Mit ihrer Studie über die Provokation des Ethischen geht Mechthild Hetzel Diskursen über Behinderung nach und befragt sie hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Ethischen. Dabei orientiert sie sich an zwei Vorgaben, welche ihrer Argumentation Richtung geben und Sinn verleihen. Einerseits fasst sie Ethik über deren Eigensinn als Einspruch in Situationen, die zum Widerspruch reizen. Und andererseits gilt ihr Behinderung als diskursive Tatsache, welche sie in Bezug auf Möglichkeiten befragt, Behinderung weder für natürlich noch für etwas bloß Individuelles zu halten. Auf diese Weise angelegt sucht Hetzel das Gespräch mit sozialwissenschaftlichen Analysen, heil- und sonderpädagogischen Konzeptualisierungen sowie mit ethisch-philosophischen Positionen um ihren eigenständigen Beitrag zu formulieren, der sich dadurch auszeichnet, dass er Verbindungen zwischen Ethik und Gesellschaftskritik herstellt. Es geht um die Frage, wie Behinderung in der Gesellschaft zur Sprache gebracht wird und welche normativen Implikationen dabei auftreten.
In einem ersten Teil fragt Hetzel nach dem Erscheinen von Behinderung in der Sprache, vor allem in der Sprache der Wissenschaften. Im zweiten Teil fragt sie nach der Konzeptualisierung von Behinderung in ethischen Diskursen. Der dritte und letzte Teil gilt der Weiterführung ihrer Analysen unter der Leitfrage „Wie noch von Behinderung sprechen?“ (161).
„Im Rahmen dieser Studie wird die Annahme leitend, dass sich der Raum des Ethischen dort eröffnet, wo eine einfache Anwendung von Regeln untersagt, ausgesetzt oder verwehrt bleibt“ (28). Auf diese Weise reißt Hetzel sprachliche Konfigurationen von Behinderung auf und erkundet deren diskursive Verankerung in gesellschaftlichen Praxen. Schwerpunktmäßig setzt sich die Autorin mit Wissen produzierenden Akteuren auseinander, den Sozialwissenschaften einerseits, den handlungsbezogenen Fächern wie der Heil- und Sonderpädagogik und der Sozialen Arbeit andererseits. Sie zeigt auf, dass und wie sich durch das Wissen hindurch eine „Dialektik von Humanität und Inhumanität“ (74) entfaltet, der auch mit aktiven Versuchen der Korrektur nur schwer zu begegnen ist. Ihre eigene Perspektive erscheint gewissermaßen als mögliche und im Weiteren zu elaborierende Konsequenz aus dieser Situation. Im Durchgang durch aktuelle Angebote ethischer Schematisierung von Behinderung geht Hetzel dieser Option nach. Dabei zeigt sie, dass ein medizinisch-störungsorientierter Behinderungsbegriff häufig Ausgangspunkt ethischer Debatten ist und dass diese vorrangig um Fragen der Legitimierung spezifischer Handlungsweisen im Kontext von Behinderung kreisen und dabei bestimmte Differenzstrategien, etwa den Person-Begriff, einsetzen – und damit die Möglichkeit der obigen Dialektik reproduzieren. Behinderungsbezogene ethische Debatten werden so als Teil eines gesellschaftlichen Dispositivs lesbar, das Teil und nicht Antwort auf das ist, was unter dem Stichwort „Behinderung“ diskutiert wird (134). Analoges gilt nach Hetzel auch für relationale Ethiken, die dazu tendieren, Unterschiede zu hypostasieren, d.h. Aspekte der Wechselseitigkeit so zu behandeln, als ginge es um Gegenständlichkeiten. Dem stellt sie eine Perspektive gegenüber, die Unbestimmtheiten und dem Nicht-Wissen im zwischenmenschlichen Feld Raum und Zeit zubilligt, also provokative Gelegenheiten erkundet – in Verbindung mit Gesellschaftskritik: „Meine Überlegungen bemühen sich insgesamt um argumentative Maßstäbe, die es ermöglichen, in Bezug auf Marginalisierung und Diffamierung kritisch zu werden“ (163). Im philosophischen Gespräch mit Positionen der frühen kritischen Theorie und solchen aus dem Umfeld des Dekonstruktivismus sucht und findet Hetzel dazu hilfreiche Begriffe, etwa jenen vom Eigensinn des Ethischen und jenen des Unbehagens, welche beide auf psychodynamische Aspekte einer Provokation des Ethischen verweisen und – gleichsam in Anlehnung an die 11. Feuerbachthese von Marx – in das Praktische führen: „Mein Interesse gilt der Einsatzstelle, an der Unbestimmbarkeit praktisch wird“ (210).
Mit ihrer Studie arbeitet Hetzel ethische Diskurse im Zusammenhang mit Behinderung auf. Es gelingt ihr, das Moment der Verfügungsgewalt deutlich herauszustellen und dem Erschrecken darüber eine Stimme zu verleihen und spürbar zu machen, dass sich diese Stimme nicht professionalisieren und auch nicht delegieren lässt. Die Studie stellt hohe Ansprüche an die philosophische Literalität der Leserinnen und Leser, was bisweilen im Kontrast steht mit dem Anliegen, den Eigensinn des Ethischen und damit direktdemokratische Formen seines historischen Ausdrucks in sein Recht zu setzen. Wenn frei nach Paul Feyerabend gelten sollte: Durch Erkenntnistheorie zur Bürgerinitiative! ja, dann können wir auf Fortsetzungen gespannt sein.
EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)
Provokation des Ethischen
Diskurse ĂĽber Behinderung und ihre Kritik
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007
(279 S.; ISBN 978-3-8253-5364-3; 35,00 EUR)
Jan Weisser (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Weisser: Rezension von: Hetzel, Mechthild: Provokation des Ethischen, Diskurse ĂĽber Behinderung und ihre Kritik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382535364.html
Jan Weisser: Rezension von: Hetzel, Mechthild: Provokation des Ethischen, Diskurse ĂĽber Behinderung und ihre Kritik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382535364.html