EWR 20 (2021), Nr. 2 (MĂ€rz/April)

JĂŒrgen Trabant
Wilhelm von Humboldt (1767-1835)
Menschen, Sprachen, Politik.
Humanistische PortrÀts, Hrsg. von H. Cancik/R. Faber/R. Schöppner, Bd. 5
WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2021
(107 S.; ISBN 978-3-8260-7149-2; 9,80 EUR)
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) JĂŒrgen Trabant, seit Jahrzehnten mit Interpretationen der sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Arbeiten Wilhelm von Humboldts prominent sichtbar (auch mit Sinn fĂŒr das Detail ), prĂ€sentiert in dem jetzt vorgelegten, so schmalen wie konzisen BĂ€ndchen sein Thema in der Reihe „Humanistische PortrĂ€ts“. Die bereits erschienenen Titel galten Christa Wolf, dem französischen Humanisten und im PlĂ€doyer fĂŒr Toleranz gegen Calvin hervorgetretenen protestantischen Theologen Sebastian Castellio (1515-1563), dem Schriftsteller Heinrich Mann und der SozialpĂ€dagogin Alice Salomon – eine keineswegs alltĂ€gliche, aber sehr inspirierende Liste, wenn man an die StandarderzĂ€hlungen von „Humanisten“ denkt. Wie passt Humboldt in diese Reihe? Kann man ihn zu den Personen rechnen, die – wie die Reihenherausgeber aus der „Humanistischen Akademie“ ihr Programm in einem Vorwort erlĂ€utern – „gezeigt haben, dass ohne HumanitĂ€t Humanismus nicht zu machen ist“, die „durch ihr Leben, ihr Reden, Schreiben, Handeln ‚Menschlichkeit‘, ‚Bildung und Barmherzigkeit‘ bewiesen, den Menschen ‚in die Mitte‘ gestellt haben“, die Menschen sind, die auch „‚Bildung‘ nicht als Privileg“ verstehen? Dabei, das beruhigt den angesichts derart geballter PositivitĂ€t etwas beunruhigten Leser, soll das PortrĂ€t „keine Heiligengeschichte“ darstellen, „sondern [
] anschauliche Charakteristik“, „Irrwege und Missbrauch, Scheitern und Fehlentwicklung“ nicht ausschließen.

Trabant deutet im Untertitel an, in welchen Referenzen er den Humanisten Humboldt identifizieren will: „Menschen Sprachen Politik“. Der Text prĂ€sentiert das in fĂŒnf Kapiteln: Mit einer „PortrĂ€t-Skizze“ (1.) zuerst, der (2.) „Bewegungen“ folgen, nicht etwa soziale, sondern Humboldts eigene Bildungsbewegungen „auf der Suche nach der Wissenschaft vom Menschen“. In Kap. 3 folgen „Missionen: der Staatsmann“, mit der politischen Agenda, fĂŒr die Humboldt sich in Preußen mehr oder weniger erfolgreich von der Bildungspolitik ĂŒber Verfassungsfragen bis zur MuseumsgrĂŒndung engagiert hat. Das PortrĂ€t mĂŒndet (4.) in „Ankunft: Die Sprache“, und hier sieht man, dass der Sprachtheoretiker Trabant die Summe dieses Lebens doch sprachphilosophisch zusammenfasst, bis in das „Fazit“, und dann (5.) kommt der Bruder „
 und Alexander“. Erfreut notiert man jedenfalls schon hier, dass der „Neuhumanismus“, auf den die PĂ€dagogen Humboldt gern reduzieren, keinen systematischen Gliederungspunkt liefert.

Überzeugt das PortrĂ€t auch im Detail? Trabant hat fĂŒr die „Charakteristik“ seines Helden (um Humboldts eigene Qualifizierung der Gattung zu benutzen) kaum mehr als 80 Seiten zur VerfĂŒgung, Literaturangaben, Endnoten und eine Bibliographie der zu Lebzeiten publizierten Schriften Humboldts fĂŒllen den Rest – nicht neue Forschung, ihre reflektierte Pointierung bestimmt die Argumentation. Die einleitende „PortrĂ€t-Skizze“ gibt eine knappe Übersicht, keine Diskussion der internationalen Forschung, resĂŒmiert die wichtigsten Etappen des Lebenslaufs, der von Tegel in die Welt – der Bildung, der Politik, der Wissenschaft – und zurĂŒck nach Tegel fĂŒhrt (Göttingen als Studienort ist etwas knapp prĂ€sent, Blumenbach z.B. und der „Bildungstrieb“ fehlen ganz), und hebt, selbst immer noch ĂŒberrascht von dieser Beobachtung des Germanisten Ernst Osterkamp , die Tatsache hervor, dass Humboldts Leben und Werk ein „NachlassphĂ€nomen“ darstellen. Das gelte einerseits, weil er in der Wahrnehmung wesentlich in Texten und Korrespondenzen existiere, die zu seinen Lebzeiten öffentlich nicht prĂ€sent waren, und andererseits, weil sich das Bild von Leben und Werk, auch vom (universitĂ€tsbezogenen) Mythos Humboldts erst in der nachgehenden Rekonstruktion formt, also vom Nachruf Boeckhs 1835 bis zu Trabants Deutung 2021.Trabant konstruiert den Lebenslauf als Bildungsprozess und die individuelle Praxis triadisch: „Bewegungen“, „Missionen“ „Ankunft“.

In den Bewegungen zeigt er, humboldtianisch und bildungstheoretisch gedacht, wie sich die IndividualitĂ€t in „Wechselwirkung“ mit diversen Welten konstituiert: zuerst mit personalen Welten, im GesprĂ€ch v.a. mit Schiller, „der einzige Mann, den ich auf dieser Erde sehr geliebt habe“, und Goethe, als Initiation in Dichtung und Philosophie (er liest mit Schiller Kant), dann mit Kulturen, natĂŒrlich „das Griechische“, endlich mit der Differenz und Gemeinsamkeit der Geschlechter. Und da liefert Trabant in der sprachphilosophischen Interpretation von Humboldts Ehrenrettung fĂŒr den „Ausdruck: FreudenmĂ€dchen“ (23) eine unterhaltsam-bildendem gelehrte Trouvaille. Gegen aufklĂ€rerische Moralapostel wird das Wort neu gelesen, von der Freude aus, die der SexualitĂ€t eigen ist, und zugleich zeigt Trabant die große Bedeutung der SexualitĂ€t fĂŒr Humboldt, den fĂŒr ihn zwingenden Zusammenhang von Sinnlichkeit, SexualitĂ€t und Geist, schon „prĂ€freudianisch“ (26), bis hin zum Aufweis der Differenz und Gemeinsamkeit der Geschlechter, die Humboldts Geschlechterphilosophie in der Synthese von TraditionalitĂ€t und ModernitĂ€t luzide demonstriert. Die Bildungsreisen nach Paris, zu den Basken und nach Rom, nicht zufĂ€llig jĂŒngst als ethnologische Forschungsreisen interpretiert, runden die Bewegungen ab. Die staatsmĂ€nnischen „Missionen“ leben vom Ertrag dieser „Bewegungen“, denn Humboldt ist ein „Mann des Zupackens“ geworden, der zudem politische Probleme in klaren Texten „glĂ€nzend formulieren“ kann (44). Das beweist er bildungspolitisch in Preußen, wo er, seine bekannteste „Mission“, 1809/10 „ein kohĂ€rentes Erziehungssystem“, eingeschlossen die „Prinzipien einer Idealen UniversitĂ€t“ konzipiert; aber „schaffen“ (43), wie Trabant formuliert, ist zu stark, weil es die Realisierungsfriktionen ausblendet. Er agiert hier auch sehr wohl in der Linie seiner frĂŒhen liberalen Staatstheorie, wie die zu Recht, auch gegen den dĂŒmmlichen aktuellen Vorwurf des Antisemitismus bei Humboldt, stark akzentuierte Stellungnahme von 1810 zur „Konstitution ĂŒber die Juden“ belegt.

Die Differenz von Entwurf und Scheitern zeigt sich allerdings deutlich in Verfassungsfragen, die 1819 zu seinem RĂŒckzug nach Tegel fĂŒhren – aber hier wĂŒrde ich, „NachlassphĂ€nomen“! – die Wirkungsgeschichte des liberalen Theoretikers Humboldt stĂ€rker als Trabant akzentuieren, die ja schon, international, mit John Stuart Mills „On Liberty“ l859 einsetzt. In Bildungsfragen ist er 1829/30 noch einmal erfolgreich, wenn er das Museum im Lustgarten als Ort der „Àsthetischen Erziehung des Volkes“ (59) begrĂŒnden kann.

Ihr Ziel findet diese Biographie, „Ankunft“ ist Trabants These, in Humboldts Arbeit an der Sprache. Hier kommt auch der Humanist zur Vollendung: denn „Der Mensch ist nur Mensch in der Sprache“ (14, 39). Das „Fazit“ stilisiert die These noch stĂ€rker, denn es ist „die Idee der Sprache, die sich in Wilhelm von Humboldt offenbart“ (86). Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, Bildungsprozesse und der Umgang mit Welt kommen in seinem Modell von Sprache, einer Wirklichkeit jenseits der TrivialitĂ€t von Kommunikation und dem Gebrauch relativ beliebiger Zeichen, zur Einheit einer eigenen Welt, die als „Arbeit des Geistes“ und der ReprĂ€sentation von „Weltansichten“ auch die Einheit von Anthropos und Kosmos stiftet, also in der Symbiose, WĂŒrde und Anerkennung diverser Welten, fĂŒr die Wilhelm und Alexander stehen, als Humanisten. Trabant hat auch dafĂŒr den ĂŒberzeugenden Beleg, wenn er sein PortrĂ€t mit einem Zitat aus Alexanders „Kosmos“-Vorlesungen schließt, der seinen Bruder Wilhelm mit „ihrer gemeinsamen kosmo-politischen Botschaft“ (Trabant) zu Wort kommen lĂ€sst: Sie suchen, so wird Wilhelm von Alexander zitiert, als „Idee“ der Geschichte die „Menschlichkeit“, das Bestreben, die Menschheit „ohne RĂŒcksicht auf Religion, Nation und Farbe“ als „verbrĂŒderten Stamm“ zu sehen, vereint in der Arbeit an der „Vervollkommnung“ des „ganzen Geschlechts“ (88). Ohne Zweifel, man muss Trabants „GemĂ€lde“ studieren, um Humboldts „Charakter“ als den eines „Humanisten“ zu verstehen.

(1) JĂŒngster Beleg dafĂŒr sind seine BeitrĂ€ge in P. Spies/U. Tintemann/J. Mende (Hg.) (2020): Wilhelm und Alexander von Humboldt. Berliner Kosmos. Köln: Wienand. Dort findet man einen Essay ĂŒber „Die BrĂŒder Wilhelm und Alexander von Humboldt“ (S. 11-17), den man ergĂ€nzend zu der sehr knappen Skizze in Kap. 5 lesen sollte, und Texte, die den jeweiligen „Kosmos“ in der Einheit von MaterialitĂ€t und Theorie beschreiben: „Sprachphilosophie – der Schreibtisch“ (123-127), „Amerika – das Wörterbuch“ (129-131), „Übersetzen – das Griechische“ (161-163).
(2) Trabant beruft sich auf E. Osterkamp: Gesamtbildung und freier Genuss. In: J. Trabant (Hg.) (2018): Wilhelm von Humboldt: Sprache, Dichtung und Geschichte. Paderborn: Fink, 57-79 (Trabant zitiert den Titel etwas unvollstÀndig, so dass er wie eine Monographie aussieht. Es ist aber die von ihm edierte Dokumentation des Symposions der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften anlÀsslich von Humboldts 250. Geburtstag).
(3) So R. Mattig (2019): Wilhelm von Humboldt als Ethnograph. Bildungsforschung im Zeitalter der AufklÀrung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Trabant, JĂŒrgen: Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Menschen, Sprachen, Politik. Humanistische PortrĂ€ts, Hrsg. von H. Cancik/R. Faber/R. Schöppner, Bd. 5. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382607149.html