Der Danziger Chirurg Erwin Liek, rechtsgerichteter Gegner des Wohlfahrtsstaats, proklamierte 1927 in seinem in vielen Auflagen erschienenen Buch „Der Arzt und seine Sendung“, dass die Kurpfuscher deshalb erfolgreich seien, weil es zu viele Mediziner und nicht Ärzte gebe [1]. „Mediziner“ – das waren in den 1920er Jahren jene naturwissenschaftlich-technisch ausgebildeten Spezialisten, die einerseits an der Spitze der so erfolgreichen modernen Forschung und Klinik standen, andererseits einer stetigen Kritik ausgesetzt waren, die auch von medizinanthropologisch argumentierenden und philosophisch ausgebildeten Ärzten wie Viktor von Weizsäcker oder Karl Jaspers vorgebracht wurde. „Ärzte“ – das waren hingegen jene ganzheitlich heilenden, eine Beziehung zum kranken Menschen aufbauenden Persönlichkeiten, wie sie im durchaus fiktiven Ideal des Hausarztes Gestalt anzunehmen schienen. „Kurpfuscher“ – das waren schließlich jene zumeist naturheilkundlichen Praktiker, die in Konkurrenz zum etablierten Gesundheitssystem standen und diesem doch auch zugehörten.
Diesen Streit über Begriffe und Bezeichnungen in der Medizin der Weimarer Republik hat Jill Gossmann zum Thema ihrer ausführlichen Studie über gesundheitspädagogische Diskurse in der Weimarer Republik gemacht. Sie hat dabei zunächst anhand einer spezifischen Fragestellung den Stand der medizinhistorischen Forschung neu dargestellt. Zentral geht es in der Monografie um Gesundheitsfürsorge und sogenannte Volksaufklärung in der modernen Massenkultur. Eine zunehmend auf Prävention setzende, mithin der Mitwirkung, heute würde man sagen der „Compliance“ bedürftigen Gesundheitspolitik, nutzte unterschiedliche Medien, um Wissen in einer zu belehrenden oder aufzuklärenden Bevölkerung zu verbreiten. Auch hier machte die Begriffsverwendung „belehrend“, „erziehend“ oder „aufklärend“, wie Jill Gossmann in einem Kapitel präzise zeigt, einen großen Unterschied (185-203). Medial – etwa durch Vorträge, Theateraufführungen, Presseberichte, Rundfunksendungen, bildliche Darstellungen und Aufklärungs- oder Spielfilme – sollten die Massen beeinflusst sowie zu biologischem Denken und hygienischem Handeln angeregt werden. Dabei wurde auf neuestes Wissen rekurriert, wie etwa auf die oftmals mit Kriegsmetaphorik dargestellten Gefahren durch Mikroben und die Bedrohung durch Krebserkrankungen.
Diese Geschichte ist insbesondere in Bezug auf die Themenbereiche Prävention und Populärwissenschaft grundsätzlich gut erforscht. Allerdings stellt Jill Gossmanns Perspektivwechsel die Frage in den Mittelpunkt, welche Ärzt:innen eigentlich an der „hygienischen Volksbelehrung“ beteiligt waren und ob es dabei zu Kooperationen kam. Da der Diskurs über Gesundheit und Krankheit insbesondere in der Weimarer Republik hochgradig politisch war, fokussiert sie ihre Studie zudem auf die Konflikte zwischen den als „links“ und „rechts“ nur unzureichend bezeichneten Lagern. In einem Kapitel rekonstruiert die Historikerin dazu die grundsätzliche Frontenstellung, wenn sie prägnant die zeitgenössische Frage dekonstruiert, ob „der Kapitalismus“ oder „moralischer Verfall“ die eigentliche Ursache der „Erkrankung des Volkes“ sei (307-326). Es ist eine der Stärken der umfangreichen Schrift, dass Jill Gossmann dabei deutlich macht, dass sich diese Positionen gar nicht ausschließen mussten. In diesem Sinne versucht sie dann auch zu eruieren, ob es die Gesundheitserziehung selbst ist, die den Kernbestand der Verständigung zwischen den berufsständischen und politischen „Milieus“ und „Kulturen“ darstellt.
In der Tat liefert Jill Gossmann dann eine prägnante und ausdifferenzierte Darstellung des ärztlichen Berufsstandes in der Weimarer Republik. Auf dieser Basis beschäftigt sie sich mit unterschiedlichen Praktiken der „hygienischen Volksbelehrung“, um dies schließlich anhand von drei Großveranstaltungen zur Gesundheitsaufklärung zu exemplifizieren. Die Darstellung des gesundheitspolitischen Feldes ist notwendigerweise komplex, da es um unterschiedliche Ebenen von Verschränkungen geht. Dies umfasst Wissenskulturen wie Bakteriologie, Eugenik und Sozialhygiene ebenso wie die Differenz zwischen den frei praktizierenden Ärzten, Staatsbediensteten und den Laienärzten. Da diese Distinktionskämpfe fast ausschließlich von Männern durchgeführt wurden, bleibe ich hier, wie die Autorin selbst, bei der männlichen Form. Schließlich stellt die politische Orientierung der Ärzteschaft einen roten Faden der Monografie dar. Eine Gemeinsamkeit ist dabei, dass die Ärzte selbst eine Art Führungsrolle in einer zunehmend biologisch definierten Gesellschaft beanspruchen. In einer klugen Analyse der zeitgenössisch vor allem von den Ärzteverbänden vorgebrachten Behauptung, Ärzte handelten „überparteilich“ (121), gelingt es der Autorin diese gesellschaftliche Neupositionierung sehr genau herauszuarbeiten.
Anhand einer Text- und Bildanalyse entsprechender Publikationsorgane exemplifiziert Jill Gossmann die zumeist paternalistischen Kommunikationsformen dieser Ärzte mit den oft per „Du“ angesprochenen Laien, also den zu erziehenden „Massen“. Dies zeigt sich etwa in der Wartezimmerzeitschrift „Das Hörrohr“ in ebenso launigen wie belehrenden, gerne auch gereimten Aufforderungen zum ebenso hygienischen wie moralischen Verhalten. In den teilweise auch dem sozialistischen Feld zugehörigen Publikationen der Lebensreformbewegung wurden hingegen durchaus auch naturheilkundliche, auf jeden Fall aber körperkulturelle Positionen einbezogen, die dazu beitragen sollten, den geknechteten Arbeiterkörper zu befreien und wieder aufzurichten. Von großer Bedeutung ist dabei, dass der gesundheitspädagogische Diskurs auch von der Bildungs- und Schulreform geprägt war. Das meinte nicht nur die Einbeziehung von Schulgesundheitspflege, Körperkultur und Hygieneunterricht in die Schulen, sondern auch eine Kritik des „einpaukenden“ Lernens. Hier wurde im Grunde einem reformpädagogischen Diskurs gefolgt, wie er sich – dies sei ergänzt – auch in den Debatten zur Reform der Medizinausbildung selbst widerspiegelte.
Neue Orte der Wissensvermittlung, die zeitgenössisch auch als zielorientierte „Propaganda“ oder eher negativ konnotierte „Reklame“ verstanden wurden, waren die großen Gesundheitsveranstaltungen der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Dabei ging es um eine möglichst unterhaltsame Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung und zugleich deren Mobilisierung zu gesundheitlicher Verantwortung. Die Reichsgesundheitswoche 1926 war staatlich organisiert und größtenteils finanziert sowie am US-amerikanischen und britischen Vorbild ausgerichtet. Sie fand in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen statt und stand aus konservativer Perspektive unter dem Verdacht des Spektakels, während eher linksgerichtete Ärzte die allzu große Nähe zur Industrie anklagten. Die im selben Jahr veranstaltete Ausstellung für Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen (Ge-So-Lei) ebenfalls 1926 in Düsseldorf ging auch auf eine lokale Initiative der Düsseldorfer Industrie zurück und hatte einen sozialhygienischen Fokus. Dass dabei die „Heilung des Volkskörpers und der Volksseele“ das eigentliche Ziel war, wurde von dem pädiatrischen Sozialhygieniker Arthur Schloßmann, der treibenden Kraft dieser „Leistungsschau der deutschen Wissenschaft und Industrie“, hervorgehoben (391, 396). Die II. Internationale Hygiene-Ausstellung 1930 und 1931 in Dresden war dann eine Art Fortsetzung der Ge-So-Lei, mit einer stärkeren Fokussierung auf die staatlichen Leistungen im Bereich der Gesundheitsvor- und -fürsorge. Sie fungierte zugleich auch als Eröffnungsveranstaltung für den Bau des Hygiene-Museums. Damit einher ging eine viel stärkere Berücksichtigung neuer Präsentationsformen und Methoden der Bildungsarbeit (423). Die Dresdner Ausstellung verband dabei Werbung mit Gesundheitsaufklärung, war aber zugleich auch explizit international, 1930 auch unter starker Beteiligung der Sowjetunion, ausgerichtet. Diese Großveranstaltungen waren außergewöhnliche Orte der Interdiskursivität, im Unterschied zu den ansonsten in aller Regel isolierten Diskursorten wie etwa den Fachzeitschriften.
Jill Gossmann hat diese unterschiedlichen, nicht immer trennscharfen, sich auch widersprechenden und überschneidenden gesundheitspädagogischen Positionen in einem angemessen großen Bogen dargestellt. Die schwierige Frage nach der integrativen Funktion der „hygienischen Volksbelehrung“ kann sie dabei natürlich nicht erschöpfend erklären. Dazu bräuchte es wohl eine komplementäre Arbeit, die weniger akteurszentriert das Feld noch einmal anhand der diskursiven Elemente selbst untersucht.
[1] Liek, E. (1927). Der Arzt und seine Sendung. (6. Aufl., S. 154). Lehmanns.
EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)
Mediziner und die Erziehung der „Massen“
Gesundheitspädagogische Diskurse in der Weimarer Republik
Marburg: Tectum-Verlag 2022
(527 S.; ISBN 978-3-8288-4541-1; 104,00 EUR)
Heiko Stoff (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heiko Stoff: Rezension von: Gossmann, Jill: Mediziner und die Erziehung der „Massen“, Gesundheitspädagogische Diskurse in der Weimarer Republik. Marburg: Tectum-Verlag 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382884541.html
Heiko Stoff: Rezension von: Gossmann, Jill: Mediziner und die Erziehung der „Massen“, Gesundheitspädagogische Diskurse in der Weimarer Republik. Marburg: Tectum-Verlag 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382884541.html