Wie bereits der Titel dieses Buches verrät, ist der Autor Peter Greß um ein Auffinden von Worthülsen in der Berufsbildung bemüht, insbesondere deren unreflektierter Gebrauch in der Praxis. Als Zielpublikum werden alle identifiziert, die mit Berufspädagogik befasst sind. Auf einen zweiten Blick wird aber klar, dass es vor allem um die Praxis und den Unterricht in Berufsschulen geht. Dieser Schultypus steht im Mittelpunkt des ersten Kapitels und der Problemstellung, während sich die anderen Kapitel jeweils der Kritik eines bestimmten Konzeptes widmen. Für diese Themen sollen die Umsetzung und die Relevanz für die berufspädagogische Praxis in Frage gestellt werden. Inhaltlich geht es um die Schlagworte Lerntheorien und Hirnforschung, Ganzheitlichkeit, Konstruktivismus, Methoden, Handlungsorientierung, Lernfelder, Lernortkooperation sowie Kompetenzen.
Im ersten Kapitel eröffnet der Autor das Problemfeld zur Situation berufsbildender Schulen in Deutschland. Dabei stellt er zu Recht fest, dass es ein komplexes Bild durch die vielen Berufe, Schulformen und Abschlüsse zu bearbeiten gilt. Doch scheinen die berufsbildenden Schulen in Gefahr, denn unter „dem faszinierenden Anschein eines blühenden Schulwesens verbergen sich zerstörerische Tendenzen, die zum Teil selbst, zum Teil fremd, zum Teil strukturell bedingt sind“ (13). Ob eine solche Art von Thesen als polemisch und undifferenziert zu werten wäre, bleibt der Leserschaft überlassen.
Durchaus nachvollziehbar – und eventuell auf der Erfahrung als Lehrperson des Autors basierend – ist das Anliegen, die naive und unreflektierte Übernahme von Rezeptwissen in die Schulpraxis anzuprangern. Dies mündet im konkreten Fall in zahlreiche Zitate, welche die vorgestellten Konzepte und ihre Auslegung thematisieren. Allerdings wird die Komplexität, die Greß für die berufsbildenden Schulen konstatiert, einem kritisierten Thema nicht in derselben Weise zugestanden. Für „die“ Neuropsychologie steht vor allem Vester, für „die“ Methodendiskussion Klippert und für „die“ Lernortkooperation Euler am Pranger.
Für den ganzheitlichen Unterricht geht der Autor besonders auf die falsche oder fehlende Zitation von Pestalozzi ein. „Auf Pestalozzi berufen sich alle – Vertreter der Elementarpädagogik, der Heilpädagogik bis hin zur Berufspädagogik [...] Besonders die Vertreter des handlungsorientierten und ganzheitlichen Unterrichts greifen immer wieder auf seien legendären Satz des Lernens mit ‚Kopf, Herz und Hand’ zurück“ (44). Darauf folgt eine Rekonstruktion von Pestalozzis Ideen in seiner Zeit, um zu schließen, dass ganzheitlicher Unterricht einer „Suche nach Atlantis“ gleicht (57). Greß’ Anliegen ist hier durchaus nachvollziehbar, aber der Tonfall liest sich, wie in den Zitaten deutlich wird, eher verallgemeinernd und nicht ohne eine Note von Pessimismus.
Nach den Kapiteln über Konstruktivismus und handlungsorientiertem Unterricht kommt der Autor zu einer Kritik an Lernortkooperation. Greß konzentriert sich auf die Kritik an der Kultusministerkonferenz und die inhaltlose Festschreibung von Kooperation zwischen Schule und Betrieb in der Gesetzgebung, die auf die 1960er Jahre zurückgeht. Neben dieser Kritik gäbe es aber auch Beispiele funktionierender Zusammenarbeit der Beteiligten im Bildungs- und Beschäftigungssystem, die der Praktiker vergeblich in diesem Buch sucht. Auch die Kritik zum Konzept der Schlüsselqualifikationen im Kapitel Kompetenzen ist längst geäußert. Nicht jedes Konzept taugt für die Praxis, aber sollte die Kritik der Konzepte sich auf diesen Aspekt beziehen, so wäre wenigstens die Entwicklung von alternativen Szenarien eine Möglichkeit, die Leserschaft für die Praxis an berufsbildenden Schulen zu rüsten.
Formal enthält das Buch ein Literatur-, ein Stichwort- und ein Abbildungsverzeichnis, wobei das Stichwortverzeichnis einer weiteren Überprüfung bedurft hätte. Beispielsweise findet sich zum Stichwort „Handlungskompetenz“ kein Verweis auf ein Unterkapitel zum ganzheitlichen Unterricht, das diesem Thema gewidmet ist (70).
Als Fazit lässt sich festhalten, dass der Autor inhaltsleere Diskurse entlarven will und einen wissenschaftsorientierten Ansatz anmahnt (304). Zwar bricht Greß eine Lanze für die berufsbildenden Schulen in Deutschland, allerdings werden die Fehlentwicklungen in der konzeptionellen Umsetzung vor die eigentlichen Zukunftsvisionen gestellt. Alles in allem wendet sich das Buch gegen Rezepturen, die einfachen Ansätze und deren unkritische Übernahme in die berufliche Praxis. Für Lehrpersonen mag dies als Rat zur Vorsicht verstanden werden, ein konstruktives Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis wird allerdings nicht aufgezeigt.
EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)
Irrwege moderner Berufsbildung
Zauberworte und Mythen der Berufspädagogik
Marburg: Tectum 2007
(331 S.; ISBN 978-3-8288-9395-5; 29,90 EUR)
Markus Weil (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Weil: Rezension von: Greß, Peter: Irrwege moderner Berufsbildung, Zauberworte und Mythen der Berufspädagogik. Marburg: Tectum 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382889395.html
Markus Weil: Rezension von: Greß, Peter: Irrwege moderner Berufsbildung, Zauberworte und Mythen der Berufspädagogik. Marburg: Tectum 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382889395.html