Schulautonomie steht seit ca. Mitte der 1980er Jahre im Zentrum von Schulforschung, Schuladministration und Schulpolitik. Durch erweiterte Selbstständigkeit sollen die einzelnen Schulen mehr Handlungsspielräume erhalten, die dann eigenverantwortlich zur Profilbildung und Qualitätsverbesserung genutzt werden können und sollen. Zugleich jedoch sind ebenfalls seit längerer Zeit verstärkte Standardisierungs- und (Re-)Zentralisierungstendenzen im Schulsystem zu beobachten. Auf der Makroebene bedeutet das sowohl eine Umstellung von der Input- auf eine Outputsteuerung als auch eine Verlagerung von Kompetenzen auf untere Ebenen, welche somit nun die Verantwortung für ihr Handeln tragen, wobei die Ergebnisse dieses einzelschulischen Handelns wiederum – folgenreich – von der Zentrale erfasst und beurteilt wird.
In verschiedenen Bundesländern fanden und finden ebenfalls Schulversuche mit dem Schwerpunkt einer erweiterten Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit von Schulen statt. Die bislang hierzu vorliegenden Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Man kann zwar einen Zusammenhang zwischen erweiterter Schulautonomie und gesteigerter Schulqualität rsp. Schuleffektivität annehmen; empirisch konnte dieser Zusammenhang jedoch nur in Teilbereichen nachgewiesen werden.
Der vorliegende Bericht über die Begleitforschung zum nordrhein-westfälischen Modellvorhaben ‚Selbstständige Schule’ will hier eine Lücke schließen. Das Modelvorhaben wurde seit November 2000 vorbereitet und startete mit dem Schuljahr 2002/2003. Insgesamt nahmen 278 Schulen an diesem Modellversuch teil, der mit dem Schuljahresende 2007/2008 beendet wurde. Die Begleitforschung zur ‚Selbstständigen Schule’ untersuchte währenddessen anhand von vorab definierten Untersuchungsdimensionen, ob die Ziele des Modellvorhabens erfüllt wurden. Der im vorliegenden Band zusammengestellte Bericht über die Begleitforschung und der Ergebnisse besteht aus Einzelbeiträgen unterschiedlich zusammengesetzter Autorengruppen.
Das erste Kapitel des Buches, mit der Überschrift „Fragestellungen, Theorien und Methoden“ bildet einerseits die Einleitung und konkretisiert andererseits die Vorgehensweise der Begleitforschung. Nachdem allgemeine Ziele des Modellvorhabens vorgestellt werden, d.h. vor allem die Verbesserung der Schul- und besonders der Unterrichtsqualität, werden Entwicklungen und empirische Befunde zur Selbstständigkeit von Schule aufgezeigt.
Ebenfalls wird in diesem Kapitel das Konzept der Selbstständigkeit im betreffenden Modellvorhaben definiert und der Entscheidungsspielraum der teilnehmenden Schulen dargestellt. Selbstständige Schulen haben erweiterte Entscheidungsrechte bei Personal- und Ressourcenbewirtschaftung, Unterrichtsorganisation, Mitwirkung und Partizipation und tragen in diesen Bereichen dann auch die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen.
Diese fünf Bereiche (Personalbewirtschaftung, Sachmittelbewirtschaftung, Unterrichtsorganisation und -gestaltung, Mitwirkung und Partizipation / Rechenschaftslegung) bilden die Untersuchungsdimensionen für die Evaluation des Modellvorhabens, welche dann hinsichtlich der Ziele der Verbesserung von Schul- und Unterrichtsqualität, der Entwicklung von Formen der Selbstständigkeit und der Entwicklung von ortsnahen Unterstützungsstrukturen sowie regionaler Bildungslandschaften analysiert werden. Zum Schluss des Kapitels wird der theoretische Rahmen von Selbstständigkeit und Schulqualität sowie deren Operationalisierung beschrieben. Das Resultat ist eine Liste mit Qualitätsindikatoren, die einerseits die Gestaltungs- und Prozessqualität (oben genannte fünf Bereiche) und andererseits die Ergebnisqualität abbilden.
Im zweiten Kapitel werden die „Strukturdaten und Einstellungen der Akteure“ erfasst. Hier wird aufgezeigt, wie viele Schulen in welchen Regierungsbezirken an dem Modellvorhaben teilgenommen haben und wie sich die Einstellungen der Schulleitungen und Lehrkräfte hinsichtlich des Modellvorhabens beziehungsweise der erlebten Selbstständigkeit, der Unterrichtsentwicklung und der Konstrukte Innovationsbereitschaft, Belastung, Arbeitszufriedenheit, Arbeitsklima und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen im Verlauf des Projekts entwickelt haben.
Die Ergebnisse des Modellvorhabens werden im dritten Kapitel „im Längsschnitt“ dargestellt. Die oben aufgezeigten fünf Untersuchungsdimensionen werden hier ausdifferenziert und systematisch besprochen. Die Kategorie des Unterrichts zum Beispiel wird hier untergliedert in Lehr-Lern-Arrangements, Unterrichtsgestaltung, Lerndispositionen, Lernergebnisse usw. Durch Tabellen, Grafiken und statistische Kennwerte erhält man einen Überblick über die Ergebnisse, meist begleitet durch einen beschreibenden Text.
Das Längsschnittdesign soll Entwicklungen im Zeitverlauf darstellen, erweist sich stellenweise aber nur als Follow-up-Längsschnitt, also um einen Vergleich hintereinander geschalteter Querschnitte. Die Aussagekraft ist demzufolge abgeschwächt. Die Vergleiche der Mittelwerte zu den verschiedenen Untersuchungsdimensionen zeigen, dass nur kleine Veränderungen auftreten. Weiterhin verlässt man sich in Bezug auf die Datenerhebung meist auf die Aussagen der Mitwirkenden. Nur Lesekompetenz, mathematische Kompetenz und kognitive Fähigkeiten werden durch einen Test ermittelt. Insgesamt bleibt dieser Teil des Buches eher deskriptiv; nur an wenigen Stellen finden sich Erläuterungen zu den Ergebnissen. Die Interpretation der Daten bleibt weitestgehend dem Leser überlassen.
Nach dem quantitativen Teil der Datenerhebung, werden im vierten Kapitel die Ergebnisse von qualitativen Interviews mit Lehrkräften und Schulleitungen präsentiert. Hierfür wurden Schulen aller Schulformen ausgewählt, welche sich eher in Extremlagen befinden, um entsprechende Kontraste zu erhalten und gerade hier detaillierte Erkenntnisse zu gewinnen. Nach ersten Interviews an 20 Schulen im Jahr 2004 wurden im Jahr 2006 sechs einzelne Schulen für eine vertiefende, fallbezogene Analyse ausgewählt. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Überblick über die Einstellungen der Akteure zur Selbstständigkeit von Schulen und zum Umgang mit Selbstständigkeit an der Einzelschule zu vermitteln. Teile der Antworten aus den halbstandardisierten Interviews werden wiedergegeben und vermitteln ein klares Bild der wahrgenommenen und beschriebenen Schulumwelt. Auf dieser Basis werden die Daten der Interviewpartner kodiert, um anhand der gewonnenen Bewertungen (analytische) Ideal-Typen von selbstständigen Schulen herauszuarbeiten. Die auf dieser Basis definierten drei Entwicklungstypen selbstständiger Schulen werden in einem zweiten Schritt als Repräsentanten von drei Entwicklungsphasen verstanden, die den Prozess einer einzelnen selbstständigen Schulen Schule von der „Einstiegsphase“ über die „Implementierungsphase“ bis hin zur „Institutionalisierungsphase“ beschreiben.
Das fünfte Kapitel „Zusammenhangsanalysen“ beschäftigt sich mit diversen Wirkungszusammenhängen zwischen ausgewählten Variablen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um Ursache-Wirkungs-Verflechtungen handelt, sondern um reine Korrelationen. Man kann also sagen, dass wechselseitige Einflüsse ermittelt wurden. Im Anschluss wird ein Modell entwickelt, welches zur Erklärung von Lernentwicklungen dienen soll, wobei der Fokus auf der Leseverständnisleistung liegt. Mittels Mehrebenenanalyse werden verschiedene Faktoren mit den Leistungen in Beziehung gesetzt. Beispiele hierfür wären der Bildungshintergrund, Geschlecht, Geburtsort, Unterrichtsgestaltung oder Selbstkonzept. Zusammengetragen werden diese verschiedenen Abhängigkeiten in einem Schaubild und in einem Fließtext wird auf besondere Zusammenhänge hingewiesen.
Im letzten Kapitel des Buches wird ein Fazit präsentiert. Hier werden die 15 wichtigsten Punkte bzw. Ergebnisse der Begleitforschung kurz vorgestellt. Inhaltlich bleiben diese Punkte jedoch relativ vage. Beispielsweise heißt es, dass „sich in den selbstständigen Schulen Zusammenhänge zwischen Schulleitungshandeln, Evaluationskultur, Unterrichtsqualität und dem Lernzuwachs bei Leseleistungen feststellen [lassen]“ (332) oder dass den „Schulen zur Verfügung gestellte Unterstützungsstrukturen [...] nachweislich Schulmanagement und Unterrichtsentwicklung in beachtlicher Weise [fördern]“ (ebd.). Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse der Begleitforschung „wichtige Hinweise für die weitere Entwicklung selbstständiger Schulen“ (ebd.) bieten können.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Modellvorhaben ein sehr großes Projekt war, in dem große Datenmengen erzeugt worden sind, die man in einem Ergebnisband nicht alle zusammenstellen kann. Es ist an dieser Stele jedoch zu fragen, welche Aussagekraft die dargestellten Ergebnisse haben. Wenn man beispielsweise fragt, was eigentlich positiv oder negativ an diesem Modellvorhaben gewesen ist, lässt sich das nicht mit einem Wort (und auch nicht in wenigen Sätzen…) festhalten. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens fehlt den gewonnenen Daten vielfach die Aussagekraft, da insgesamt nur geringe Differenzen über die Zeit aufgetreten sind. Zweitens fehlt der Vergleich zu „normalen“ Schulen, welche nicht an dem Projekt ‚selbstständige Schule’ teilgenommen haben. Ohne Kontrollgruppe bleibt der Wert der erhaltenen Daten und Ergebnisse eher weniger aussagekräftig.
Speziell im Bereich der Daten des Längsschnitts gewinnt die Formulierung der Autoren, es gäbe bisher „wenig messbare[n] Fortschritt im Hinblick auf diese Ziele [d.h. der Ziele des Modellvorhabens; Anm. d. Rezensenten]“ (103), an Bedeutung. Kurzum: Wenn Fortschritte gemessen wurden, sind sie eher von zu vernachlässigendem Ausmaß, und die Autoren scheinen dies auch mitteilen zu wollen. Es werden viele Daten präsentiert, aber wenig interpretiert und gerade den präsentierten Daten fehlt die beschriebene Aussagekraft.
Als Leser erhofft man sich einen abrundenden Schluss, ein Fazit, das die wichtigsten Punkte des Modellvorhabens zusammenfasst und somit den großen Datenberg auf einen Punkt bzw. wenige zentrale Aussagen bringt. Leider bleiben die Autoren diesbezüglich recht vage und sehr knapp und erwecken dadurch den Eindruck, dass die Ergebnisse, da sie nicht besonders aussagekräftig sind, wohl besser nicht gebündelt zusammengefasst werden. Das ist aus Sicht der Autoren einerseits konsequent; andererseits jedoch bleibt beim Leser ein Gefühl des Mangels dergestalt, dass die Frage aufkommt, was das Projekt denn nun konkret an Erkenntnissen sowie an Nutzen hervorgebracht hat.
Vom Methodischen her ist das Projekt logisch und nachvollziehbar durchgeführt, obwohl man hier und da Kritik anbringen könnte, dass sich manche Erhebungen allein auf die Aussagen der teilnehmenden Akteure stützen oder dass nur bestimmte Schulen an diesem Modellvorhaben teilgenommen haben (öffentliche Ausschreibung). Weiterhin fällt auf, dass die Darstellung sicherlich einem roten Faden folgt (Argumentationsstrang), die Art und Weise der Darstellung aber doch recht unterschiedlich ist. Manche Autoren(gruppen) benutzen viele Tabellen und Diagramme, andere präsentieren die Ergebnisse und die Daten in Fließtextform.
Wie soll man dieses Buch also bewerten? Es richtet sich ganz klar an einen Leserkreis, der nicht nur das Thema interessiert verfolgt, sondern auch über das nötige Fachwissen verfügt, um das Dargestellte auch hinsichtlich der Methodik zu verstehen. Inhaltlich wird eigentlich nichts präsentiert, aus dem man schließen könnte, dass eigenverantwortliche Schulen nun positiver zu bewerten wären als „normale“ Schulen. Dazu reichen die Daten auch nicht aus; dieser Unterschied lag auch bewusst nicht in der Blickperspektive der Autoren. Wenn man nur von der Erwartungshaltung des Lesers ausgeht, etwas Definiertes, etwas Greifbares über die Effekte des Modellversuchs erfahren zu wollen, so wird man – abgesehen von wenigen Teilaspekten – eher enttäuscht. Es bleibt zu hoffen, dass hier weitere Forschung stattfinden wird. Die Autoren formulieren am Schluss die Einschränkung, dass es „für eine endgültige Würdigung des Modellvorhabens noch zu früh ist“ (332), dass man aber „wichtige Hinweise für die weitere Entwicklung selbstständiger Schulen“ (ebd.) erhalten habe. Welche dies sind und wie diese Hinweise aussehen, bleibt jedoch leider recht offen.
EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)
Schulentwicklung durch Gestaltungsautonomie
Ergebnisse der Begleitforschung zum Modellvorhaben ‚Selbstständige Schule’ in Nordrhein-Westfalen
MĂĽnster: Waxmann 2008
(352 S.; ISBN 978-3-8309-2070-0; 29,90 EUR)
Christian Weidemanns (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Weidemanns: Rezension von: Holtappels, Heinz GĂĽnter / Klemm, Klaus / Rolff, Hans-GĂĽnter (Hg.): Schulentwicklung durch Gestaltungsautonomie, Ergebnisse der Begleitforschung zum Modellvorhaben ‚Selbstständige Schule’ in Nordrhein-Westfalen. MĂĽnster: Waxmann 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092070.html
Christian Weidemanns: Rezension von: Holtappels, Heinz GĂĽnter / Klemm, Klaus / Rolff, Hans-GĂĽnter (Hg.): Schulentwicklung durch Gestaltungsautonomie, Ergebnisse der Begleitforschung zum Modellvorhaben ‚Selbstständige Schule’ in Nordrhein-Westfalen. MĂĽnster: Waxmann 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383092070.html