Ob nun Kritikfähigkeit als zentrales Erziehungsziel verstanden oder eine kritische Geisteshaltung als unverzichtbare Voraussetzung erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung gilt – Kritik stellt in vielerlei Hinsicht ein bedeutsames Element pädagogischen Denkens dar. Nach landläufiger Überzeugung braucht Kritik aber ein Kriterium als Grundlage oder Bezugspunkt, von dem aus sie operieren kann. Mit der postmodernen Infragestellung universaler Urteilsregeln und den großen geschichtsphilosophischen Konstruktionen zur Legitimation wissenschaftlichen Wissens scheint der Kritik diese Grundlage entzogen worden zu sein: Kritik kann nicht mehr auf einen sie ermöglichenden und legitimierenden archimedischen Bezugspunkt zurückgreifen, von dem aus die für ihr Unterfangen erforderliche Differenz zum Gegenstand etabliert werden könnte. Wenn daraus nicht relativistische Indifferenz oder resignierter Verzicht auf das kritische Moment des Denkens folgen sollen, lautet die Frage unvermeidlich: Wie ist (bildungswissenschaftliche) Kritik unter den Bedingungen der postmodernen Entzauberung der „großen Erzählungen“ möglich?
Auf diese Weise lassen sich Ausgangslage und Fragestellung der beachtenswerten Studie vorstellen, die der junge Wiener Bildungswissenschaftler Richard Kubac unter dem Titel „Notwendige Illusionen. Solidarische Anmerkungen zu bildungswissenschaftlicher Kritik in der condition postmoderne“ vorgelegt hat. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet ein Begriff von Kritik, den Kubac in der Einleitung entwickelt und der die unverzichtbare Differenz zu je vorfindlichen Wissensansprüchen aus dem Hinweis auf die Lücke zu gewinnen sucht, die sich unter postmodernen Bedingungen zwischen jedem Wissen und seiner Legitimation auftut. Den Einsatz einer so verstandenen Kritik bildet somit der Anspruch, einer Sache gerecht zu werden, ohne solche Gerechtigkeit mittels eines feststehenden Instrumentariums oder einer metaphysisch beglaubigten Instanz herstellen zu können.
Der Frage, wie eine solche Auffassung von Kritik theoretisch genauer ausgearbeitet werden kann, geht Kubac in Auseinandersetzung mit drei Denkansätzen nach, die der Postmoderne zumindest nahe stehen: der Negativen Dialektik Theodor W. Adornos, der Philosophie des Widerstreits von Jean-François Lyotard und dem skeptisch-transzendentalkritischen Ansatz von Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff. Das Gemeinsame dieser drei Positionen besteht für Kubac darin, dass Kritik jeweils als Einspruch gegen die Beendigung eines Denkvorgangs verstanden wird und auf eine Solidarität mit dem verweist, was durch diese Beendigung gewaltsam beschnitten oder zerstört wird. Bei Adorno erscheine dies als „Solidarität mit dem Nichtgedachten“, also dem, was dem begrifflich-identifizierenden Denken entgeht, während die Solidarität Lyotards dem „Nichtgesagten“ gelte, also dem, was in den je vorherrschenden Sprachspielen nicht artikuliert werden kann. Bei Fischer und Ruhloff schließlich könne Kritik als „Solidarität mit dem Nichtgewussten“ verstanden werden, also mit dem, was sich dem Wissen (bzw. dem Wissenkönnen) entzieht. In allen drei Fällen agiere Kritik von einem prekären Ort aus, da keiner der drei Ansätze über ein substantielles Kriterium verfüge; den Bezugspunkt der Kritik bilde vielmehr jeweils eine Leerstelle, die auf das Bestreben verweise, der Sache, um die es geht, gerecht zu werden. Den Einsatz von Kritik bezeichnet Kubac deshalb als „notwendig illusionär“, insofern er auf einer Illusion beruhe, die zugleich notwendig sei, um überhaupt Kritik üben zu können – oder mit seinen eigenen Worten: es handle sich um die „heuristische Inanspruchnahme einer als Täuschung gleichwohl erkannten Täuschung, um ein vorliegendes Urteil über Faktisches (...) als kritikwürdig thematisieren zu können“ (98).
Adornos Negative Dialektik, die Kubac „an der Nahtstelle zwischen modernem und postmodernem Denken“ ansiedelt, wird von ihm als Versuch gedeutet, dem Denken die Kraft der Kritik zurückzugeben, die durch die These vom umfassenden gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang aus der „Dialektik der Aufklärung“ verloren gegangen sei. Dialektik erscheine dabei als immanente Kritik des identifizierenden Denkens, d.h. als Einspruch gegen den mit dem begrifflichen Denken unvermeidlich verbundenen Anspruch, die Sache bzw. das Gedachte adäquat zu erfassen. Allerdings gehe Adorno über eine bloß immanente Kritik insofern hinaus, als er den Anspruch erhebe, mit dieser Kritik zugleich auf das Leiden der Subjekte zu antworten, das von der Gewalt totalisierender Begriffe ausgelöst wird. Problematisch ist für Kubac jedoch zum einen, dass die Negative Dialektik trotz Adornos Kritik an der Repräsentationslogik des identifizierenden Denkens selber dieser Logik verhaftet bleibe, insofern Adorno an einer „nicht-diskursiven Präsenz der Wahrheit“ (Wimmer) festhalte. Zum andern erweise sich Adornos Utopie einer Versöhnung von Denken und Sache zumindest als „Schwundstufe“ einer der Moderne verpflichteten großen Erzählung, die nicht radikal genug gedacht sei.
Lyotards Philosophie des Widerstreits dagegen deutet Kubac als paradigmatisch postmodernen Ansatz, der über Adorno insofern hinausgehe, als er die Verschiedenheit des „Vielen“ nicht im Gedanken einer utopischen Versöhnung aufzuheben versuche, sondern auf einer radikal unversöhnlichen Pluralität beharre. Lyotards Reflexion auf die Eigenart modernen Wissens (nämlich aufgrund der radikalen Pluralität axiomatischer Systeme nicht mehr durch einen universalen Metadiskurs legitimierbar zu sein) werfe die Frage auf, wovon dann Legitimation noch ausgehen könne. Der technokratischen Alternative einer Legitimation durch „Performativität“ (d.h. durch das Prinzip schierer Effizienz) stelle Lyotard den Gedanken einer Legitimation durch „Paralogie“ gegenüber, d.h. durch den Verstoß gegen etablierte Regeln und die Erfindung neuer Spielzüge und Regeln. Zur Grundlage für ein postmodernes Verständnis von Kritik wird Lyotards Plädoyer für die Ermöglichung und Hervorbringung von bisher Unbekanntem für Kubac allerdings erst durch die Verknüpfung dieses Plädoyers mit der Frage der Gerechtigkeit in Lyotards Hauptwerk Der Widerstreit. Statt auf eine wie auch immer utopische Versöhnung zu hoffen, setze Lyotard auf die Proklamation des Widerstreits. Während Adorno einem klassischen, „denotativen“ Sprachverständnis verhaftet bleibe, das Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt als vorgängige Instanzen begreife, nehme Lyotard im Zuge der sprachphilosophischen Wende „die prinzipiell voraus laufende Sprachimprägniertheit von Welt“ zum Ausgangspunkt (50). Seine Konzeption des Widerstreits als eines prinzipiell unschlichtbaren Konflikts zwischen heterogenen Diskursarten, für den es keine universale Urteilsregel gebe, stelle einen Versuch dar, „die Integrität des Denkens zu retten“ (Lyotard), indem zugleich die „Notwendigkeit des Urteilens“ und die „Unmöglichkeit der Angabe eines legitimen Kriteriums“ aufgezeigt werde (58). Was bleibt, ist der ethische Appell, dem Widerstreit dadurch gerecht zu werden, dass man zur Sprache bringt, „was der unterlegenen Stimme versagt bleibt“ (63). Angesichts des zuvor konstatierten Fehlens einer übergreifenden Urteilsregel führe dieser Appell aber unvermeidlich in die Paradoxie, dass einerseits jede übergreifende Instanz in Abrede gestellt werde, von der aus ein Urteil über andere Diskursarten ergehen könnte, und zugleich doch in diesem ethischen Appell eine präskriptive Dimension in Anspruch genommen werde. Kubac interpretiert diese Paradoxie als unvermeidlich und deutet Lyotards ethischen Appell als notwendig illusionär im oben genannten Sinn: illusionär, aber zugleich notwendig, um überhaupt noch die Forderung nach Gerechtigkeit artikulieren zu können.
Mit der dritten hier behandelten Position, dem skeptisch-transzendentalkritischen Ansatz von Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff, den Kubac als „weitere Spielart postmoderner Kritik“ versteht, kommt erstmals ein Ansatz ins Spiel, der selbst der pädagogischen Denktradition zuzurechnen ist und (nicht nur deshalb) zunächst wenig Berührungspunkte mit den anderen behandelten Konzeptionen aufzuweisen scheint. Prägnant zeichnet Kubac die Entstehung dieses Ansatzes aus der neukantianisch-prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik nach, in deren Mittelpunkt die Frage stand, aufgrund welcher allgemeingültigen und notwendigen Voraussetzungen („Prinzipien“) man eine Tatsache als pädagogische ausweisen könne. In der skeptisch-transzendentalkritischen Wendung dieses Ansatzes bei Fischer und Ruhloff werde die Frage nach Möglichkeitsbedingungen beibehalten, aber von der Aufgabe befreit, „invariante Prinzipien“ ausfindig machen zu müssen. Statt dessen gingen Fischer und Ruhloff von der Unlösbarkeit dieser Aufgabe aus und schrieben der Transzendentalkritik eine dreifache Funktion zu, nämlich 1. die Offenlegung nicht explizierter Fundamentalprämissen, 2. die formallogische Prüfung der sprachlichen Struktur eines Aussagensystems und 3. die Problematisierung des sachlogischen Gehalts dieses Aussagensystems durch Prüfung darin enthaltener, aber nicht bedachter Implikationen und möglicher Konsequenzen. Die skeptisch -transzendentalkritische Haltung als theoretische Grundeinstellung, die alles Wissen auf seine „Voraussetzungsbedingtheit“ und die damit möglicherweise verbundenen Beschränkungen seiner Geltung prüft, wird von Kubac als ein Akt der Solidarität interpretiert, nämlich als Solidarität mit dem Nicht-Wissen (das ein Nicht-Wissen-Können sein kann, aber nicht muss). Einer Sache gerecht zu werden bedeute in diesem Sinne, „sie nicht mit vermeintlich Gewussten zu überwältigen“ (84). Der von verschiedenen AutorInnen vorgebrachte Einwand gegen den skeptisch-transzendentalkritischen Ansatz, dass dessen Anspruch auf strikt immanente Kritik nicht aufrechtzuerhalten sei, ohne die Differenz zum Gegenstand als unverzichtbare Bedingung von Kritik aufzugeben, lasse den Ort solcher Kritik als prekär erscheinen: Kritik vertrete „eine Leerstelle von Wahrheit, die sie selbst nicht positiv kennen kann“ (Meyer-Drawe). Hierin liegt für Kubac das notwendig Illusionäre dieses Ansatzes: Die Forderung nach immanenter Kritik sei illusionär, weil sie die konstitutive Differenz zum Gegenstand in diesen hineinprojizieren müsse; zugleich sei dies im Sinne des Anspruchs, der Sache gerecht zu werden, notwendig, um das jedem Wissen eingeschriebene Nicht-Wissen „wieder zum Gegenstand gedanklicher Aufmerksamkeit zu machen“ (96).
Kubacs anspruchsvolle und ansprechend formulierte Studie besticht durch die ebenso kenntnisreiche wie konzentrierte Darstellung zentraler Gedanken und Argumente der referierten Autoren, die durch die systematisch durchgehaltene Fragestellung in zum Teil überraschender Weise in Beziehung gesetzt werden. Als originelle Leistung kann vor allem der Aufweis des Zusammenhangs des primär negativen Gestus von Kritik mit dem affirmativen Zug der Solidarität gelten, der für alle drei Ansätze überzeugend herausgearbeitet wird. Ganz im Sinn des Prinzips immanenter Kritik einzuwenden ist allerdings, dass das im Untertitel enthaltene Versprechen einer Thematisierung bildungswissenschaftlicher Kritik von der Studie nicht wirklich eingelöst wird. Zumindest bei den beiden ersten Ansätzen, im Grunde aber auch beim dritten handelt es sich (wie Kubac selbst zugesteht) um fachunspezifische Versuche zur Bestimmung von Kritik unter postmodernen Bedingungen. Die Bedeutung, die diesen Ansätzen für die Bearbeitung spezifisch bildungs- und erziehungswissenschaftlicher Fragen zukommen könnte, wird von Kubac nur angedeutet, etwa in einem kurzen Abschnitt zum Einfluss Lyotards auf die bildungswissenschaftliche Theoriebildung bzw. in der Darstellung von Versuchen, in Anknüpfung an die referierten Ansätze einen postmodernen bzw. skeptisch-transzendentalkritischen Begriff von „Bildung“ zu formulieren. Ansonsten bleibt es bei eher vagen Hinweisen auf besondere Herausforderungen, die der Kritikbegriff für die Pädagogik mit sich bringe. In diesem Sinn stellt die spezifisch bildungswissenschaftliche Bedeutung des in der Arbeit entwickelten Zusammenhangs von Kritik und Solidarität das (Noch-)Nichtgesagte dieser Studie dar.
EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)
Notwendige Illusionen
Solidarische Anmerkungen zu bildungswissenschaftlicher Kritik in der condition postmoderne
Würzburg: Königshausen & Neumann 2007
(116 S.; ISBN 978-3-8260-3672-9; 19,80 EUR)
Hans-Christoph Koller (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Christoph Koller: Rezension von: Kubac, Richard: Notwendige Illusionen, Solidarische Anmerkungen zu bildungswissenschaftlicher Kritik in der ''condition postmoderne''. WĂĽrzburg: Königshausen & Neumann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382603672.html
Hans-Christoph Koller: Rezension von: Kubac, Richard: Notwendige Illusionen, Solidarische Anmerkungen zu bildungswissenschaftlicher Kritik in der ''condition postmoderne''. WĂĽrzburg: Königshausen & Neumann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382603672.html