Die Geschichte universitärer philologischer Seminare ist nicht nur für die Geschichte der höheren Lehrerbildung, sondern auch für die Herausbildung der modernen Forschungsuniversität und die Geschichte universitären Lehrens und Lernens von hoher Relevanz. Sabine Seifert legt mit ihrer Studie zum philologischen Seminar des klassischen Philologen August Boeckh an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zwischen 1812 und 1826 nun eine detaillierte Geschichte des Gründungsprozesses, der institutionellen Rahmenbedingungen und der im Seminar geübten Praxisformen und Arbeitstechniken vor. Philologische Seminare als komplexe Verwaltungs-, Organisations- und Veranstaltungsformen waren im 18. Jahrhundert als Einrichtung für die wissenschaftliche und pädagogische Qualifikation von Lehrern an der Universität Göttingen entstanden, von wo aus sie sich an den deutschen Universitäten verbreiteten und später auch von anderen universitären Disziplinen und Fächern übernommen wurden.
Dass dem 1812 von August Boeckh (1785-1867) an der Berliner Universität eingerichteten und von ihm über fünf Jahrzehnte bis 1867 geleiteten philologischen Seminar in dieser Entwicklung eine modellbildende Rolle zukommt, legt Seiferts Studie nun detailliert und überzeugend dar. Hier zeigen sich in besonderer Weise Prozesse der Ablösung des Lehrerberufs von dem des Theologen, der Professionalisierung und fachlichen Identitätsbildung der Gymnasiallehrer als ‚Philologen‘ und der Autonomisierung und disziplinären Ausdifferenzierung der Philosophischen Fakultäten. Auf der Grundlage neu erschlossener archivalischer Materialien wie Boeckhs Plan für die Einrichtung des Seminars und den vom Ministerium entworfenen Statuten, vor allem aber der Korrespondenz Boeckhs mit dem preußischen Innen- und Kulturministerium und hier insbesondere den jährlichen Berichten Boeckhs gegenüber dem Ministerium, entwirft Seifert nicht nur eine ‚äußere‘ Geschichte der Institution „Seminar“, sondern auch eine praxeologisch konturierte „innere“ Geschichte der Einrichtung in ihrer formativen Frühphase bis 1826. Der Analyse der konzeptionellen Ziele und Rahmenbedingungen des Arbeitens im Seminar (Kapitel 2) folgen eine genaue Untersuchung der im Seminar herrschenden Interaktions-, Arbeits- und Praxisformen (Kapitel 3) und der Inhalte und Themen der studentischen Seminararbeiten, die als schriftliche studentische Arbeitspraxis in besonderer Weise für den neuen Forschungsanspruch universitären Lehrens und Lernens standen (Kapitel 4).
Bereits in der konzeptionellen Gründungsphase wird die funktionale Ambivalenz des philologischen Seminars zwischen wissenschaftlicher Fach- und pädagogischer Lehrerausbildung deutlich. Von Boeckh noch als Institution zur fachlichen und pädagogischen Qualifikation angehender Lehrer konzipiert, verschoben die für die Seminarstatuten Verantwortlichen im preußischen Innen- und Kultusministerium den Schwerpunkt auf die fachlich-wissenschaftliche Qualifikation, während für die praktische Ausbildung zunehmend das von Friedrich Gedike 1787 gegründete Berliner Seminar für gelehrte Schulen zuständig wurde. Dennoch gingen aus Boeckhs Seminar auch weiterhin nicht nur Wissenschaftler, sondern auch viele Lehrer hervor, die mit ihren im Seminar erworbenen Kompetenzen den Unterricht an den preußischen Gymnasien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Boeckh selbst empfahl der Verwaltung geeignete Seminaristen für den Lehrberuf.
Wie Seiferts Studie zeigt, war das Seminar ein privilegierter Arbeits- und Studienraum, in dem zunächst acht Mitglieder – die über eine Probearbeit und eine mündliche Prüfung durch den Seminardirektor aufgenommen wurden – durchschnittlich drei Semester lang in intensiver Betreuung durch den Seminardirektor und in engem Austausch miteinander studierten. Über außerordentliche Mitglieder und ständig steigende Zahlen von teilnehmenden Zuhörern strahlte das Seminar mit seinen Arbeits- und Lernformen allerdings deutlich weiter in die Universität aus. Die ordentlichen Mitglieder erhielten über primär leistungsbezogene Prämien, die das noch im 18. Jahrhunderte verbreitete bedürftigkeitsbezogene Stipendiensystem zunehmend ablösten, die Möglichkeit, ihr Studium zu finanzieren – was zur Bedeutung des Philologiestudiums für ärmere Studenten beitrug. Dafür aber mussten kontinuierlich Leistungen erbracht werden, so waren pro Semester eine schriftliche Arbeit einzureichen, Übungen mussten vor- und nachbereitet werden. Die Innovativität dieser Arbeitsformen tritt vor allem dann hervor, wenn man sie mit den zentralen Arbeits- und Prüfungsformen der alteuropäischen Universität vergleicht, die nur Vorlesungen kannte bzw. die in ihren Abläufen und Rollen streng geregelte Disputation: Nun wurden gemeinsam griechische und römische Schriftsteller interpretiert, studentische Seminararbeiten verlesen und von allen beurteilt sowie Fragen von Seminaristen diskutiert. Insbesondere die von den Studenten anzufertigenden und im Seminar vorzustellenden Seminararbeiten, die – soweit sie nicht gedruckt oder prämiert wurden – zwar nicht mehr archivalisch vorliegen, aber von Seifert über ihre Themen und ihre Erwähnungen in Boeckhs Jahresberichten rekonstruiert werden, standen dabei für die neue Orientierung an Forschung: Hier sollten entsprechend dem idealistischen, wenn auch oft nicht eingelösten Anspruch neue Forschungsergebnisse präsentiert werden.
Mit diesen Praktiken vollzog sich in den philologischen Seminaren die allmähliche Umstellung von frontal-vermittelnden auf neue forschungsorientierte und studentische Eigenaktivität fördernde Lehr- und Lernmethoden, die Transformation der das überkommene Wissen bestätigenden Disputation zur kritischen, neues Wissen generierenden Diskussion in einer wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft im Kleinen. Das Seminar war dabei nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern vor allem ein Ort, an dem Fähigkeiten und Fertigkeiten – der Textinterpretation, des argumentierenden Vortrags, der Diskussion, der Entwicklung von Fragen – eingeübt wurden. Dabei erscheinen nicht alle Praxisformen aus heutiger Sicht modern: so z. B. die für die philologischen Seminare in dieser Zeit typische Bedeutung des Lateinischen, und zwar in Wort und Schrift, als Sprache der anzufertigenden wissenschaftliche Abhandlungen und der mündlichen Interpretation und Diskussion – ein angesichts der abnehmenden Bedeutung des Lateinischen als Wissenschafts- und Kultursprache bereits seit dem 18. Jahrhundert einigermaßen erstaunliches Phänomen, das sich im 19. Jahrhundert so nur noch in der Altertumswissenschaft bzw. der entstehenden Klassischen Philologie halten konnte.
Entstanden im Forschungskontext „Berliner Intellektuelle um 1800“ um Anne Baillot und verbunden mit einer digitalen Edition wichtiger archivalischer Dokumente und Berichte [1], bietet Seifert mit ihrer historisch breit kontextualisierenden Vorgehensweise interessante neue Erkenntnisse für die allgemeine Universitäts- und die philologische Wissenschaftsgeschichte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der durchgängige Vergleich mit dem zeitgleich gegründeten Berliner theologischen Seminar und den vorhergehenden philologischen Seminaren von Johann Matthias Gesner und Christian Gottlob Heyne in Göttingen, von Friedrich August Wolf in Halle sowie den später gegründeten anderen preußischen philologischen Seminaren (Halle, Königsberg, Breslau, Bonn, Greifswald) zeigt die zugleich innovative wie spezifische Struktur des Berliner Seminars und gibt der Arbeit eine historische Tiefendimension, die den Entwicklungspfad der Einrichtung „philologisches Seminar“ nun genauer zu verstehen erlaubt. Zuweilen könnten noch genauere Vergleiche des Seminars Boeckhs mit den von Gesner, Heyne und Wolf gegründeten Vorläuferinstitutionen das Urteil des „Innovativen“ abmildern und das narrative Schema der ‚Ursprungserzählung‘, in die Seifert ihre Erkenntnisse zuweilen kleidet, deutlicher in Frage stellen. Dies aber schmälert weder den Wert der vielfältigen bildungshistorischen Erkenntnisse, die diese Untersuchung liefert, noch die Bedeutung des Berliner philologischen Seminars für die Universitäts-, Wissenschafts- und Bildungsgeschichte insgesamt. Wer die Entwicklungspfade zwischen alteuropäischer Lehr- und moderner Forschungsuniversität verstehen will, kommt an dieser Studie ebenso wenig vorbei wie diejenigen, die sich für die altsprachlichen Kontinuitäten zwischen frühneuzeitlicher Lateinschule und modernem Gymnasium ab dem 19. Jahrhundert interessieren, deren institutioneller Kern die philologischen Seminare waren.
[1] Unter dem Titel „Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800“ findet sich die fortlaufende Edition hier: https://www.berliner-intellektuelle.eu/author?p0178+de. Vgl. außerdem Sabine Seifert: Das philologische Seminar der Berliner Universität: Forschungsdaten zur Entstehung der modernen Forschungsuniversität und der höheren Lehrerbildung, in: bildungsgeschichte.de, Berlin 2022. DOI: https://doi.org/10.25523/32552.14
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Die Ursprünge der Berliner Forschungsuniversität
August Boeckhs philologisches Seminar in Konzeption und Praxis (1812-1826)
Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2021
(462 S.; ISBN 978-3-8305-3950-6; 68,00 EUR)
Julia Kurig (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Kurig: Rezension von: Seifert, Sabine: Die Ursprünge der Berliner Forschungsuniversität, August Boeckhs philologisches Seminar in Konzeption und Praxis (1812-1826). Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383053950.html
Julia Kurig: Rezension von: Seifert, Sabine: Die Ursprünge der Berliner Forschungsuniversität, August Boeckhs philologisches Seminar in Konzeption und Praxis (1812-1826). Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383053950.html