EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Tanja Tajmel / Klaus Starl (Hrsg.)
Science Education Unlimited
Approaches to Equal Opportunities in Learning Science
MĂŒnster: Waxmann 2009
(229 S. & CD-Rom; ISBN 978-3-8309-1889-9; 29,90 EUR)
Science Education Unlimited Ausgangspunkt des Herausgeberbandes ist die aus der zunehmenden Migration in Europa resultierende Herausforderung an das Bildungswesen, gesellschaftliche Inklusion zu ermöglichen und DiversitĂ€t gerecht zu werden. Die Zielsetzung gleicher Chancen bei unterschiedlichem Migrationshintergrund wird dabei mit dem Anspruch an Geschlechtergerechtigkeit verbunden und in Hinblick auf naturwissenschaftlichen Unterricht behandelt. Der Band schlĂ€gt dabei den Bogen vom allgemeinen Menschenrecht auf Bildung bis zum Unterrichtsentwurf fĂŒr den Physikunterricht. Im ersten Teil wird der Zusammenhang zwischen dem Grundrecht auf Bildung und der besonderen Situation von MigrantInnen im Bildungswesen geklĂ€rt. Der zweite Teil behandelt die spezifischen Herausforderungen, die sich daraus fĂŒr den naturwissenschaftlichen Unterricht ergeben. Im dritten Teil werden unterschiedliche LösungsansĂ€tze vorgeschlagen und schließlich wird der Band mit Handlungsaufforderungen der HerausgeberInnen an Bildungsakteure abgeschlossen. Beiliegend befindet sich eine CD-Rom mit Unterrichtsmaterialien und Videosequenzen zur Illustration. Das Buch ist ein Ergebnis des seit 2004 bestehenden internationalen und interdisziplinĂ€ren Projektes ‚Promotion of Migrants in Science Education‘ (PROMISE), an dem sich WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen, LehrerInnen und Lehramtsstudierende aus Österreich, Bosnien-Herzegowina, der TĂŒrkei und Deutschland beteiligten.

Klaus Starl eröffnet den ersten Teil mit einer Verortung der Thematik und leitet aus dem in der UN-Menschenrechtscharta festgelegten Grundrecht auf Bildung die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen ab. Er betont, dass dies auch positive Diskriminierung als Kompensation fĂŒr vergangene Benachteiligung sowie prĂ€ventive Maßnahmen erfordert. Auch empirische Befunde zur Bildungsbenachteiligung in den vier an PROMISE beteiligten LĂ€ndern kommen zur Sprache.

Stephanie Gilardi, Veronika Bauer, Sarah Kumar und Klaus Starl fragen danach, ob eine besondere Förderung von MigrantInnen i.S. positiver Diskriminierung zu rechtfertigen ist. Auf der Grundlage zahlreicher Benachteiligungen, die diese Menschen erfahren, kommen sie zu dem Schluss, dass nur mit Hilfe besonderer Förderung dem Gleichheitsprinzip entsprochen werden kann.

Barbara Herzog-Plunzenberger setzt sich mit der Positionierung von MigrantInnen im sozialen Raum auseinander und klĂ€rt die besondere Bedeutung der Kategorien Sozialschicht, Geschlecht, EthnizitĂ€t, Religion, Sprache und Rechtsstatus fĂŒr die Verteilung von Zertifikaten in Schulsystemen.

Mit dem Beitrag von Tanja Tajmel, Klaus Starl und Lutz-Helmut Schön wird der zweite Teil des Bandes eröffnet. Die AutorInnen treten dabei mit dem Anspruch auf, ein QualitÀtsmodell zur Verbesserung naturwissenschaftlicher Bildung in Hinblick auf Sprachförderung und Diversity zu entwerfen indem sie Barrieren der Chancengleichheit identifizieren, LösungsansÀtze darstellen und Möglichkeiten der praktischen Umsetzung aufzeigen. Als zentrale Barrieren werden fehlende Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht, fehlendes Gender- und Diversity-Mainstreaming sowie ein Mangel in der Lehrerbildung in Bezug auf linguistische und kulturelle HeterogenitÀt genannt und die Beseitigung dieser Defizite als Lösungen vorgeschlagen. Als praktische Umsetzungsmöglichkeit wird das international und interdisziplinÀr angelegte PROMISE-Projekt dargestellt. Dies ist insofern enttÀuschend, als dass sich die Problembeschreibung auf Aspekte auf Ebene der Schulen und Schulbehörden beschrÀnkte, bei PROMISE handelt es sich hingegen im Wesentlichen um eine Hochschulkooperation.

Klaus Starl und Veronika Bauer stellen in ihrem Beitrag heraus, dass die Überwindung sozialer Ungleichheiten in den Bildungssystemen der EU eine wesentliche Voraussetzung fĂŒr die Erreichung des gemeinsamen Ziels ist, sich zum wettbewerbsfĂ€higsten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Umfassendere Maßnahmen zur Förderung von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund in den Naturwissenschaften sind demnach auch aus ökonomischen GrĂŒnden notwendig.

Ingrid Gogolin erlĂ€utert die besondere Bedeutung von ‚Bildungssprache‘ fĂŒr die Benachteiligung von SchĂŒlerInnen mit Migrationshintergrund im Fachunterricht und schlĂ€gt damit eine wichtige BrĂŒcke zwischen naturwissenschaftlichem Unterricht und Sprachunterricht. Nicht die in der Familie gesprochene Sprache sei von primĂ€rer Bedeutung fĂŒr den Schulerfolg eines Kindes, sondern die frĂŒhe Auseinandersetzung mit Lesen und Schreiben. Dies sei darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass Unterricht und Leistungsmessungen unter Verwendung von Bildungssprache stattfinden, die eine grĂ¶ĂŸere NĂ€he zu geschriebener als zu gesprochener Sprache hat. SchĂŒlerInnen mĂŒssten in ihrer bildungssprachlichen Kompetenz systematisch und kontinuierlich in allen UnterrichtsfĂ€chern gefördert werden. Dabei sind Fachtermini weniger Bedeutsam als Funktionswörter – diese werden im Mathematikunterricht bisher aber selten in den Blick genommen.

Veronika Baer setzt sich mit der Benachteiligung von Frauen in den deutschen Naturwissenschaften auseinander, weist auf exkludierende Mechanismen, Vorurteile, fehlende UnterstĂŒtzung und sexuelle BelĂ€stigung hin und betont die besondere Bedeutung von Gender im Kontext der Naturwissenschaften – zum Zwecke der Gerechtigkeit ebenso wie zum ökonomischen Nutzen.

Tanja Tajmel und Zalkida Hadzibegović stellen das Ergebnis einer vergleichenden Untersuchung zur zukĂŒnftigen ReprĂ€sentation von Frauen in den Naturwissenschaften vor. Demnach kann ein Großteil der (weiblichen) SchĂŒlerinnen in Sarajevo ein Physikstudium vorstellen, in Deutschland hingegen fast keine. Die Autorinnen fĂŒhren dies auf das Fehlen entsprechender Vorbilder in Deutschland zurĂŒck und formulieren entsprechende Handlungsempfehlungen.

Der Beitrag von MĂŒnire Erden nimmt Chancengleichheit im TĂŒrkischen Schulsystem in Hinblick auf Geschlecht sowie sowie die Benachteiligung der Landbevölkerung in den Blick. Sie stellt die Entwicklung des tĂŒrkischen Bildungssystems vom Osmanischen Reich bis heute dar und nennt aktuelle Probleme in Hinblick auf das Grundrecht auf Bildung. Hierzu zĂ€hlt z.B. die nur achtjĂ€hrige Pflichtschulzeit, unregelmĂ€ĂŸiger Schulbesuch sowie die umfassende Benachteiligung von MĂ€dchen. Als Ursachen werden das schnelle Bevölkerungswachstum, Landflucht sowie Konflikte zwischen religiösen Werten und schulischen Regularien genannt – die empirischen oder analytischen Grundlagen dieser Ursachenzuschreibungen bleiben jedoch unklar, die Darstellung bleibt Anekdotenhaft.

Rita Wodzinski & Christoph T. Wodzinski eröffnen den dritteln Teil des Bandes, in dem LösungsvorschlĂ€ge fĂŒr den Unterricht in den Blick genommen werden, und stellen Möglichkeiten des differenzierten Unterrichtens im Fach Physik vor. Ausgehend von Unterschieden zwischen SchĂŒlerInnen in Hinblick auf Geschlecht, Sachkenntnis und Motivation schlagen sie insbesondere individualisiertes Lernen und die Verwendung von Problemstellungen mit verschiedenen Lösungsmöglichkeiten vor. Als widersprĂŒchlich erscheint in diesem Beitrag, dass hier die Annahme von einem/einer ‚idealen SchĂŒlerIn‘ abgelehnt wird, anschließend aber VorschlĂ€ge zum Umgang mit begabten SchĂŒlerInnen einerseits und SchĂŒlerInnen mit Lernproblemen andererseits gemacht werden – Förderbedarf wird somit an der Abweichung an einer implizit angenommenen Norm festgemacht.

Heidi Rösch stellt Besonderheiten des Zweitspracherwerbs heraus und fordert eine gezielte und umfassende Förderung von „Cognitive Academic Language Proficiency“ (was etwa der ‚Bildungssprache‘ bei Gogolin entspricht). Anhand mehrerer Beispiele zeigt Rösch auf, wie ungeeignetes didaktisches Vorgehen zu Lerndefiziten fĂŒhrt und macht entsprechende VorschlĂ€ge zur Förderung des Zweitspracherwerbs. FĂŒr den naturwissenschaftlichen und mathematischen Fachunterricht zeigt sie ebenfalls zentrale Probleme im Umgang mit Spracherwerb auf und macht konkrete und leicht anwendbare VorschlĂ€ge zum Sprachgebrauch von LehrkrĂ€ften im Unterricht.

Sylvia NeuhÀuser-Metternich & Sybille Krummbacher fordern, dem Problem der UnterreprÀsentation von MÀdchen und Frauen in Technik und Naturwissenschaften durch Förderung von Gender-SensibilitÀt bei Lehrenden in Schule und Hochschule zu begegnen und stellen beispielhaft das Ada Lovelance Mentoring-Programm vor.

Seval Fer spricht sich – in Anschluss an Vygotzky – fĂŒr ein sozialkonstruktivistisches Lernumfeld aus, in dem Lehrende und Lernende gemeinsam komplexe, nicht-lineare Lernprozesse herbeifĂŒhren. Mögliche AktivitĂ€ten sind hier z.B. kreatives Schreiben, Forschen, Experimentieren, Rollenspiele etc. Sie stellt eine tĂŒrkische Curriculumsreform nach sozialkonstruktivistischem Prinzip vor und argumentiert fĂŒr diesen Ansatz als Möglichkeit zur Überwindung linguistischer und kultureller Differenzen im naturwissenschaftlichen Unterricht.

Tanja Tajmel stellt Möglichkeiten vor, im Rahmen von Lehrerbildung auf kulturelle und sprachliche HeterogenitĂ€t im naturwissenschaftlichen Unterricht vorzubereiten. Um (zukĂŒnftige) LehrkrĂ€fte fĂŒr die Thematik zu sensibilisieren sei das ‚Prinzip Seitenwechsel‘ erfolgreich – dabei werden LehrerInnen in die Rolle von SchĂŒlerInnen mit Migrationshintergrund versetzt. Das so geweckte Problembewusstsein diene als Grundlage fĂŒr die Vermittlung von Möglichkeiten zur Förderung einer sprach-sensitiven PĂ€dagogik und der Förderung der Unterrichtssprache im naturwissenschaftlichen Unterricht. Schließlich werden einige der Unterrichtsmethoden und Arbeitsmaterialien von der CD-Rom vorgestellt.

Mit einem Ausblick schließen Klaus Starl & Tanja Tajmel den Band ab und stellen auf der Grundlage der vorangegangenen BeitrĂ€ge einen knappen Forderungskatalog an die unterschiedlichsten Bildungsakteure zusammen. FĂŒr die Förderung von Chancengleichheit sei es notwendig, das Recht auf Bildung ernst zu nehmen und entsprechende Hindernisse abzubauen, Gender- und Kultur-Mainstreaming voranzubringen, LĂŒcken in Bildungsforschung und -monitoring zu fĂŒllen, die Lehrerbildung anzupassen, UnterreprĂ€sentation bestimmter Gruppen auf allen Ebenen des Bildungswesens abzuschaffen, SchulbĂŒcher zu ĂŒberarbeiten sowie Sprachförderung systematisch als Bestandteil aller SchulfĂ€cher zu verankern.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Chancengleichheit innerhalb der Erziehungswissenschaften ist breit angelegt und reicht vom bildungsphilosophischen Diskurs ĂŒber quantitative Untersuchungen bis zu qualitativen Analysen von Ursachen und Mechanismen von Ungleichheit. Meistens wird dabei jedoch das Bildungssystem in den Blick genommen, eine Auseinandersetzung auf der Unterrichtsebene – hier in Bezug auf naturwissenschaftlichen Unterricht – ist hingegen eine große Ausnahme. Der vorliegende Band macht einen ersten Schritt zur Schließung dieser LĂŒcke und zeigt zahlreiche Ansatzpunkte zur weiteren Auseinandersetzung mit Chancengleichheit im naturwissenschaftlichen Unterricht auf. Der interdisziplinĂ€re und internationale Ansatz ist dabei besonders wertvoll. Die QualitĂ€t der BeitrĂ€ge ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von scharfsinnigen Analysen und innovativen AnsĂ€tzen bis zu anekdotenhaften Berichten. WĂŒnschenswert wĂ€re es außerdem gewesen, das Unterrichtsmaterial konsequent auf die wissenschaftlichen BeitrĂ€ge zu beziehen.
Hannes Heise (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hannes Heise: Rezension von: Tajmel, Tanja / Starl, Klaus (Hg.): Science Education Unlimited, Approaches to Equal Opportunities in Learning Science. MĂŒnster: Waxmann 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383091889.html