Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war der Verband der weiblichen Jugend in der Hitlerjugend (HJ), der staatlichen Jugendorganisation im nationalsozialistischen Deutschland. Ihr gehörten alle deutschen Kinder und Jugendlichen „arischer Abstammung“ vom 10. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr an; 1939 waren – je nach zugrunde gelegter Gesamtheit – 85% oder 98% der deutschen Jugend in der HJ organisiert, der weibliche Verband zählte zu diesem Zeitpunkt fast 8 Millionen Mitglieder [1]. Der BDM unterteilte sich in den Altersverband der 10- bis 14-Jährigen (Jungmädelbund, JM) und den der 14- bis 18-Jährigen (BDM im engeren Sinne). Dabei erwies sich gerade der JM als besonders attraktiv, bot er doch der weiblichen Jugend – entwicklungspsychologisch gesehen – bereits im Kindesalter an, ein selbstbestimmtes Jugendleben außerhalb von Elternhaus und Schule zu führen. Nach den Eintrittsgründen in den JM/BDM zu fragen, ist deshalb besonders interessant.
Nach kurzen einleitenden Referaten über den „BDM als Gegenstand der historischen Forschung“ (Kap. 1.1), über das „’Erinnern’ als Aufgabe einer kulturwissenschaftlichen Forschung“ (Kap.1.2), über „Gedächtnisleistung als Gegenstand der Forschung“ (Kap. 1.3) und über die Untersuchungsmethoden widmen sich die Autoren ihrem eigentlichen Thema. Als Forschungsmethode wurde die Oral History in Verbindung mit einer computerunterstützten qualitativen Analyse genutzt (Kap. 2). Geführt wurden 20 Interviews mit ehemaligen BDM-Mitgliedern. In der Absicht, „das Material von der Menge her etwas aufzustocken“ (38), fügten die Autoren Interviews aus Publikationen von Lisa Kock [2] und Martin Klaus [3] hinzu (38). Die ehemaligen BDM-Mitglieder wurden zu folgenden Punkten befragt: Elternhaus inklusive politischer Einstellung der Eltern, genossene (häusliche) Erziehung, Erinnerungen an die Jugendbewegung, Schulbesuch, kindliche Berufswünsche, Gründe für und Dauer der Mitgliedschaft, Betätigungs- und Beschäftigungsfeld im BDM, Bewertung der BDM-Führerin, Erinnerungen an das Erlebte, heutige Wertvorstellungen, die aus der BDM-Mitgliedschaft resultieren, Sozialdaten (37f.).
Im Wesentlichen widmet sich das Werk der Beschreibung und Analyse der „programmatischen Vorstellungen“ und der Praxis des BDM (Klappentext). Die jeweiligen Themen werden kurz skizziert und abschließend durch Auswertungen der Interviews ergänzt. Die Untersuchung setzt dazu in der „Weimarer Republik“ ein (Kap. 3), denn dieser Epoche schreiben die Autoren zu, die Menschen für den Nationalsozialismus empfänglich gemacht zu haben (39). Dazu werden „Hintergründe für die Durchsetzung des Nationalsozialismus“ (Kap. 3.1) referiert. Von besonderem Interesse sind hier die politische Einstellung und der Beruf des Vaters der Interviewten sowie die wirtschaftlichen Familienverhältnisse, in denen die Zeitzeugen aufwuchsen. Zudem wird nach dem „Leben von Frauen und Mädchen während der Weimarer Republik“ (Kap. 3.2) hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lage gefragt sowie auf die genossene Erziehung und die Freizeitbeschäftigungen der Interviewten eingegangen.
In dem lediglich siebenseitigen Kapitel „Frauenideologie und Mädchenerziehung im Dritten Reich“ (Kap. 4) fragen die Autoren nach, ob die Zeitzeuginnen Hausfrau und Mutter werden wollten (75). Das darauf folgende fünfte Kapitel widmet sich der Entstehung und Entwicklung des BDM und thematisiert dabei folgende, dem BDM zugeordnete Bereiche: Diensttracht, Aufnahme, Führerinnen und Führerinnenschulen. Hier ist auch die, zumindest im Untertitel der Arbeit formulierte, zentrale Fragestellung nach den Eintrittsgründen in den BDM wieder zu finden (Kap. 5.2.3).
Anschließend werden die „Grundlagen der Mädchenerziehung im BDM“ (Kap. 6) skizziert. Als Grundlagen der BDM-Erziehung werden körperliche Erziehung, weltanschauliche und kulturelle Schulung, soziale Mädelarbeit, Leistungsabzeichen bei Sportwettkämpfen, Reichsberufswettkämpfe sowie Propaganda mit Hilfe der „Jungmädelsendungen“ im Radio und in BDM-Zeitschriften genannt und es wird nach deren Bedeutung für die ehemaligen BDM-Mitglieder gefragt. Abschließend werden die positiven und negativen Erinnerungen der Zeitzeugen tabellarisch wiedergegeben und knapp interpretiert.
Das Werk schließt mit einer Betrachtung über „Lernen zwischen Erinnern und Vergessen“ (Kap. 7), in dem die Autoren über Erinnern und Vergessen philosophieren, mit dem fragwürdigen Ergebnis, dass „das Erinnern wie ein wundersames Arzneimittel von selbst auf den Plan tritt, das Vergessen (im Sinne von: man versucht etwas zu vergessen) dagegen verursacht oder provoziert werden muss. Das Los des Vergessens ist ebenso das Los der Bitterkeit“ (221).
Dieses abschließende Kapitel ist aber allenfalls ein Resümee im Bereich der Erinnerungsthematik, eine Zusammenfassung der Untersuchung über den BDM fehlt ebenso wie eine Begründung der Untersuchung und ihrer Fragestellung oder eine Erklärung des methodischen Vorgehens. Was die Untersuchung des BDM mit „Erinnern“ zu tun hat, erschließt sich so nicht. „Erinnern“ und „BDM“ stehen in dieser Arbeit als zwei getrennte Themen nebeneinander. In den Kapiteln, die sich dem Thema „Erinnern“ widmen (Kap. 1.2, 1.3 und 7), fehlt jede Bezugnahme auf den BDM. Somit bleibt dem Leser unklar, warum überhaupt „Erinnern“ in dieser Arbeit thematisiert wurde.
Des Weiteren ist zu kritisieren, dass die Liste der relevanten Literatur zum BDM nicht vollständig ist. Für die Thematik wichtige Quellensammlungen sowie bedeutsame oder aktuelle Sekundärliteratur werden nicht aufgelistet [4]. Die genutzte Literatur wird darüber hinaus nicht einmal nach ihrem Quellenwert unterschieden. Insgesamt zeichnet sie sich durch fehlende Aktualität und Differenzierung aus und lässt wesentliche Standardwerke vermissen – sowohl zum BDM als auch zum Erinnerungsdiskurs.
Retzlaff und Lechner geben an, in ihrer Darstellung zahlreiche Thesen aus unterschiedlichen Titeln der Sekundärliteratur, die sie in Kap. 1.1 vorstellen, zu überprüfen. Dazu werden die Aussagen der Interviews herangezogen, die zunächst kategorisiert und mittels „computerunterstützter qualitativer Analyse“ in Tabellen sowie in statistische Schaubilder umgearbeitet werden. Dieses Verfahren der Quantifizierung führt, wie die Autoren selbst schreiben, zu nicht repräsentativen statistischen Aussagen, die aber trotzdem für die Thesenüberprüfung genutzt werden – ein methodischer Fehler, der üblicherweise im Grundstudium bereits thematisiert wird. Methodisch fragwürdig ist auch die Interpretation unzureichender Aussagen, so z.B. wenn es heißt: „Nur sehr wenige Frauen [exakt: 3 von 27; die Rez.] äußerten sich zu dieser Thematik [Erziehung zur Hausfrau und Mutter durch den BDM; die Rez.]. Alle Interviewten aber waren später verheiratet und hatten Kinder. Sie sind jedoch nicht vom BDM oder JM zu Hausfrauen und Müttern erzogen worden; dieser Zukunftsentwurf war wiederum ein typisches Kennzeichen der bürgerlichen Mädchenerziehung in der Familie.“ (Kap. 4, 76).
Zuweilen werden auch gar keine Ergebnisse erzielt, weil die Interviewfragen entweder unpräzise oder zu konkret gestellt wurden – so ist z.B. die Interviewfrage „Wollten Sie Hausfrau und Mutter werden?“ (38) ziemlich unsinnig und man kann so nicht erreichen, dass die Untersuchungsfrage, „wer diese Zukunftsentwürfe vermittelte“ (75), mit beantwortet wird. An anderer Stelle führen Fehlinterpretationen in der Auswertung zu Trugschlüssen (z.B. weil vergessen wird, dass Erinnerungen nicht das Geschehene wiedergeben, sondern lediglich Konstrukte des Gewesenen sind). So ist z.B. fragwürdig, ob und inwiefern jemand die politische Einstellung des Vaters beurteilen kann. Die Behauptung, dass alle Väter bis auf einen lediglich aus wirtschaftlichen, nicht aber aus politischen Gründen der NSDAP beigetreten seien (44), ist daher kritisch zu sehen.
Insgesamt muss man festhalten, dass das Werk von Retzlaff und Lechner eine jener ärgerlichen Arbeiten ist, in denen ein wichtiges Thema in einer so indiskutablen Weise bearbeitet wird, dass man nur hoffen kann, dass niemand es liest. Es ist aber leider zu vermuten, dass auch dieses Buch seinen Weg in Bibliotheken und damit in die Hände von Studierenden findet. Hoffentlich sind die dann so ausgebildet, dass ihnen die methodischen und theoretischen Fragwürdigkeiten auffallen.
[1] vgl. Jahnke, Karl-Heinz/Buddrus, Michael (1989): Deutsche Jugend 1933–1945. Eine Dokumentation. Hamburg, S. 15.
[2] Kock, Lisa (1994): „Man war bestätigt und man konnte was!“ Der Bund Deutscher Mädel im Spiegel der Erinnerungen ehemaliger Mädelführerinnen. Münster und New York.
[3] Klaus, Martin (1983): Mädchenerziehung zur Zeit der faschistischen Herrschaft. Materialband. Frankfurt a.M.
[4] Kater, Michael H. (2005): Hitler-Jugend. Darmstadt. Klaus, Martin (1998): Mädchen im Dritten Reich. Der Bund deutscher Mädel. Köln. Miller-Kipp, Gisela (Hrsg. 2001): „Auch Du gehörst dem Führer.“ Die Geschichte des Bundes Deutscher Mädel (BDM) in Quellen und Dokumenten. Weinheim und München. Miller-Kipp, Gisela (Hrsg. 2007): „Der Führer braucht mich“ – Der Bund Deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs. Weinheim. Reese, Dagmar (Hrsg. 2007): Die BDM-Generation. Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus. Berlin.
EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)
Bund Deutscher Mädel in der Hitlerjugend
Fakultative Eintrittsgründe von Mädchen und jungen Frauen in den BDM
Hamburg: Kovac 2008
(232 S.; ISBN 978-3-8300-3422-3; 58,00 EUR)
Stefanie Jodda-Flintrop (DĂĽsseldorf)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefanie Jodda-Flintrop: Rezension von: Retzlaff, Birgit / Lechner, Jörg-Johannes: Bund Deutscher Mädel in der Hitlerjugend, Fakultative EintrittsgrĂĽnde von Mädchen und jungen Frauen in den BDM. Hamburg: Kovac 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383003422.html
Stefanie Jodda-Flintrop: Rezension von: Retzlaff, Birgit / Lechner, Jörg-Johannes: Bund Deutscher Mädel in der Hitlerjugend, Fakultative EintrittsgrĂĽnde von Mädchen und jungen Frauen in den BDM. Hamburg: Kovac 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383003422.html