EWR 14 (2015), Nr. 5 (September/Oktober)

Ingo Holaschke
30 Jahre danach – Biographien ehemaliger Schülerinnen und Schüler der „Lernbehindertenschule“
Lebenszufriedenheit und beruflicher Werdegang
Münster / New York: Waxmann 2015
(324 S.; ISBN 978-3-8309-3197-3; 34,90 EUR)
30 Jahre danach – Biographien ehemaliger Schülerinnen und Schüler der „Lernbehindertenschule“ Die biographisch angelegte Arbeit, die zugleich als Dissertationsschrift an der Justus-Liebig-Universität eingereicht wurde, verfolgt rekonstruktiv die Lebensverläufe ehemaliger Sonderschüler/innen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ 30 Jahre nach Beendigung ihres Schulbesuchs. Als Besonderheit der Stichprobe gilt das Wiederauffinden einer Untersuchungspopulation, die in einer 1982 veröffentlichten Dissertation von Christiane Hofmann hinsichtlich ihrer sozialen Lage beforscht wurde: Von den damals untersuchten 53 Sonder- und 43 Regelschüler/innen konnten schließlich 21 ehemalige Sonder- und 16 ehemalige „Regel“schüler/innen wieder aufgefunden und für die vorliegende Untersuchung gewonnen werden, wobei zwölf ehemalige Sonderschüler/innen auch für ein biographisches Interview zur Verfügung standen. Zentrale Fragestellung der Untersuchung ist, inwiefern der Sonderschulbesuch auch über die Schulzeit hinaus als „kritisches Lebensereignis“ angesehen werden muss und inwiefern er die aktuelle Lebenszufriedenheit dadurch nachhaltig beeinflusst.

Als Erhebungsinstrumente nutzt der Autor einerseits den „Fragebogen zu Lebenszielen und zur Lebenszufriedenheit“ sowie biographische Interviews. Der Fragebogen richtet sich kontrastiv an beide Gruppen (ehemalige „Regel“- und Sonderschüler/innen), die Interviews nur an die ehemaligen Sonderschüler/innen. Die Ergebnisse sind dabei überraschend und bestätigen nur teilweise vorhandene Befunde zur Bildungs- und Berufskarriere ehemaliger Sonderschüler/innen. Dies mag – und hier ist Herrn Holaschke recht zu geben – allerdings auch an der positiven Selektion der Stichprobe liegen (280), denn gerade diejenigen, die sich für biographische Interviews zur Verfügung stellen, verfügen über vergleichsweise erfolgreichere „Karrieren“.

Zu den überraschenden Befunden zählt, dass die Befragten mehrheitlich einen Hauptschulabschluss im Nachgang des Ausscheidens aus der Sonderschule erlangen und über z.T. beachtliche Ausbildungsgänge (die Hälfte der interviewten Personen erwirbt einen Ausbildungsabschluss) und berufliche Karrieren verfügen, die eigenen Kinder nur zu einem sehr geringen Teil selbst wieder Sonderschüler/innen sind, hingegen mehr als drei Viertel etwa zu gleichen Teilen entweder die Haupt- oder Realschule bzw. ein Gymnasium besuchen.

Dennoch lässt sich der Sonderschulbesuch, laut Holaschke, letztlich als ein kritisches Lebensereignis identifizieren, denn er kommt für alle Befragten abrupt und ohne Vorankündigung und ohne Einzug vorgängiger präventiver Maßnahmen, wie z.B. zusätzliche Fördermaßnahmen in der Grundschule. Der Sonderschulbesuch verstärkt zudem die individuellen negativen Selbsteinschätzungen und die soziale Isolation in der Kommune und muss in die eigene Biographie mehr oder weniger mühsam integriert werden. Diese Integration geschieht unterschiedlich: einerseits durch Verschweigen, andererseits durch Hinzuziehung professioneller psychologischer Hilfe oder auch durch Übernahme der zugeschriebenen hilfebedürftigen Position. Insofern kann dieser Befund auch mit dem Ergebnis der Fragebogenerhebung zusammengebracht werden, welche auf vergleichsweise reduzierte Zukunftserwartungen und ein gemindertes Selbstwirksamkeitskonzept bei gleichzeitiger allgemeiner Lebenszufriedenheit der ehemaligen Sonderschüler/innen verweist.

Insgesamt wird mit dieser Arbeit der Befund der Schonraumfalle (Schumann) bestätigt, nach welcher die soziale Integration in die Sonderschule von innen heraus betrachtet zwar als positiv erlebt wird (gute Klassengemeinschaft, empathische und engagierte Lehrkräfte), in der eigenen Außenwahrnehmung aber gravierende exkludierende Folgen hat. Als biographische Kompensationsstrategie – und dieser Befund ist neu – wird bei allen befragten Personen der familiäre soziale Raum erfolgreich genutzt und gepflegt.

Interessant an dieser biografisch-rekonstruktiven Arbeit ist aber auch, dass die Überweisung in die Sonderschule ein offensichtlich komplexes Phänomen ist, das aus Sicht der Betroffenen strukturell an verschiedene Dimensionen anschließt: an häusliche Verwahrlosung, an Migrationserfahrung, an chronische Krankheit, alleinerziehende Elternteile, einen problematischen elterlichen Erziehungsstil oder auch Verhaltensauffälligkeit. Aus Sicht der Betroffenen erscheinen die Überweisungsgründe als nicht überzeugend und das Verfahren insgesamt als höchst intransparent. Dennoch werden die Sonderschulüberweisungen von den eigenen Eltern offenbar widerspruchsfrei hingenommen (185). Aber es wird auch deutlich, dass die Sonderschulüberweisung in den Kontext bereits vorhandener Exklusionserfahrungen in der Familie und/oder der Kommune eingeordnet werden muss, diese insofern kein singuläres Exklusionsereignis ist.

Trotz dieser interessanten Befunde bleibt unklar, warum sich die Studie der Mühe unterzogen hat, Schüler/innen einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Stichprobe ausfindig zu machen, ohne dann auch an deren Untersuchungsbefunde anzuschließen – letztere werden nicht einmal referiert. Zudem hätten Vergleichsdaten zur sozialen Lage vergleichbarer Populationen die Ergebnisse der Untersuchung etwas besser einordnen lassen. Denn so ist man auf etwas zufällige Interpretationen des Autors angewiesen, der „geringen Fernsehkonsum“ (177) oder „seltenen Kindergartenbesuchs“ der ehemaligen Sonderschüler/innen in den 1960er Jahren heraushebt (179) oder auch eine traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (z.B. 200f) sowie das Streben nach „bürgerlichen Familienformen“ (z.B. 212ff) der dann erwachsenen ehemaligen Sonderschüler/innen problematisiert.

Die vorliegende Studie, bei der er sich laut Klappentext irritierenderweise um eine Längsschnittstudie handelt, kann als wichtiger Beitrag einer biographisch-reflexiven Rekonstruktion der Lebensverläufe ehemaliger Sonderschüler/innen gesehen werden, die zwischen 1960 und 1966 in einem ländlichen Milieu geboren wurden. Damit fallen sie in die Zeit des Aufbaus des gegenwärtigen Sonderschul- bzw. Förderschulwesens, der nun auch den ländlichen Raum mit einbezieht (die Zeit des „Sonderschulwunders“ (Speck)) und zugleich in eine historische Epoche, in der es galt, am Ende des Industriezeitalters von Normal- auf Patchworkbiographien umzustellen. Diesen Aspekt arbeitet die Arbeit zwar teilweise heraus, verzichtet aber auf dessen historische Einordnung, so dass schließlich relativierend festgehalten werden muss, dass die interessanten Ergebnisse dieser Arbeit lediglich für den in der Untersuchung relevanten Zeitraum Gültigkeit besitzen. Inwiefern und auf welche Weise ehemalige Sonderschüler/innen im Jahr 2015 gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten erringen, kann nur Gegenstand aktueller Untersuchungen sein. Die Befunde von Ingo Holaschke können hier aber das Untersuchungsdesign instruieren: Wie transparent werden sonderpädagogische Überprüfungsverfahren von den Betroffenen erlebt? Inwiefern schließen diese Verfahren strukturell an spezifische Wahrnehmungen der Lehrkräfte an und inwiefern verhalten sich diese zu anderen Exklusionserfahrungen?

Trotz dieser Hinweise, die für eine soziologische Einordung der Befunde von Herrn Holaschke plädieren, liegt hiermit ein bedeutsamer und anregender Beitrag zu dem noch wenig entwickelten Bereich der Biographieforschung im Kontext von Behinderung vor.
Vera Moser (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Moser: Rezension von: Holaschke, Ingo: 30 Jahre danach – Biographien ehemaliger Schülerinnen und Schüler der „Lernbehindertenschule“, Lebenszufriedenheit und beruflicher Werdegang. Münster / New York: Waxmann 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093197.html