EWR 13 (2014), Nr. 4 (Juli/August)

Bianca Roters
Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung
Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität
(Studien zur International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft Band 12)
MĂĽnster: Waxmann 2013
(328 S.; ISBN 978-3-8309-2662-7; 34,90 EUR)
Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung Ein Vierteljahrhundert nach dem "reflective turn" in der LehrerInnenbildung ist der Titel des Buches vielversprechend. Eine empirische Studie zur Frage der Professionalisierung durch Reflexion könnte einen Beitrag dazu leisten, das vielzitierte Konzept der Reflexion, das inzwischen den Charakter einer unverbindlichen Einigungsformel in der LehrerInnenbildung gewonnen hat, auf ein empirisches Fundament zu stellen. Die international vergleichende Perspektive, die die Autorin dabei anstrebt, erhöht den Reiz zusätzlich.

Die Arbeit nimmt den Ausgangspunkt bei der bildungspolitischen Forderung zur Professionalisierung der LehrerInnenbildung durch Reflexion und setzt sich im ersten Kapitel zunächst mit den unterschiedlichen Diskurstraditionen und Begriffsbedeutungen von Profession, Professionalität und Professionalisierung auseinander. Dabei werden erhebliche Differenzen in den Diskursen in Deutschland bzw. den USA sichtbar. Diese Differenzen werden auch im zweiten Kapitel anhand der systematischen Aufarbeitung der Reformvorschläge zur LehrerInnenbildung der vergangenen 20 Jahre in beiden Kontexten weiter verfolgt und inhaltlich ausgeschärft. Den Stellenwert und die Konzeptualisierung von "Reflexion" arbeitet die Autorin in den jeweiligen Systemen in ihrer Breite deutlich heraus. Bezeichnend ist dabei die Feststellung, dass Reflexion im deutschen Kontext je nach Quelle höchst divers als Selbstreflexion, fachbezogene Reflexion, analytische Reflexion und Reflexion empirischer Befunde beschrieben wird, während im angloamerikanischen Diskurs das Schönsche Diktum des "reflective practitioners" den Stellenwert eines Leitbildes gewonnen zu haben scheint.

Dass die Fragestellung der Autorin ihren Ausgangspunkt in vorwiegend bildungspolitischen Verlautbarungen zur LehrerInnenbildung setzt, wird an dieser Stelle kritisch angemerkt. Die Eigengesetzlichkeit und kategoriale Differenz von bildungspolitischer Programmatik und Reformrhetorik darf aus Sicht der Lehrerbildungsforschung in diesem Zusammenhang nicht aus dem Blick geraten. Insbesondere in Zeiten sog. „neuer Steuerung im Bildungswesen" gilt es, die Prämissen und Absichten solcher Verlautbarungen z. B. unter governancetheoretischen Gesichtspunkten zu befragen. Gerade bei einer bildungspolitischen Forderung wie der nach „Reflexion" muss die Frage gestellt werden, inwieweit damit nicht eine einseitige Verantwortungsdelegation in Bezug auf die Qualität des Lehrerhandelns an die individuelle Person verbunden ist, und die Frage nach staatlicher Unterstützung und tragfähigen institutionellen Rahmenbedingungen systematisch Gefahr läuft aus dem Blick zu geraten.

Im dritten Kapitel verortet die Autorin die Frage nach der Bedeutung von Reflexion für die Professionalisierung von LehrerInnen in der wissenspsychologischen Expertiseforschung und greift auf das fünfstufige Novizen-Experten-Modell von Dreyfus und Dreyfus zurück, eine Entscheidung, die im wissenschaftlichen Kontext der Autorin durchaus Tradition hat, eine substanziell inhaltliche Begründung für diese Entscheidung und eine Auseinandersetzung mit der begrifflichen Differenz zwischen Expertise und Professionalität auch unter Rückgriff auf andere Diskurslinien zur Lehrerprofessionalisierung wird jedoch nur wenig geführt. Die Autorin trägt der Tatsache Rechnung, dass im erwähnten Novizen-Expertenmodell Reflexion keine besonders prominente Kategorie ist, und dass der Expertenstatus vielfach gerade durch die Abwesenheit derselben charakterisiert wird, und führt Shulman als weiteren Bezugspunkt ein, bei dem Reflexion einen höheren Stellenwert einnimmt. Die Nähe der Shulmanschen Argumentation bezüglich Ungewissheit und Begründungsverpflichtung des Lehrerhandelns zu strukturtheoretischen Positionen der Professionalisierung wird von der Autorin nicht in Betracht gezogen. In Annäherung an die empirischen Teile der Arbeit referiert die Autorin die Reflexionsmodelle von Dewey und Schön, bevor sie die (wenigen) empirischen Arbeiten zur Reflexion darstellt.

Dass Reflexion in der Summe eine bedeutsame Kategorie für die LehrerInnenbildung darstellt, und dass es daher hochschuldidaktisch geboten ist, Reflexionsgelegenheiten für Studierende in der ersten Phase bereitzustellen, ist die konkrete Konsequenz und Ausgangslage für die empirische Untersuchung. Diese besteht aus drei Teilaspekten: Neben einer Dokumentenanalyse der institutionellen Rahmenbedingungen und Studienordnungen an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität werden in beiden Kontexten Experteninterviews geführt sowie studentische Reflexionen aus Lerntagebüchern und Portfolios analysiert. In letzterem Untersuchungsaspekt wird die auch fachdidaktische Ausrichtung der Arbeit besonders sichtbar, denn die Reflexionen werden neben den Aspekten der Orientierung an den Lernenden und fach- wie forschungsbezogenen Wissens explizit auch auf Aussagen über den fremdsprachlichen Unterricht hin analysiert. Neben der Dokumentenanalyse werden die Interviews und die studentischen Texte inhaltsanalytisch ausgewertet, die Inhalte der studentischen Texte wird dann zu Typen verdichtet. Die Vorgehensweise der Autorin kann dabei als subsumptionslogisch gekennzeichnet werden. Drei Aspekte werden jeweils zunächst in zwei Ausprägungen erfasst, die im Verlauf der Untersuchungen zu drei Ausprägungen erweitert werden. Diese beschreiben mit "deskriptiv", "instrumentell" und "produktiv" Qualitätsniveaus studentischer Reflexion.

Als zentrale Ergebnisse arbeitet die Autorin heraus, dass Reflexion in beiden Universitäten eine relevante semantische Figur für die Lehrerbildung darstellt und dass studentische Forschung, wenn auch in etwas unterschiedlichem Zuschnitt, als Mittel betrachtet wird, diese zu fördern. Dass die Daten zudem im Kontext schulpraktischer Studien erhoben wurden, schafft auch hier die Möglichkeit des Vergleichs. Im Vergleich der Interviewdaten wird in der US-amerikanischen Universität eine höhere "Reflexions-Awareness" sichtbar, das Reflexionsverständnis der deutschen befragten Lehrenden scheint eher implizit. Die analysierten Reflexionsniveaus der Studierenden unterscheiden sich hingegen in den fallbezogenen Ausprägungen nicht maßgeblich. Bis auf eine Person der insgesamt 19 Fälle (9 in Deutschland, 10 in den USA) sind für die Aussagen jeder Person alle drei Qualitätsniveaus identifizierbar, allerdings in zum Teil recht unterschiedlichem Ausmaß. Dieser Befund führt zur Entwicklung der bereits angedeuteten Typologie, in der schließlich 5 Subtypen der Novizen, angefangen vom "deskriptiv-pauschalisierenden" bis zum "transformativ-reflexiven" Novizen identifiziert werden. Die Arbeit endet mit programmatischen Aussagen über hochschuldidaktische Möglichkeiten zur Steigerung studentischer Reflexivität.

Die Autorin hat eine inhaltlich und empirisch breit angelegte Arbeit vorgelegt. Diese Breite führt sie jedoch in eine Art "Bandbreiten-Fidelitäts-Dilemma", in dem forschungspragmatisch die Tiefe der Auseinandersetzung unter Druck gerät. Die Dokumentenanalyse außer Betracht lassend, bleibt die Analyse der Interviews der Hochschuldozierenden blass. Den größten Raum nehmen zu Recht die studentischen Texte ein, sind sie doch der unmittelbarste Zugriff auf das Konstrukt "Reflexion". Die Ausschnitte des Materials, die in den Ankerbeispielen sichtbar werden, lassen jedoch Zweifel am forschungsmethodologischen Zugang aufkommen. Die kurzen Ausschnitte, die als Anker- und damit eigentlich ja auch als "Parade"-Beispiele für die Kategorien aufgeführt werden, zeigen in sich eine semantische Vielschichtigkeit und Komplexität, die die schlichte Zuordnung zu einer Kategorie fragwürdig werden lassen. Die Autorin hat mit der Bestimmung der Interraterreliabilität und der Prüfung der Inhaltsvalidität qua Expertenrating zweifelsfrei alle formal erforderlichen Schritte unternommen, um die Daten zu validieren. Die Skepsis, inwiefern sich die Vielfalt spontan generierter Texte jedoch in eine sehr überschaubare Anzahl von Kategorien bringen lässt, bleibt.

Das Ergebnis, dass 18 von 19 Studierenden, wenn auch in unterschiedlichen Anteilen, alle drei Reflexionsniveaus erreichen, ist eine weitere Fragwürdigkeit in den Ergebnissen, macht es ja deutlich, dass nahezu alle Studierenden in der Lage sind, auch "produktiv" zu reflektieren. Dass sie dies nicht konsequent tun, hat möglicherweise weniger mit einer Typik zu tun, als vielmehr damit, dass ihnen die Anforderung nicht von Beginn an deutlich wurde. Als zentrales Distinktionskriterium der "instrumentellen" zur "produktiven" Ausprägung erhebt die Autorin nämlich die Formulierung von Handlungsalternativen. Dieses Kriterium ist forschungspragmatisch nachvollziehbar, weil es eine einfache Unterscheidung zulässt; die Interdependenz zwischen erlebter Situation und reflexivem Text hingegen vermag es nicht zu berücksichtigen. Bei der Beobachtung von fremdem Unterricht, wie sie im Untersuchungszeitraum bei den Studierenden wohl häufig vorkam, ist die nachträgliche Entwicklung von Handlungsalternativen keineswegs erforderlich, denn der bzw. die reflektierende Studierende ist systematisch nicht in der Position, den Unterricht zu wiederholen oder zumeist auch nur fortzusetzen. Es kann also subjektiv durchaus sinnvoll sein, andere Aspekte in den Blick zu nehmen. So laboriert diese Untersuchung mit einem Grunddilemma der Beforschung von Reflexion: Wenn die Erwartungen an die Studierenden intransparent sind, lassen die evozierten empirischen Daten keine Aussage über das Reflexionsvermögen als Potential der Studierenden zu, sondern zeigen lediglich das, was den schreibenden Personen situativ in den Sinn kam. Transparenz in den Erwartungen hingegen (etwa durch die Aufforderung, Begründungen oder Handlungsalternativen zu formulieren) führt zu einer Präkonfiguration der Ergebnisse. Der subsumptionslogische Zugang verstellt weiterhin den Blick auf ein wirklich spannendes Phänomen der Untersuchung, das die Autorin zwar berichtet, aber nicht verstehend elaborieren kann: Viele Aussagen der deutschen Studierenden sind von einer spezifischen Form kritischer Distanz gegenüber den beobachteten Lehrpersonen geprägt, die als überheblich bis vermessen gekennzeichnet werden kann. Im US-amerikanischen Kontext ist dies nicht der Fall. Die Subsumption dieser Aussagen auf die "deskriptive Stufe" wird diesem Phänomen nicht hinreichend gerecht.

Jenseits der forschungsbezogenen Anfragen wäre es wünschenswert gewesen, die konkreten Aufforderungen, Leitfragen oder "Prompts" nachvollziehen zu können, die die studentischen Reflexionen angeleitet haben.

Insgesamt ist die Monographie von Bianca Roters aber auch durch die klare Struktur und flüssige Sprache ein gelungener Versuch, den allgegenwärtigen Reflexionsanspruch in der LehrerInnenbildung mit empirischen Daten zu kontrastieren und damit die Lücke zwischen Programmatik und tatsächlicher Wirkung ein wenig zu schließen.
Tobias Leonhard (Solothurn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tobias Leonhard: Rezension von: Roters, Bianca: Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung, Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität (Studien zur International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft Band 12). MĂĽnster: Waxmann 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092662.html