


Bei dem von der „Werkstatt Alltagsgeschichte“ herausgegebenen Band handelt es sich um die kritische Edition von Aufsätzen von Fürsorgezöglingen. Sie entstanden Ende der 1920er Jahre auf Initiative des Publizisten und Theaterregisseurs Peter Martin Lampel während dessen Hospitationszeit in der Berliner Erziehungsanstalt Struveshof. Seit Mitte der 1920er Jahre hatte eine ganze Reihe von Anstaltsrevolten und -skandalen für öffentliches Aufsehen gesorgt; sie warfen Schlaglichter auf die Missstände in den Einrichtungen der Fürsorgeerziehung. Die von autoritären wilhelminischen Traditionen geprägte Praxis der staatlichen Zwangserziehung war in eine offene Krise geraten. Lampel – Mitglied des sich als zeitkritisch begreifenden Literatur- und Theaterbetriebes – verarbeitete die Aufsätze der Jugendlichen in geglätteter Form in seinem Aufsehen erregenden Buch „Jungen in Not“ von 1928 und ein Jahr später in seinem vielgespielten Theaterstück „Revolte im Erziehungshaus“. Beide trugen zur Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber den vielerorts skandalösen Zuständen bei – interessanterweise eine Parallele zu den Recherchen und den sich anschließenden kritischen Publikationen Ulrike Meinhofs über die bundesdeutsche Heimerziehung über 40 Jahre später [3].
Der vorliegende Band ist das beachtenswerte Ergebnis eines studentischen Editionsprojektes, das fachlich durch den Historiker Martin Lücke begleitet wurde. Es findet sich zunächst eine ausführliche Einleitung mit formalen und inhaltlichen Überlegungen zur Quellenkritik und die Vorstellung des Quellenbestandes sowie der Editionsprinzipien. Der zweite Teil umfasst die insgesamt 60 Aufsätze der 36 jugendlichen Autoren, die nach Textgattung und -inhalt gegliedert sind. Neben Lebensläufen und Erfahrungsberichten sind Gedichte und Fantasiegeschichten zu finden. Darüber hinaus wurden auch einige Berichte und Beobachtungen Lampels aufgenommen.
Die edierten Aufsätze selbst wurden jeweils mit einem textkritischen Apparat, in dem u.a. die verschiedenen Überarbeitungsstufen deutlich werden, und einem Sachapparat ausgestattet. Letzterer besticht durch die Erläuterung zeittypischer auch umgangssprachlicher Begriffe, aber auch durch Hinweise zu auftauchenden Orten, Straßen und Regionen. Wiederkehrende Themen der Aufsätze sind Kindheiten in prekären sozialen Verhältnissen, vielfältige Gewalterfahrungen in verschiedenen Kontexten, so z.B. in der Herkunftsfamilie, in den Anstalten der Fürsorgeerziehung aber auch im Verhältnis der Jugendlichen untereinander. Die Erziehung in Struveshof wird nicht als unterstützend bei der Bewältigung des eigenen Lebens beschrieben, sondern als Ort, an dem die Jungen im Kontakt mit devianten Mitzöglingen erst recht „verdorben“, in einem strengen Anstaltsregime entrechtet und so ihrer Jugend beraubt werden, worauf auch das Zitat im Titel verweist.
Bislang sei – so Martin Lücke in der Einführung – vor allem die Wirkungsgeschichte der Zöglingsaufsätze Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Betrachtungen gewesen. Lampel selbst sei es bei seinen Veröffentlichungen eher „um die möglichst publikumswirksame Aufarbeitung des gesammelten Materials“ (12f), denn um eine möglichst originalgetreue Wiedergabe der Originaltexte gegangen. Die unklare nachträgliche Bearbeitung der Aufsätze durch Lampel habe den Zugang zum eigenen Quellenwert der Texte verstellt. Anliegen der Herausgeber ist es nun, durch die Wiederherstellung ihrer eigenen, ungeglätteten Sprache und das Aufzeigen der nachträglichen Überarbeitungsschritte die Jungen als Autobiographen fassbar zu machen (14). Bei der Durchsicht der edierten Texte wird deutlich, dass die Überarbeitungen durch Lampel vielfach in einer vorsichtigen Anpassung der Rechtschreibung bestanden, ohne den Sprachduktus der Jugendlichen grundlegend zu verändern. Für die Erschließung der Texte setzen sich Nora Bischoff und Martin Lücke mit quellentypologischen Fragen auseinander und ziehen hierbei die Konzepte des Selbstzeugnisses und des Ego-Dokumentes heran, um daraus abzuleiten, welche quellenkritischen Aspekte bei der Frage nach der Authentizität der Quellen zu berücksichtigen sind. Hier sei vor allem danach zu fragen, welchen Einfluss die Zugehörigkeit der Jungen aus Struveshof zur sozialen Gruppe der Fürsorgezöglinge hatte, aber auch welcher Schreibkonventionen, welcher Formalisierungen und Stilisierungen sie sich bedienten. Darüber hinaus wird gefragt, inwiefern überhaupt durch Ego-Dokumente eine Annäherung an den Autobiographen selbst möglich ist (20ff). Ein unauflösbares Problem bleibt jedoch die Unklarheit über die konkreten Umstände der Texterstellung. Das betrifft vor allem den Schreibauftrag Lampels und damit verbunden die Frage, ob die Jungen wussten, dass ihre Texte für eine Veröffentlichung mit dem Ziel, die Missstände in der Fürsorgeerziehung deutlich zu machen, genutzt werden sollten (45).
Die Aufsätze sind über die Geschichte der Jugendfürsorge hinaus vor allem in geschlechtergeschichtlicher Hinsicht von Interesse. Indem die Jugendlichen Texte über sich und ihre alltäglichen Erfahrungen verfassten, konstruierten sie ihre biographische Identität, die auch als geschlechtliche Identität gelesen werden kann. Nicht zuletzt floss hier auch ein zeittypisches Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit ein (19). Ein besonderer Mehrwert der Aufsätze liegt darin, dass hier Betroffene der Fürsorgeerziehung in der Weimarer Republik selbst und zwar nicht retrospektiv, sondern erfahrungsnah berichten – ein Umstand mit großem Seltenheitswert, was im Übrigen auch auf die schriftlichen Quellenüberlieferungen zur Fürsorgeerziehung nach 1945 zutrifft.
Die einleitenden Passagen geben auch für einen im kritischen Umgang mit historischen Quellen Ungeübten eine gute methodische Einführung. Für den nicht mit dem Themenkreis der Entstehung der staatlichen Zwangserziehung im Kaiserreich und ihrer Entwicklung in der Weimarer Republik vertrauten Leser finden sich jedoch nur sehr knapp gehaltene Informationen zu den institutionellen Rahmenbedingungen der Fürsorgeerziehung. Dieser Umstand überrascht angesichts der Fülle der zur Verfügung stehenden Forschungsliteratur zum Thema. Denn nur vor dem Hintergrund des Wissens um die Problematik der Fürsorgeerziehung in der Weimarer Republik lassen sich die Einschätzungen über die Prägung der Texte durch die normierenden Erfahrungen in der öffentlichen Erziehung, die die Autor/-innen betonen, überhaupt vornehmen. Allerdings werden auf der konkreten Anstaltsebene Rahmenbedingungen des Lebens in Struveshof auf der Grundlage weiterführenden Aktenstudiums präsentiert. Der Band eröffnet zweifellos bemerkenswerte Perspektiven auf die Erfahrungen der von der Jugendfürsorge Betroffenen und erweitert den Quellenfundus zur Jugendfürsorge in der Weimarer Republik um einen wichtigen Bestand.
Matthias Frölich erarbeitete den vorliegenden Quellenband zur Geschichte der Heimerziehung in Westfalen während seiner Zeit als Volontär beim Institut für westfälische Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe [4]. Der Band soll einen quellengeleiteten Einstieg in die Thematik im Allgemeinen ermöglichen und darüber hinaus die verschiedenen Ebenen, auf denen der Landschaftsverband für die Heimerziehung in Westfalen verantwortlich war, beleuchten (44). So war der Verband über das dort angesiedelte Landesjugendamt Träger der Öffentlichen Erziehung, das heißt der vormundschaftsgerichtlich angeordneten Fürsorgeerziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe. Außerdem fungierte er als Träger von vier Erziehungsheimen. Die meisten Heimplätze stellten aber – wie in anderen Bundesländern auch – Heime in konfessioneller Trägerschaft (17ff). Nach 1961 war der Verband dann auch für die institutionelle Beaufsichtigung und Kontrolle aller Heime im Rahmen der Heimaufsicht zuständig (6f).
Der Dokumententeil des Bandes bietet eine überzeugende Auswahl von Texten zu den Heimen des Landschaftsverbandes und zu den konfessionellen westfälischen Heimen. Frölich gliedert die ausgewählten Dokumente zum einen chronologisch anhand prägnanter, vor allem auch rechtlicher Entwicklungen der Jugendfürsorge: Die Untergliederung verläuft von der Nachkriegszeit, über erste Modernisierungstendenzen in der Heimerziehung bis zur Durchsetzung der nicht zuletzt durch „68“ vorangetriebenen Reformierung auch der westfälischen Heimerziehung bis zum Anfang der 1980er Jahre. Zum anderen wird ein mehrdimensionaler Zugang zur Entwicklung der westfälischen Heimerziehung durch eine zusätzliche thematische Untergliederung ermöglicht: Unter strukturellen und institutionellen Geschichtspunkten der damaligen Heimerziehung finden sich neben einschlägigen Erlassen des für die Jugendfürsorge in Westfalen zuständigen Arbeits- und Sozialministeriums auch zahlreiche interne Aktenvermerke und Korrespondenzen des Landesjugendamtes. Unter dem Gliederungspunkt „Pädagogischer und gesellschaftlicher Diskurs“ werden vor allem Artikel aus der Fach- und Tagespresse präsentiert. Dokumente wie etwa Beschwerdebriefe der betroffenen Minderjährigen und ihrer Angehörigen sowie Revisionsberichte des Landesjugendamtes werfen Schlaglichter auf den Heimalltag. Um den in den Verwaltungsakten stark marginalisierten Blick der Betroffenen selbst einbeziehen zu können, wurden themenzentrierte Interviews mit ehemaligen Heimkindern geführt. Aber auch ein ehemaliger Erzieher und eine damalige Mitarbeiterin des westfälischen Landesjugendamtes wurden interviewt. Die daraus entnommenen Teiltranskripte wurden allerdings nicht in den regulären Dokumententeil integriert, sondern in einem gesonderten Abschnitt im Anhang zusammengestellt. Das ermöglicht zwar ein schnelles Auffinden der Interviewtexte, gesteht ihnen aber so leider nicht denselben Stellenwert wie den übrigen Textquellen zu.
Da der Schwerpunkt des Bandes auf Dokumenten und Erläuterungen zur Öffentlichen Erziehung liegt, skizziert Frölich in der Einleitung zunächst deren rechtliche Grundlagen. Besonders der Ursprung der Fürsorgeerziehung in den „Disziplinierungsmaßnahmen für straffällig gewordene Jugendliche“ zur Zeit des Kaiserreichs habe auch nach 1945 „eine schwere Hypothek“ bedeutet, da der Fürsorgeerziehung so „von Beginn an der Makel des Strafcharakters“ angehaftet habe (7). Auf der Grundlage der Auswertung von mehr als 1.000 Fallakten aus dem Bereich des Landschaftsverbandes wurde eine ganze Palette von Einweisungsgründen der meist aus Arbeiterfamilien der großen Ruhrgebietsstädte stammenden Minderjährigen in die Öffentliche Erziehung herausgearbeitet, die unter dem unbestimmten Rechtsbegriff der „Verwahrlosung“ gefasst wurden: Hierzu zählten u.a. kriminelle Taten, Schulschwänzen und Arbeitsverweigerung. Es seien aber auch zahlreiche Opfer körperlicher, auch sexualisierter Gewalt in die Öffentliche Erziehung eingewiesen worden. Bei Jungen seien von den Jugendbehörden häufig Eigentumsdelikte, bei Mädchen im Vergleich deutlich häufiger „‚geschlechtliche Ausschweifungen’“ unterstellt worden. Eine differenzierte Betreuung dieser Jugendlichen mit ihren verschiedensten Problemlagen habe dann aber in den Heimen oft nicht stattgefunden (8ff).
Entlang der Problemschwerpunkte „Arbeit“, „Disziplinierung und Gewalt“ sowie „sexuelle Gewalt“ skizziert Frölich den Alltag in den westfälischen Heimen. Der Arbeit von Kindern und Jugendlichen sei vor allem in den 1950er und 1960er Jahren für die Selbstversorgung der Heime eine große Bedeutung zugekommen, lange Zeit ohne dass die Minderjährigen eine angemessene Entlohnung oder Sozialversicherung erhielten (30ff.). Der Alltag in den Heimen sei vielfach auf Disziplinierung ausgerichtet gewesen und in der erzieherischen Praxis haben Erziehende auch vor der Anwendung von Gewalt gegenüber den Minderjährigen nicht zurückgeschreckt bzw. Gewalt unter den Jugendlichen befördert (35f). Auch in westfälischen Heimen lassen sich sexuelle Übergriffe von Erziehenden auf die ihnen anvertrauten Minderjährigen nachweisen. Wo sie bekannt geworden, seien diese auch von den Heimen bzw. den Jugendbehörden zur Anzeige gebracht worden. Die innere Struktur der oft nach außen abgeschlossenen Heime habe aber derartige Übergriffe begünstigt (39ff). Diese Befunde zur Heimerziehung in Westfalen reihen sich in ihrem Grundtenor ein in Studien zu anderen bundesdeutschen Regionen und differenzieren sie durch spezifische Befunde für Westfalen aus [5].
Unklar bleibt allerdings, was Frölich meint, wenn er in der Zusammenfassung vom „System Heimerziehung“ spricht. Zu fragen wäre hier, ob die Menschenrechtsverletzungen, die in der damaligen Heimerziehung geschehen sind, tatsächlich als „systematisch“ im Sinne von in der Heimerziehung regelmäßig produziert, zu bezeichnen sind [6]. Möglicherweise handelte es sich vielmehr um die bitteren Folgen eines Zusammenspiels aus hochgradig problematischen strukturellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Heimerziehung auch noch lange nach 1945 stattfand, dem Anknüpfen an autoritäre Erziehungspraktiken in den Heimen und einem stark defizitorientierten Blick auf Kinder und Jugendliche mit als problematisch angesehenem Verhalten – Faktoren, die Frölich für die Heimerziehung in Westfalen zuvor beschreibt.
Dessen ungeachtet erfüllt Frölich seinen Anspruch, eine „‚Studienausgabe‘“ (44) zur Geschichte der Heimerziehung in Westfalen vorgelegt zu haben, in vollem Maße. Vor allem durch die Verbindung der Quellentexte mit der vorangestellten, umfangreichen thematischen Einführung, wird ein quellennaher Einstieg in die Thematik ebenso ermöglicht wie eine vertiefende wissenschaftliche Auseinandersetzung.
Die Diözese Rottenburg-Stuttgart beauftragte die Sozialwissenschaftlerinnen Susanne Schäfer-Walkmann, Constanze Störk-Biber und Hildegard Tries von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart mit der Aufarbeitung der Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre im Verantwortungsbereich der Diözese. Ziel der daraus hervorgegangenen Publikation ist es, die Lebenswirklichkeit in den katholischen Heimen aus der Sicht von Zeitzeugen darzustellen. Hieraus sollen Erkenntnisse für die heutige Heimerziehung abgeleitet werden (15 und 20). [7]
Die Veröffentlichung gliedert sich in sieben Kapitel: Nach einer Darstellung des Arbeitsauftrages, erfolgt eine Rahmung der Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre, indem diese in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gestellt wird. Im dritten Kapitel stellen die Autorinnen die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte von 19 Heimen in Trägerschaft der Diözese vor. Kapitel vier und fünf umfassen die Erinnerungen und Einschätzungen ehemaliger Heimkinder und Erziehungspersonen an die Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre. Eine Zusammenstellung der Erinnerungen einer Vergleichsgruppe, die die Heimerziehung der 1980er und 1990er Jahre erlebte, findet sich im sechsten Kapitel. Den Abschluss bildet ein Kapitel, das sich mit Fragen des Umgangs mit der Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre in der Diözese befasst.
Die Autorinnen nähern sich dem Untersuchungsgegenstand über drei Zugänge: Aus soziologischer Perspektive wird auf die Anwendbarkeit des Konzeptes der „totalen Institution“ Erving Goffmans für die Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre verwiesen. In biographischer Hinsicht wird herausgehoben, dass durch die Berücksichtigung der Erinnerungen ehemaliger Heimkinder und Erziehender „dichte Beschreibungen“ des Alltags in den Heimen in Anlehnung an Clifford Geertz möglich werden. Durch einen historischen Zugang sollen die „Entstehungsbedingungen der Jugendhilfe zu Anfang des 20. Jahrhunderts“ und die verschiedenen Einweisungsgrundlagen in Heimerziehung nachvollziehbar gemacht werden (21ff). In methodischer Hinsicht werden das Sampling und die Erhebung der Interviews eingehend beschrieben. Die Auswertung der thematisch zusammengestellten Interviewausschnitte erfolgt in Anlehnung an die Forschungslogik der Grounded Theory (24ff).
Die historische Darstellung zu politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, zu Familie und Kindheit, zu Erziehungsvorstellungen und besonders zur staatlichen Ersatzerziehung können vom Leser als gute erste Orientierung genutzt werden. Die Autorinnen selbst beziehen sich in den nachfolgenden Kapiteln aber nur selten auf diese allgemeinen Entwicklungen. Sie stellen heraus, dass die Interviewauszüge „wenig ergänzender Kommentierung oder weiterführender Erläuterung“ (279) bedürfen, da sie für sich sprächen. Eine – gerade auch regionalhistorische – Einordnung hätte jedoch sicher interessante Perspektiven auf die konkreten Bedingungen in der Diözese eröffnet.
Aus insgesamt 40 Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Erziehenden konstruieren die Autorinnen die Lebenswirklichkeit in den Heimen während der 1950er und 1960er Jahre. Hieraus gehen deutliche strukturelle Missstände der damaligen Heimerziehung hervor, die sich u.a. in großen Gruppen, desolaten räumlichen Gegebenheiten und im Mangel an qualifizierten Erziehenden ausdrückten. Darüber hinaus wird die erlebte Erziehungspraxis geschildert, die nach Einschätzung der ehemaligen Heimkinder vor allem von persönlicher Entwertung, Lieblosigkeit und Willkür geprägt gewesen sei. Das erhebliche Maß an geschilderter psychischer, physischer und sexueller Gewalt wird als Alltagserfahrung in den untersuchten Einrichtungen bewertet (154). Im Sample der Erziehenden wurden überwiegend Ordensschwestern, aber auch weltliche Kräfte berücksichtigt, sodass die Bandbreite der beruflichen Qualifikation von pädagogisch nicht ausgebildetem Personal bis hin zu qualifizierten Fachkräften deutlich wird. Gerade diese Interviews veranschaulichen vielfach das Dilemma zwischen Pflichtbewusstsein, Mitgefühl und eigener Erschöpfung angesichts der desolaten strukturellen Zustände (191ff).
Das Kapitel zur Heimerziehung in den 1980er und 1990er Jahren kann als Brücke zwischen der problematischen Vergangenheit der 1950er und 1960er Jahre und der Gegenwart verstanden werden. So sollen nicht ausschließlich die Mängel und das Versagen der Institutionen, sondern auch deren Reformprozess dargestellt werden. Erneut dienen Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Erziehungspersonal als Quelle. Die einsetzenden Veränderungen werden zeitlich mit dem Ausscheiden der Schwestern und der damit verbundenen Einstellung von weltlichem, pädagogisch und psychologisch ausgebildetem Personal gleichgesetzt (245ff).
Mit den thematischen Zusammenstellungen von Interviewpassagen gelingt es den Autorinnen ein eindrucksvolles und facettenreiches Bild der Lebenswirklichkeit in den Heimen von den 1950ern bis in die 1990er Jahre zu zeichnen. Die Interviews werden hauptsächlich inhaltlich-thematisch genutzt, ohne die einzelnen biographischen Verläufe nachvollziehbar zu machen. Dass Interviews nicht nur auf Erlebnisse in der Vergangenheit, sondern auch auf ihre Verarbeitung im Lebensverlauf bis in die Gegenwart verweisen, wird leider im Buch kaum reflektiert, was aus der Perspektive der rekonstruktiven qualitativen Sozialforschung wünschenswert gewesen wäre.
Auch wenn die Zeit – so die Autorinnen – die durch die problematischen Erfahrungen in der Heimerziehung verursachten Wunden nicht heilt, bietet das abschließende Kapitel Anregungen für einen Umgang mit der Vergangenheit. Es werden Aspekte herausgearbeitet, die auch für die heutige Heimerziehung Impulse geben sollen: So fordern die Autorinnen eine Auseinandersetzung mit Stigmatisierungen von Heimkindern sowie mit der Machtposition von Erziehenden. In diesem Zusammenhang messen sie einer tragfähigen pädagogischen Beziehung große Bedeutung bei (284ff).
Das Buch richtet sich in seiner Gesamtkonzeption vorrangig an Betroffene der Heimerziehung und an ein praxisorientiertes, pädagogisches Fachpublikum. Insbesondere den in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten bietet das Buch eine gute Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit ihres Berufsfeldes auseinanderzusetzen, sich für die Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder zu sensibilisieren und hieraus Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen.
Die Geschichte der stationären Kinder- und Jugendfürsorge – das machen die drei besprochenen Publikationen deutlich – war und ist für die Betroffenen eine Problemgeschichte. Die Quellenedition „Du Mörder meiner Jugend“ ermöglicht einen Zugang zu authentischen Quellen, die von Jugendlichen in Fürsorgeerziehung der 1920er Jahre verfasst wurden. Die Einführung in die Thematik der Fürsorgeerziehung in der Weimarer Republik ist jedoch sehr knapp gehalten. Im Quellenband zur Heimerziehung in Westfalen nach 1945 ist der thematische Einstieg hingegen ertragreich. Während der Schwerpunkt des Quellenbandes auf gedruckten Quellen liegt, basiert die Publikation „Die Zeit heilt keine Wunden“ zur Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre auf Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Erziehenden. Hieraus werden Erkenntnisse für die heutige Heimerziehung abgeleitet. Leider fehlt eine Verortung der in den Interviews geschilderten Erlebnisse in die Gesamtbiographie.
[1] Vgl. vor allem Detlev Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge 1878 bis 1932. Paderborn: Bund-Verlag 1986; Marcus Gräser: Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtenjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995; Edward Ross Dickinson: The Politics of German Child Welfare from the Empire to the Federal Republic. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1996; Sabine Blum-Geenen: Fürsorgeerziehung in der Rheinprovinz 1871-1933. Köln: Rheinland-Verlag 1997.
[2] Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2006.
[3] Ulrike Meinhof: Bambule. Fürsorge – Sorge für wen? Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1971. Das gleichnamige Fernsehspiel wurde ein Jahr zuvor fertiggestellt.
[4] Zum Thema bereits erschienen: Markus Köster: Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel. Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1999 sowie Markus Köster/Thomas Küster (Hrsg.): Zwischen Disziplinierung und Integration. Das Landesjugendamt als Träger öffentlicher Jugendhilfe in Westfalen und Lippe (1924-1999). Paderborn: Ferdinand Schöningh 1999.
[5] Vgl. u.a.: Zum Rheinland Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky/Judith Pierlings/Thomas Swiderek/Sarah Banach (Hrsg.): Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972). Essen: Klartext 2011, zu den Einrichtungen der Hannoverschen Landeskirche: Ulrike Winkler/Hans-Walter Schmuhl: Heimwelten. Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers e.V. von 1945 bis 1978. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2011; bundesländerübergreifend: Bernhard Frings/Uwe Kaminsky: Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945-1975. Münster: Aschendorff Verlag 2012, sowie zu Niedersachsen Margret Kraul/Dirk Schumann/Rebecca Eulzer/Anne Kirchberg: Zwischen Verwahrung und Förderung. Heimerziehung in Niedersachsen 1949-1975. Opladen u.a.: Budrich UniPress 2012.
[6] So z.B. Manfred Kappeler: Zwischen den Zeilen gelesen – Kritik des „Zwischenberichts“ des Runden Tisches Heimerziehung, 2010, aus: http://www.gewalt-im-jhh.de/Kappeler_zu_ZB_RTH.pdf, Stand: Mai 2012.
[7] Dazu u.a. Carola Kuhlmann: Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Maßstäbe für angemessenes Erziehungsverhalten und für Grenzen ausgeübter Erziehungs- und Anstaltsgewalt. Expertise für den Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, Bochum, 2010, aus: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Expertise_
Erziehungsvorstellungen.pdf, [Stand: Juli 2011].
[8] Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt auch Carola Kuhlmann: „So erzieht man keinen Menschen!“. Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008.