Bereits 1997 hat die KMK [1] – aufgrund der hohen Zurückstellungsquoten und der geringen Nutzung der vorzeitigen Einschulung und des damit verbundenen im internationalen Vergleich insgesamt hohen durchschnittlichen Einschulungsalters in Deutschland – Empfehlungen zum Schulanfang beschlossen, die darauf abzielen, die Anzahl an Zurückstellungen zu verringern sowie die Eltern zu ermutigen, die Möglichkeit einer vorzeitigen Einschulung ihrer Kinder zu nutzen. Durch eine Verlegung des Einschulungsstichtags sollte insgesamt das Schuleintrittsalter gesenkt werden. Nach den Ergebnissen von PISA 2000 wurde das Ziel der frühzeitigen Einschulung auch in die zentralen Handlungsfelder der KMK [2] mit einer gleichzeitigen Forderung nach einer besseren Verzahnung des vorschulischen und schulischen Bereichs aufgenommen.
Während eine Verlegung des Einschulungsstichtags zu einer Veränderung des durchschnittlichen Schuleintrittsalters eines gesamten Jahrgangs führt und alle Kinder desselben betrifft, handelt es sich sowohl bei einer Zurückstellung als auch bei einer vorzeitigen Einschulung um eine individuelle Entscheidung bzw. Anpassung. Diesen Unterschied stellt Katharina Kluczniok immer wieder deutlich heraus, zumal die beiden Begriffe gelegentlich vermischt werden und somit zu falschen Schlussfolgerungen führen. Die Autorin beschäftigt sich in ihrer Studie ausschließlich mit der vorzeitigen Einschulung, also der individuellen Entscheidung der Eltern, ihr Kind vor Erreichen des schulpflichtigen Alters einzuschulen. Sie ordnet diese den Bildungsentscheidungen zu und legt hierzu die Definition von Becker zugrunde: „Bildungsentscheidungen ergeben sich weniger aus routinemäßigem Verhalten, sondern bestehen vielmehr aus komplexen Entscheidungsprozessen, denen in der Regel mehr oder weniger umfassende Informationssuchen, selektive Informationsverarbeitung und darauf basierende Abwägungsprozesse vorausgehen.“ (9)
Trotz zahlreicher Untersuchungen zum Übergang finden sich bislang keine detaillierten Kenntnisse darüber, wie sich die elterliche Entscheidung bezüglich des Einschulungszeitpunktes von Beginn der Kindergartenzeit bis zum tatsächlichen Schulbeginn formiert und welche Determinanten den elterlichen Entscheidungsprozess für oder gegen eine vorzeitige Einschulung beeinflussen. Diese Forschungslücke zu schließen, ist das Ziel der Studie von Kluczniok.
Durch die Einbettung in die Langzeitstudie BiKS-3-10 (Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter) ist es der Autorin möglich, die Eltern und Erzieher/-innen von Beginn der Kindergartenzeit bis zum Schuleintritt zu begleiten und damit deren derzeitige Präferenz zum Einschulungszeitpunkt sowie deren Einstellungen zur Einschulung, Schule und zu den Fähigkeiten der Kinder zu mehreren Messzeitpunkten zu erfassen. Die Studie hebt sich durch ihre längsschnittliche Anlage von anderen (inter-)nationalen Studien zu diesem Thema ab, die sich auf eine retrospektive Erfassung der Angaben zur Wahl des Einschulungszeitpunktes sowie zu den damit in Zusammenhang stehenden Motiven beschränken.
Nach einer detaillierten Beschreibung der Einschulungspraxis, der Stichtagsregelungen und deren Entwicklung in Deutschland, erfolgt ein Überblick über das Einschulungsalter aus pädagogischer, politischer und wirtschaftlicher Sicht. Vergangene und aktuelle Modellvorhaben zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule sowie dessen Flexibilisierung werden skizziert. Verschiedene nationale und internationale Übergangsmodelle werden dargestellt und verglichen. Bei der detaillierten Analyse des Forschungsstandes werden neben Ergebnissen zur Wahl des Einschulungszeitpunktes und diese bedingende Merkmale auch Forschungsansätze und Ergebnisse zur Einschulung allgemein sowie zu den Auswirkungen eines unterschiedlichen Schuleintrittsalters berücksichtigt.
Auf der Grundlage entscheidungstheoretischer Modelle, Phasenmodelle der Entscheidung und ökologischer Kontextmodelle zum Übergang entwickelt Kluczniok zur Beantwortung des Forschungsdesideratums ein Modell zur Einschulungsentscheidung, das zeigt, „dass die Entscheidung für oder gegen eine vorzeitige Einschulung eine Bildungsentscheidung während der Kindergartenzeit des Kindes ist und in drei Phasen (Beginn, Mitte, Ende) unterteilt werden kann. [...] Als Entscheidungsträger fungieren die vier Kontexte Kind, Eltern, Kindergarten und Region“ (73). Auf Grundlage dieses Modells und des aktuellen Forschungsstandes leitet die Autorin schließlich relevante Aspekte für den Entscheidungsprozess ab und untersucht deren Bedeutsamkeit.
Kluczniok zeigt in ihrer Studie, dass die Einschulungspräferenzen der Eltern für oder gegen eine vorzeitige Einschulung im Verlauf der Kindergartenzeit instabil sind, sich also verändern und die Eltern sich erst nahe um den Einschulungszeitpunkt festlegen. Die Autorin weist nach, dass die elterliche Entscheidung für oder gegen eine vorzeitige Einschulung von strukturellen Merkmalen auf Seiten der Eltern sowie der Kinder – abgesehen vom Kindergarteneintrittsalter – unabhängig ist. Ebenso sind die berücksichtigten bildungssoziologischen Aspekte nicht besonders bedeutend für die Entscheidung. Einflüsse auf die Entscheidung haben dagegen die Einstellung der Eltern zur „Einschulung, Schule und Förderung, die familialen Anregungsprozesse und die kindbezogenen Fähigkeitseinschätzungen – ergänzt um die subjektiven Einstellungen und Fähigkeitseinschätzungen der Erzieherinnen“ (168f).
Aufgrund der gefundenen Ergebnisse schlägt die Autorin vor, die Eltern bei der Wahl des Einschulungszeitpunktes mehr durch Beratungsgespräche mit Erzieher/-innen und auch Grundschullehrer/-innen zu unterstützen sowie ihnen Anregungen zur Gestaltung der häuslichen Lernumgebung anzubieten. Zuletzt kommt sie zu dem Schluss, dass eine Vorverlegung des Einschulungsstichtags aufgrund zunehmender Zahlen an Rückstellungen und abnehmenden vorzeitigen Einschulungen nicht zu einer von der Politik gewünschten Senkung des Schuleintrittsalters führt. Deshalb plädiert sie dafür, stattdessen einen zweiten Einschulungszeitpunkt im Frühjahr zu ermöglichen und somit den Eltern bei ihrer Entscheidung mehr Flexibilität einzuräumen.
Über die Ergebnisse hinaus überzeugt das Buch auch durch die inhaltliche und formale Aufbereitung. So wird sowohl bei der theoretischen Einbettung als auch der Darstellung der eigenen Studie stets die Thematik der Untersuchung im Blick gehalten. Aktuelle Forschungsbefunde werden kritisch reflektiert dargestellt und entsprechend für die eigene Arbeit herangezogen. Ebenso werden die in Frage kommenden methodischen Analysen exakt beschrieben und die jeweiligen Vor- und Nachteile sorgfältig abgewogen. Lediglich bei der Darstellung der Untersuchungsvariablen und Instrumente verliert sich die sonst durchgängig gute und klar strukturierte Lesbarkeit etwas aufgrund der gewählten Darstellungsart. Eine ausgewählte Anzahl an Abbildungen und Tabellen sowie deren Qualität unterstützen den Leser.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es Kluczniok gelungen ist, die Forschungslücke zur elterlichen Entscheidung hinsichtlich einer vorzeitigen Einschulung und der diese bestimmenden Determinanten zu schließen. Allerdings muss jedoch festgehalten werden, dass die Ergebnisse – wie die Autorin selbst kritisch anmerkt – aufgrund der geringen Fallzahlen der Eltern, die eine vorzeitige Einschulung präferieren oder umsetzen, zwar für die Stichprobe belastbar sind, für eine Verallgemeinerung jedoch einer weiteren Absicherung bedürfen. Dennoch liefert die Untersuchung sowohl für die im Umfeld des Übergangs tätigen Pädagog/-innen als auch für Bildungspolitiker/-innen und Wissenschaftler/-innen interessante und bedeutende Ergebnisse sowohl für den pädagogischen Alltag als auch für bildungspolitische Überlegungen.
[1] Kultusministerkonferenz (1997): Empfehlungen zum Schulanfang. Beschluss vom 24.10.1997. Online unter: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1997/1997_10_24-Empfehlung-Schulanfang_01.pdf. Stand: [05.01.2014]
[2] Kultusministerkonferenz (2002): PISA 2000 - Zentrale Handlungsfelder. Zusammenfassende Darstellung der laufenden und geplanten Maßnahmen in den Ländern. Online unter: http://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2002/massnahmen.pdf. Stand: [05.01.2014]
EWR 13 (2014), Nr. 1 (Januar/Februar)
Die vorzeitige Einschulung
Eine empirische Analyse zum Verlauf und zu Determinanten der Einschulungsentscheidung
Münster: Waxmann 2012
(224 S.; ISBN 978-3-8309-2674-0; 29,90 EUR)
Sonja Dollinger (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sonja Dollinger: Rezension von: Kluczniok, Katharina: Die vorzeitige Einschulung, Eine empirische Analyse zum Verlauf und zu Determinanten der Einschulungsentscheidung. Münster: Waxmann 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092674.html
Sonja Dollinger: Rezension von: Kluczniok, Katharina: Die vorzeitige Einschulung, Eine empirische Analyse zum Verlauf und zu Determinanten der Einschulungsentscheidung. Münster: Waxmann 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092674.html