EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Christian Fischer / Marcel Veber / Christiane Fischer-Ontrup / Rafael Buschmann (Hrsg.)
Umgang mit Vielfalt
Aufgaben und Herausforderungen fĂŒr die Lehrerinnen- und Lehrerbildung
MĂŒnster: Waxmann 2015
(336 S.; ISBN 978-3-8309-3154-6; 39,90 EUR)
Umgang mit Vielfalt Der vorliegende Sammelband enthĂ€lt 19 BeitrĂ€ge in drei Kapiteln zu den Aufgaben und Herausforderungen fĂŒr die Lehrerinnen- und Lehrerbildung, die sich aus dem „Umgang mit Vielfalt“ im Bildungswesen ergeben. Er ist ein breitgefĂ€chertes Lesebuch, dessen regionale Verortung in MĂŒnster und in Projekten, die im Kontext der Lehreraus-, Lehrerweiter- und Lehrerfortbildung der WestfĂ€lischen Wilhelms-UniversitĂ€t MĂŒnster stehen, deutlich wird. Gleichwohl gibt es internationale BezĂŒge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung im deutschsprachigen Ausland wie auch BeitrĂ€ge namhafter Vertreterinnen und Vertreter des Fachdiskurses.

Das Kapitel „HeterogenitĂ€t und Lehrer/innenbildung“ beginnt mit dem um einen kurzen Nachtrag ergĂ€nzten Wiederabdruck eines Aufsatzes von Ewald Terhart aus dem Jahr 2010, der die ProfessionalitĂ€t von LehrertĂ€tigkeit betrifft. Hinsichtlich des Umgangs mit Vielfalt laufen Terharts AusfĂŒhrungen u.a. auf die interessante Frage hinaus „Auf wie viele Dimensionen und auf welche Bandbreite von SchĂŒlerheterogenitĂ€t sich Schule und Unterricht einstellen wollen und einstellen können“ (27). Die darauffolgenden zwei BeitrĂ€ge von Ewald Feyerer sowie von Alois Buholzer, Sandra Zulliger und Michael Zutavern gewĂ€hren einen Einblick in die Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Österreich und der Schweiz. WĂ€hrend es in Österreich um eine Verankerung von „Inklusiver Bildung“ als wichtigem Thema der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in konsekutiven BA- / MA-StudiengĂ€ngen geht und Feyerer diesbezĂŒgliche inhaltliche Herausforderungen und curriculare Empfehlungen skizziert, vollziehen sich die Bestrebungen zur Etablierung des Themas „HeterogenitĂ€t“ in der (deutschsprachigen) Schweiz vor dem Hintergrund einer Entregionalisierung sowie Tertiarisierung und Akademisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Johannes Mayr systematisiert „Überlegungen zum konstruktiven Umgang mit HeterogenitĂ€t von Lehramtsstudierenden und LehrkrĂ€ften“ und unterscheidet dabei zwischen schwer und relativ leicht verĂ€nderbaren Merkmalen, etwa einerseits Persönlichkeitsmerkmalen und andererseits KlassenfĂŒhrungskompetenz. Das erste Kapitel endet mit einer von Christian Fischer, David Rott und Marcel Veber zusammengestellten Übersicht ĂŒber „Kompetenzorientierte Lehrer/innenbildung durch Individuelle SchĂŒler/innenförderung“, wie sie die UniversitĂ€t MĂŒnster vorhĂ€lt. Die als vielversprechend angekĂŒndigten Effekte von „Praxisphasen in Inklusion – PinI“, „Forschungspraktikum zum Forder-Förder-Projekt – FFP“ und des Zertifikatskurses fĂŒr LehrkrĂ€fte „Experte Individuelle Förderung“ machen neugierig auf die angekĂŒndigten Veröffentlichungen von David Rott und Marcel Veber.

Zum Kapitel „Inklusion und Lehrer/innenbildung“ gehören sechs BeitrĂ€ge. Andreas Hinz stellt den Ansatz Inklusion als einen verĂ€nderten Umgang mit HeterogenitĂ€t dar und weist auf die mit einer womöglich zunehmenden SonderpĂ€dagogisierung dieses Ansatzes verbundenen Gefahren hin. Ihm ist zuzustimmen, wenn er auf den Unterschied zwischen grundlegenden Erörterungen von Inklusion einerseits und der Suche nach handlungsleitenden und -praktischen AnsĂ€tzen zum Umgang mit HeterogenitĂ€t andererseits hinweist und fĂŒr eine Balance zwischen beiden Polen wirbt. Katja Neuhoff rekapituliert die Entstehung der UN-Konvention ĂŒber die Rechte von Menschen mit Behinderungen und deren Bedeutung. Ihre sozialethischen Überlegungen gehen zwar nicht auf Schule und Unterricht im engeren Sinne ein, gleichwohl schĂ€rfen sie die Debatte um Inklusion und inspirieren zur Reflexion eines notwendigen Wandels des Bildungssystems. Die bundesdeutsche Lehrerfortbildung wird von Bettina Amrhein im Hinblick auf Inklusion beleuchtet. Als problematisch muss demnach angesehen werden, dass die „Differenzlinie der Behinderung“ (146) vornehmlicher Kristallisationspunkt fĂŒr Fortbildungen zu Inklusion ist und es insofern zu einer verengten Sicht auf Inklusion und (notwendige) Fortbildungen kommt. Einen Bogen von inklusiver Schulentwicklung zur Gesundheit von LehrkrĂ€ften zeigt Saskia Erbring mit dem Ansatz der Salutogenese auf. Sie begrĂŒndet, dass es sinnvoller ist Inklusion als Querschnittsthema denn als zusĂ€tzlichen Bereich der LehrertĂ€tigkeit anzusehen, da von letzterer Sichtweise vielfĂ€ltige Gefahren fĂŒr die Lehrergesundheit ausgehen. Hannah Krönung und Johannes Mand stellen Ergebnisse zweier kleinerer Studien aus Studienseminaren vor – einmal mit LehramtsanwĂ€rtern in Regelschulen und einmal solchen in Sonderschulen. So belegen sie die Bedeutsamkeit diagnostischer Kompetenzen von LehrkrĂ€ften und zugleich eine geringe und teils ĂŒberraschende AusprĂ€gung selbiger. Das Kapitel endet mit einem Bericht Reinhard StĂ€hlings zur jahrgangsĂŒbergreifenden Arbeit der von ihm geleiteten Grundschule Berg Fidel in MĂŒnster als einem Beispiel fĂŒr eine inklusive Schule.

Zu „DiversitĂ€t und Lehrer/innenbildung“ prĂ€sentiert das dritte Kapitel acht BeitrĂ€ge. Am Anfang steht der Wiederabdruck eines 2014 veröffentlichten und nun ĂŒberarbeiteten Handbuchbeitrags von Christian Fischer und Christiane Fischer-Ontrup zum „Umgang mit besonders begabten Kindern mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten“, der die Qualifizierungsformate des ICBF (Internationales Centrum fĂŒr Begabungsforschung) in der Lehreraus- und -fortbildung anpreist. Friedhelm KĂ€pnick und Ralf Benölken fokussieren anschließend den Kompetenzerwerb im Lehramtsstudium zu HeterogenitĂ€t im inklusiven Mathematikunterricht. Nach der bedeutsamen Unterscheidung von vertikaler (d.h. leistungsbezogener) und horizontaler (d.h. zugangs- und vorgehensbezogener) HeterogenitĂ€t argumentieren sie fĂŒr eine dementsprechende Unterscheidung zwischen einer Differenzierung im Unterricht nach der Menge bzw. dem Niveau einerseits und einer „natĂŒrlichen Differenzierung“ (222) mit offenen und komplexen Aufgaben andererseits. Das MĂŒnsteraner Projekt „Mathe fĂŒr kleine Asse“ ist als Enrichmentangebot darauf ausgerichtet, die teilnehmenden SchĂŒlerinnen und SchĂŒler ganzheitlich zu fördern und bei Studierenden nachhaltiges, aktiv-konstruktives (Er-)Lernen der natĂŒrlichen Differenzierung anzubahnen. Die folgenden zwei BeitrĂ€ge greifen Gender-Aspekte auf. Katja Kansteiner argumentiert, dass angehende LehrkrĂ€fte bereits frĂŒhzeitig Kompetenzen hinsichtlich einer geschlechtergerechten Schule entwickeln mĂŒss(t)en, um im Berufsalltag immer wieder die schwierige „Balance zwischen Entdramatisierung und Dramatisierung“ (244f) von Geschlecht herzustellen. Nils Neuber thematisiert „HeterogenitĂ€t im Schulsport“ bezogen auf „Chancen fĂŒr die Entwicklungsförderung von Jungen“. Es ist nachvollziehbar, wenn Neuber im Rahmen der Lehrerbildung die Bedeutung der Entwicklung „der individuellen ‚pĂ€dagogischen Haltung‘“ betont, die durch die „Reflexion des eigenen SelbstverstĂ€ndnisses“ (259; im Original hervorgehoben) ins Bewusstsein gerĂŒckt werden kann. Gleichwohl stellen sich bei der LektĂŒre dieser zwei BeitrĂ€ge aus Rezensentensicht die Fragen, inwiefern Neuber eine allzu starke „Dramatisierung von Geschlecht“ vornimmt und durch die Rede von „den“ Jungen – im Unterschied zu „den“ MĂ€dchen – die von Kansteiner angesprochene „WirkmĂ€chtigkeit der Zweigeschlechtlichkeit“ (243) zum Tragen kommt. Hier ließe sich diskutieren, inwiefern die „IndividualitĂ€t der Lernenden stĂ€rker in den Vordergrund“ (Kansteiner 244) gerĂŒckt werden könnte. Die verbleibenden vier BeitrĂ€ge gehen auf InterkulturalitĂ€t ein. Bei dem Beitrag von Sara FĂŒrstenau „Sprachliche Bildung als Handlungsfeld der Interkulturellen PĂ€dagogik“ handelt es sich um einen gekĂŒrzten Wiederabdruck eines Textes von 2011. Um die Entfaltung der Bildungssprache anzuregen und zu unterstĂŒtzen, ist nach FĂŒrstenau eine „langfristige Integration sprachlicher Bildung in den Fachunterricht“ (268) nötig, woraus sich Herausforderungen fĂŒr die Schul- und Unterrichtsentwicklung ergeben. Aus soziologischer Sicht geht Katrin SpĂ€te auf die „Diskussion um LehrkrĂ€fte mit und ohne Migrationshintergrund in der Bundesrepublik Deutschland“ ein. Anja Binanzer, Jana Gamper und Klaus-Michael Köpcke stellen die Evaluation eines DaZ-Förderprojektes in der Lehrerausbildung vor und thematisieren „Linguistische und affektive Anforderungen an LehramtsanwĂ€rterinnen und -anwĂ€rter“. Zuletzt berichten Rafael Buschmann und Farid Vatanparast von einem seit 2007 laufenden sozialpĂ€dagogischen Boxprojekt, das versucht, Lerntraining und Sport miteinander zu verknĂŒpfen.

Die Zusammenstellung der Texte dieses Sammelbandes ermöglicht eine kompakte LektĂŒre zu grundsĂ€tzlichen Anforderungen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Hinblick auf den Umgang mit Vielfalt sowie zu diesbezĂŒglichen AnsĂ€tzen, die seitens der UniversitĂ€t MĂŒnster bzw. in MĂŒnster bereits angegangen wurden.
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Fischer, Christian / Veber, Marcel / Fischer-Ontrup, Christiane / Buschmann, Rafael (Hg.): Umgang mit Vielfalt, Aufgaben und Herausforderungen fĂŒr die Lehrerinnen- und Lehrerbildung. MĂŒnster: Waxmann 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383093154.html