen und unterschiedliche Faktoren, wie das Zuzugsalter oder der Generationsstatus, ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Darüber hinaus nennt der Autor wesentliche Herausforderungen, die mit den derzeit bestehenden Individualdatensätzen einhergehen und zeigt Möglichkeiten auf, wie diese verändert werden könnten, um künftig beispielsweise eine bundesweite Darstellung der Bildungsdisparitäten von Schülerinnen und Schülern differenziert durchführen zu können. Insgesamt kann die Dissertation als eine spannende Ergänzung zu den bisherigen Beiträgen angesehen werden.
[1] Vgl. hierzu z.B. Stanat, P.: Schulleistungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Differenzierung deskriptiver Befunde aus PISA und PISA-E. In: Baumert, J. / Artelt, C. / Klieme, E. / Neubrand, N. / Prenzel, M. / Schiefele, U. / Schneider, W. / Tillmann, K.-J. / Weiß, M. (Hg.): PISA 2000 – Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich 2003, 234-260 sowie Diefenbach, H.: Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. Erklärungen und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)
Bildungsdisparitäten von Schülern nach Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund
Eine schulformspezifische Analyse anhand von Daten der amtlichen Schulstatistik
Münster / New York: Waxmann 2015
(372 S.; ISBN 978-3-8309-3223-9; 34,90 EUR)
Caroline Gröschner (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Caroline Gröschner: Rezension von: Kemper, Thomas: Bildungsdisparitäten von Schülern nach Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund, Eine schulformspezifische Analyse anhand von Daten der amtlichen Schulstatistik. Münster / New York: Waxmann 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093223.html
Caroline Gröschner: Rezension von: Kemper, Thomas: Bildungsdisparitäten von Schülern nach Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund, Eine schulformspezifische Analyse anhand von Daten der amtlichen Schulstatistik. Münster / New York: Waxmann 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093223.html