In ihrer Veröffentlichung stellt Anja Kraus das selbst entwickelte Erhebungsinstrument „Öhrchen“ vor. Mit ihm soll bei geringerem Aufwand als bislang die Lebenswelt von SchülerInnen erforschbar werden. Denn nicht zuletzt auf Grund des Aufwands und der den Unterricht störenden Befragung spielte die Auslegung des Unterrichts durch die Schüler bislang eine untergeordnete Rolle (13) in der Kindheits- und Jugendforschung, die lange Zeit den außerschulischen Alltag ihrer Untersuchungsgruppe fokussierte (12). Doch anders als bei einer Befragung muss beim Einsatz eines „Öhrchen“ nicht zunächst aufwändig eine vertrauensvolle Beziehung zu den SchülerInnen aufgebaut werden; die Aufzeichnungen können relativ problemlos während des laufenden Unterrichts erfolgen. Hier sieht Kraus die Haupt-Vorteile des „Öhrchens“.
Was aber ist ein Öhrchen? Es handelt sich um ein speziell gestaltetes Aufnahmegerät, das in die Nachbildung eines menschlichen Ohrs in der Größe der Hand eines Kindes zwischen neun und vierzehn Jahren eingebettet ist. Bei der ersten Verwendung wurden solche Öhrchen von den Kindern selbst aus Ton modelliert. Bei den hier dargstellten exemplarischen Fallanalysen wurden hingegen Öhrchen aus Silkon-Kautschuk verwendet. Die Form Öhrchen wurde deshalb gewählt, weil sich Kraus von ihr einen „identifikatorischen Effekt“ (54) verspricht.
Um die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Erhebungswerkzeugs zu untersuchen, wurden die Öhrchen in mehreren Settings an Schülergruppen ausgeteilt (3. Grundschulklasse in Berlin und 4. Grundschulklasse in der argentinischen Kleinstadt Neuquen 2004, 6. Grundschulklasse in der finnischen Kleinstadt Vaasa und in Berlin 2005, sowie 6. Grundschulklasse in Sofia, Bulgarien 2006). In der Veröffentlichung werden Ausschnitte einer Untersuchung mit Schülern der 6. Klasse einer Stuttgarter Realschule dargestellt.
Dort wurden die Öhrchen mit der Aufforderung ausgehändigt, „alles das in die ‚Öhrchen‘ zu sprechen, ‚was ihnen während des Unterrichts durch den Kopf geht.‘“ Eine konkretere Anweisung hat Kraus mit der Ausgabe bewusst nicht verbunden, um gerade die unterschiedliche Verwendung und Ansprache der Öhrchen untersuchen zu können. Dies erfolgte in Anlehnung an die Methode des „lauten Denkens“. Ausgewertet wurden die Daten mittels der dokumentarischen Methode. Ãœber die Aufzeichnungen soll auf die „Habitūs“ der Schüler/innen geschlossen werden, die wiederum einen Rückschluss auf die Ansprachemodi der Öhrchen zulassen sollen.
Im Anschluss an Friederike Heinzel [1] betont Kraus die aktive Rolle der Kinder, nämlich dass „Forschung mit Kindern und nicht über sie“ (8/9) betrieben werde. Für ihr Vorhaben elementar ist die Einschätzung, dass „Kinder [...] sich vorzugsweise mithilfe kindgerechter Kommunikationsmedien und in kindgerechten, ihnen vertrauten Situationen“ (45) artikulieren.
Alle von ihr aufgestellten Thesen sieht Kraus in ihrer Untersuchung bestätigt, was sie an zwei exemplarischen Fallanalysen (Schülerin mit 5 Aufnahmen und Schüler mit 31 Aufnahmen, dargestellte Aufnahmen: 6) festmacht.
These 1: Zu vermuten ist, dass das Erhebungsinstrument Öhrchen einen hohen Individualisierungsgrad der erhobenen Daten ermöglicht.
These 1.1.: Das Öhrchen ermöglicht eine informelle und anonyme Datenerhebung, wodurch die Macht der Erziehungssituation und der Peers entschärft wird.
These 1.2: Durch das Öhrchen wird im Unterschied zu einfachen MP3-Playern der identifikatorische Wert des Erhebungsinstruments für Kinder erhöht; es wird als ein bestimmtes Etwas oder als ein vorgestellter Anderer angesprochen.
These 2: Die Erhebungen können zeigen, nach welchem „Logos“ Schule und Unterrichtsgeschehen den Schülern in Erscheinung treten und welcher Verweigerungsform sie sich bedienen (71f.).
Die Bestätigung von These 1 mit den dazugehörigen Unterthesen wird damit begründet, dass dem Öhrchen Intimes anvertraut wird, es als Projektionsfläche für die eigenen Gedanken genutzt wird (116) und sich keine Hinweise auf die Einflussnahme der Erwachsenen auf die Besprechung der Öhrchen finden lassen (119). These 2 wird als belegt angesehen, da sich aus dem „Beziehungsprofil dieses Kindchen zum ‚Öhrchen’ Konstruktionsbedingungen und -prinzipien seiner Wirklichkeit“ (116) ableiten lassen; denn das Öhrchen werde durch die „Kundgabe der eigenen Schulmüdigkeit zur oder zum Gleichgesinnten“ (121). Als Beispiel für einen hierbei aufgebauten aus Luxus und Spaß bestehenden Gegenpol zur langweiligen Schule führt Kraus eine Schülerin an, welche den Pop-Song „Barbie-Girl“ der Gruppe Aqua in ein Öhrchen singt und dann die Erläuterung „Wir sin [sic] nämlich Barbies, wisst ihr?“ (93) anfügt.
Hervorzuhebende Punkte der Ergebnisse sind außerdem die Responsivität des Öhrchens, d.h. dass es Aufzeichnen von Aussagen einzufordern scheint. Deutlich wird das an mehreren gestarteten Aufnahmen, für die sich kein konkreter Mitteilungsanlass finden lässt. Außerdem spricht Kraus überzeugend von persönlichen Entwicklungschancen (116), welche durch die Öhrchenaufnahmen ermöglicht wurden – vergleichbar denjenigen bei Tagebuchaufzeichnungen. Auf der anderen Seite hat sie ein Problem herausgearbeitet, das sich ergeben kann, weil während der Erhebung kein Forscher für die Kinder ansprechbar ist bzw. eine Reaktion des Öhrchens auf die Äußerungen der Kinder ausbleibt. Sie vermutet, dass dies im Einzelfall zum Abbruch der Aufzeichnung führen kann (118). Dies stellt eine These dar, die sie auf Grund der vorliegenden Daten jedoch nicht verallgemeinern kann und will.
Nach Kraus sind weitere Einsatzmöglichkeiten des Öhrchens vorstellbar. Neben den Kommentaren der Kinder könnten zusätzlich diejenigen der Lehrer erhoben werden. Öhrchen könnten außerdem zur Unterstützung der Selbstreflexionsfähigkeit der Kinder eingesetzt werden. Zu prüfen wäre laut Kraus auch ein Einsatz der Öhrchen zu diagnostisch-therapeutischen Zwecken.
Schon jetzt verspricht das Erhebungsinstrument Öhrchen einen eindrucksvollen Zugang zur Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Um jedoch einen fundierten Vergleich zu anderen, herkömmlichen Aufnahmegeräten herstellen zu können, sind noch weitere Untersuchungen nötig. Denn entgegen den Einschätzungen von Kraus wird die These, dass der identifikatorische Wert des Öhrchens im Vergleich zu einem MP3-Aufnahmegerät höher sei, nicht bestätigt, da keine Daten zur Verwendung von MP3-Geräten erhoben oder verglichen werden. Nutzungsunterschiede können so nur vermutet werden.
Nicht deutlich ausgeführt sind die Verwendung der erhobenen Daten in einem künstlerischen Projekt (was teilweise auf den erst im April 2007 gestarteten Teil des Vorhabens zurückzuführen ist) oder Erläuterungen zur wechselnden Verwendung der Begriffe „Öhrchen“, „Öhrchen-Installation“ und „Öhrchenplastik“. Eine ausführlichere Darstellung der erhobenen Daten (nicht nur der beiden exemplarischen Fallstudien) wäre wünschenswert, auch im Hinblick auf ihre summative Evaluation, die kaum nachvollziehbar ist.
[1] Heinzel, F.: Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim, München 2000.
EWR 7 (2008), Nr. 2 (März/April)
Die Öhrcheninstallation
Ein Erhebungsverfahren in der Kindheits- und Schülerforschung
(Schriftenreihe Studien zur Schulpädagogik, Band 55)
(Schriftenreihe Studien zur Schulpädagogik, Band 55)
Hamburg: Dr. Kovač 2007
(155 S.; ISBN 978-3-8300-3284-7; 58,00 EUR)
Timo van Treeck (Düsseldorf)
Zur Zitierweise der Rezension:
Timo van Treeck: Rezension von: Kraus, Anja : Die Öhrcheninstallation, Ein Erhebungsverfahren in der Kindheits- und Schülerforschung (Schriftenreihe Studien zur Schulpädagogik, Band 55). Hamburg: Dr. Kovac 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383003284.html
Timo van Treeck: Rezension von: Kraus, Anja : Die Öhrcheninstallation, Ein Erhebungsverfahren in der Kindheits- und Schülerforschung (Schriftenreihe Studien zur Schulpädagogik, Band 55). Hamburg: Dr. Kovac 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383003284.html