Im Zentrum des Werks steht eine Teilhabestudie, die das Ziel verfolgte, die Lebenslagen von Menschen mit Behinderung zu beschreiben. Dabei wurde die Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung überprüft. Den Autoren ist es ein Anliegen nachzuweisen, „dass die Begehrungen von Menschen mit Behinderungen ohne reliables, valides und objektives diagnostisches Verfahren nicht verlässlich beschrieben werden können“ (85). In einem weiteren Schritt wird eine Hypothese überprüft, die von einer „sinkenden Solidarität gegenüber Menschen mit Behinderungen“ (ebd.) ausgeht. Die Autoren, allesamt Angehörige des Zentrums für Konstruktive Erziehungswissenschaft am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität Kiel, entwickelten ein diagnostisches Verfahren, welches sich am Methodischen Konstruktivismus (nach Kamlah und Lorenzen) orientiert, dabei jedoch teilweise Neuland betritt. „Eine neuartige Herausforderung für das empirische Arbeiten auf methodisch-konstruktiver Basis ist der Auftrag an die vorliegende Studie, bei der Untersuchung von Erlebnissen auszugehen“ (16).
Das Buch gliedert sich in acht Teile. Nach einem Vorwort und der Einleitung wird in Kapitel 3 der Aufbau einer methodisch-konstruktiven Teilhabemessung beschrieben. Dabei wird auf theoretische Grundlegungen und die methodische Vorgehensweise näher eingegangen. Das vierte Kapitel stellt die Ergebnisse der verschiedenen Teiluntersuchungen dar. Kapitel 5 widmet sich der Diskussion der Ergebnisse. Ein Nachwort, Literaturangaben und ein Anhang mit dem Teilhabefragebogen und einem Fragebogen zum pädagogischen Selbstverständnis komplettieren das Werk.
Die Autoren definieren den Begriff „Teilhabe“ zuerst aus alltagssprachlicher Sicht, als „Chance, eigene Wünsche innerhalb einer sozialen Beziehung durchzusetzen“. „Teilgabe“ wird als „Chance Wünsche anderer Personen innerhalb einer sozialen Beziehung durchzusetzen“ ausgewiesen (29). Hier sei angemerkt, dass im Vergleich dazu Teilhabe (bzw. Partizipation) in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) viel allgemeiner, nämlich als „das Einbezogensein in eine Lebenssituation“ definiert wird. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil sich die Itemkonstruktion des Teilhabefragebogens an der ICF orientiert. Zur Einführung in ein wissenschaftliches Verständnis der zentralen Begriffe „Teilhabe“ und „Teilgabe“ werden von den Autoren die methodisch-konstruktiven Grundbegriffe „Handlung“, „Begehrung“, „soziale Beziehung“, „Situation“ und „wahrscheinlich“ skizziert.
Mit dem Teilhabefragebogen werden die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen aus sieben Einrichtungen verallgemeinernd beschrieben. Die Itemkonstruktion orientiert sich an der Klassifikation von Lebensbereichen, d.h. an einem Teilbereich der ICF-Klassifikation, welche 2001 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt wurde und seit 2005 in einer deutschen Fassung, übersetzt vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), vorliegt 1. Die Autoren kritisieren, dass die Formulierungen der ICF nicht den Kriterien der Genauigkeit, der Exklusivität und der Exhaustivität genügen, da „eine explizierte Theorie und damit explizit eingeführte Definitionen nicht erkennbar sind” (37). Daher wurden für die einzelnen „ICF-Lebensbereiche theoretische Hintergründe mit Definitionen rekonstruiert” und Alltagsbeispiele gesammelt, die sowohl in die Fragebogenanweisung übernommen wurden als auch von den Versuchsleiterinnen auf Nachfrage zur Verfügung gestellt wurden (37ff).
Drei Bedingungen müssen laut Krope, Latus und Wolze angesichts ihrer Definition von Teilhabe für die Itemkonstruktion des Fragebogens erfüllt sein: „Erstens muss gewährleistet sein, dass eine Begehrung abgefragt wird. Zweitens muss die Frage auf Realisierung des begehrten Sachverhalts abzielen. Drittens soll die Befragung bei Erlebnissen ihren Ausgang nehmen“ (36). Daher wurde mit dem Fragebogen nicht nur abgefragt, was sich jemand im Sinne der Teilhabe gewünscht hat, sondern auch, ob der Wunsch verwirklicht wurde und anhand welcher Beispiele die Verwirklichung belegt werden könne.
Die zur besseren Handhabung des Untersuchungsinstruments erfolgte Verkürzung von ICF-Items gelingt in den meisten Fällen sehr gut. Bei einzelnen Items entstand dadurch jedoch ein Abstraktionsniveau, das eine präzise Beantwortung des Items ohne zusätzlich erfolgende Erläuterung kaum ermöglicht. So gibt es z.B. in der ICF für den Bereich Bewusste sinnliche Wahrnehmungen den Aspekt „Zuschauen”, welcher in der ICF als „absichtsvoll den Sehsinn zu benutzen, um visuelle Reize wahrzunehmen, wie einer Sportveranstaltung oder dem Spiel von Kindern zuschauen“ definiert wird (DIMDI 2005, 95). Im Teilgabefragebogen wurden die vier Statements zu diesem Bereich verkürzt auf: „Ich habe mir gewünscht … etwas absichtsvoll wahrzunehmen” (89). Im Teilhabefragebogen, der von Referenzgruppen zu beantworten war, lautet dieses Item: „Ich habe mir vorgenommen, einem Menschen auf seinen Wunsch hin zu helfen … etwas absichtsvoll wahrzunehmen” (45). Es ist zu hinterfragen, ob dieses Item von einem Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung oder auch von Mitgliedern der Referenzgruppen entsprechend verstanden werden kann, um darauf eine sinnvolle Antwort geben zu können. Die Aufforderung im Anweisungsteil, Items nur dann mit „Ja” zu beantworten, wenn man ein anschauliches Erlebnis dazu erzählen könne, minimiert zwar die Fehlerquote, begünstigt jedoch auch die Tendenz, derartige Items mit „Nein” zu beantworten (38).
Mit dem Teilhabefragebogen wurden 463 Menschen mit Behinderungen, 79 TeilnehmerInnen einer studentischen und 28 TeilnehmerInnen einer nicht studentischen Referenzgruppe befragt. Der Teilgabefragebogen wurde von 117 TeilnehmerInnen einer studentischen Referenzpopulation beantwortet. Weiterhin wurden acht Menschen mit Behinderung und acht Angehörige für einen Paarvergleich mit dem Teilhabefragebogen befragt. Schließlich beantworteten 264 Personen einer studentischen Referenzpopulation und 41 Personen einer nicht studentischen Referenzpopulation den Fragebogen zum pädagogischen Selbstverständnis.
In Paarvergleichen wurden acht Elternteile (Mutter oder Vater) von Jugendlichen mit Behinderungen aus einer der untersuchten Einrichtungen gebeten, „den Teilhabefragebogen so auszufüllen, wie er Ihrer Meinung nach von ihrem Angehörigen ausgefüllt werden würde“ (107). Es zeigten sich allgemein fast keine Übereinstimmungen zwischen den Teilhabe-Wünschen aus Sicht der Jugendlichen mit Behinderungen und aus jenen ihrer Eltern. Auf diese Weise konnte die Behauptung der Autoren, „dass Aussagen über die Begehrungen eines Menschen mit Behinderung von anderen Personen nicht mit hinreichender Sicherheit gemacht werden können, wenn kein objektives, reliables und valides diagnostisches Verfahren eingesetzt wird“ (118), erfolgreich überprüft werden.
Die Überprüfung der Entsolidarisierungshypothese geschah durch Auswertung eines Items des Fragebogens zum pädagogischen Selbstverständnis (Form R 2008). Die Ergebnisse wurden den Ergebnissen einer Untersuchung mit PädagogInnen aus dem Jahr 1992 gegenübergestellt, in welcher dasselbe Item abgefragt wurde, nämlich Item 11: „Wir treiben zuviel Aufwand für die Betreuung und Pflege von Verbrechern und Geisteskranken“. Waren es 1992 noch 13% der westdeutschen Studierenden, die diesem Item zustimmten, stieg die Zustimmungsrate im Jahr 2008 auf 52%. Hypothese 2, die besagt, „dass die Solidarität gegenüber Menschen mit Behinderungen zurückgegangen ist“ (118), konnte aus der Sicht der Autoren somit belegt werden.
Hier ist jedoch kritisch anzumerken, dass aus einem Item, welches sich auf den gesellschaftlich erwünschten Aufwand für die Betreuung und Pflege von „Verbrechern und Geisteskranken“ bezieht, wohl nicht auf die Solidarität gegenüber Menschen mit Behinderungen geschlossen werden kann. Insbesondere auch deshalb, weil keines der Items in diesem Fragebogen einen Konnex zum Thema Behinderung herstellt. Die Ableitung erscheint somit irreführend und beliebig. Es könnte ebenso einen Rückgang der Solidarität mit Asylsuchenden und Flüchtlingen, die in medialen und politischen Debatten häufig mit Verbrechen und psychischen Auffälligkeiten in Verbindung gebracht werden, abgeleitet werden. Davon abgesehen, ist es bedenklich, dass „Verbrecher“ und „Geisteskranke“ durch die Itemformulierung auf ein und dieselbe Stufe gestellt werden.
Die Befragungen verliefen sehr variantenreich. Die Autoren merken dazu an: „Gruppen- und Einzelbefragungen, Voll- und Kurzversionen des Fragebogens, variable Zeitangaben für das Ausfüllen (von zwanzig Minuten bis zweieinhalb Stunden), Hilfen, die von der Beantwortung gelegentlicher Verständnisfragen bis zum kompletten Vorlesen der Fragen und Niederschreiben der Antworten reichten, die Assistenz durch das Personal der Einrichtungen und schließlich eine Schulung der Versuchsleiter und Versuchsleiterinnen, in der die Erfahrungen der Vorerhebungen aufgenommen waren“ (119). In 70% der Befragungen mit Menschen mit Behinderungen gab es Eins-zu-Eins Befragungen. Interessant wäre an dieser Stelle eine Diskussion zu methodischen und methodologischen Fragestellungen gewesen, zum Beispiel zur Relevanz, ob jemand in kurzer Zeit den Fragebogen alleine ausfüllt oder ob ein Versuchsleiter in einem längeren Prozedere die Fragen vorliest und die Antworten niederschreibt.
Problematisch erscheint der Umstand, dass die Erhebung der Form der Behinderung im Fragebogen auf Selbstangaben der untersuchten Personen beruht. So wird im Fragebogen zur Lebenslage (Form A 100) danach gefragt: „Haben Sie Probleme in folgenden Bereichen oder werden Ihnen Probleme in folgenden Bereichen gemacht? (Mehrfachnennung möglich)“ (134). Die untersuchten Personen können Probleme im Bereich (1) der räumlichen Bewegung, (2) des Denkens, (3) des Lernens, (4) des Sprechens, (5) des Hörens und Sehens, (6) von Suchtmittel und Abhängigkeit, (7) des psychischen Befindens sowie (8) des Verhaltens gegenüber anderen angeben (ebd.).
Menschen mit schwerer geistiger Behinderung wurden zwar von der Untersuchung ausgenommen – über das angedachte „Doppel-Dolmetscher-Modell“, um auch diese Gruppe in einer derartigen Untersuchung erfassen zu können, erfahren wir nicht mehr als den Begriff selbst (119) –, die Bandbreite an Behinderungsformen, für die z.B. Probleme in den Bereichen des Lernens gelten, ist jedoch ziemlich groß. Durch den Verzicht, sich nicht an geläufigen Behinderungskategorien zu orientieren und dementsprechend Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit körperlichen, Sinnes- oder intellektuellen Beeinträchtigungen zu erheben, wird die Aussagekraft der Studie geschwächt. Wenn hinsichtlich der Werte für Nicht-Teilhabe Unterschiede „in Problembereichen der Behinderung“ ausgemacht werden und darauf verwiesen wird, dass beim Mittelwertvergleich zwischen dem Problembereich der räumlichen Bewegung und dem Problembereich des Hörens und Sehens ein signifikanter Unterschied besteht (101ff), dann erzielt man daraus nur geringen Erkenntnisgewinn.
Auch Tabelle 23 (102), in der für die unterschiedlichen Problembereiche, die jeweils am häufigsten genannten Items für Nicht-Teilhabe aufgelistet sind, bietet nur bedingt Aufschlüsse. Fasst man alle Behinderungsformen zusammen, dann zeigen sich laut Studie die häufigsten Nennungen für erlebte Nicht-Teilhabe in den Bereichen (1) eine Wohnung zu beschaffen, (2) mit Stress besser umgehen zu können, (3) sich weiter zu qualifizieren und fortzubilden und (4) ein berufliches Arbeitsangebot wahrzunehmen (102). Eine eingehende Analyse, welche Barrieren bei der Teilhabe in unterschiedlichen Lebensbereichen für Menschen mit welchen Beeinträchtigungen bestehen, fehlt jedoch.
Gemessen an der präzisen theoretischen Vorarbeit und dem aufwändigen empirischen Untersuchungsdesign ist der Gesamtertrag dieser Studie eher gering. Das Ergebnis, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in den untersuchten Lebensbereichen deutlich geringer ausfällt als für die Referenzgruppen, überrascht wenig. Man muss jedoch den Autoren zugute halten, dass es ihnen mit Ausnahme der oben angeführten Einschränkungen weitgehend gelungen ist, ein diagnostisches Verfahren zu entwickeln, mittels dem diese Teilhabebeschränkungen verlässlich beschrieben werden können. Positiv erscheint auch der Umstand, dass die Autoren deutlich machen, dass aus den erhobenen Tatsachen zwar keine direkten Empfehlungen für die Praxis abgeleitet werden können, jedoch mittels des skizzierten „Rationalen Dialogs“ Grundlagen für die Entwicklung von Konsequenzen und damit auch Verbesserungen erarbeitet werden können (121ff). Entgegen den Behauptungen der Autoren konnte mit der Studie nicht festgestellt werden, „dass die Solidarität gegenüber Menschen mit Behinderungen zurückgegangen ist“ (114). Um dies zu erheben, bedarf es der Entwicklung besser geeigneter Untersuchungsinstrumente.
1 WHO (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). WHO, Genf. – Deutsche Ausgabe: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Hg.) (2005) Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Aktueller Stand: siehe http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Teilhabe im Dialog
Eine methodisch-konstruktive Studie zu den Lebenslagen von Menschen mit Behinderung
MĂĽnster u.a.: Waxmann 2009
(146 S.; ISBN 978-3-8309-2144-8; 16,90 EUR)
Mikael Luciak (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mikael Luciak: Rezension von: Krope, Peter / Latus, Knut / Wolze, Wilhelm T.: Teilhabe im Dialog, Eine methodisch-konstruktive Studie zu den Lebenslagen von Menschen mit Behinderung. MĂĽnster u.a.: Waxmann 2009. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092144.html
Mikael Luciak: Rezension von: Krope, Peter / Latus, Knut / Wolze, Wilhelm T.: Teilhabe im Dialog, Eine methodisch-konstruktive Studie zu den Lebenslagen von Menschen mit Behinderung. MĂĽnster u.a.: Waxmann 2009. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092144.html