EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Eva Matthes/Sylvia Kesper-Biermann/Jörg-W. Link/Sylvia SchĂŒtze (Hrsg.)
Studienbuch Erziehungs- und Bildungsgeschichte
Vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts
Stuttgart/Bad Heilbrunn: UTB/Julius Klinkhardt 2021
(349 S.; ISBN 978-3-8252-5708-8; 24,90 EUR)
Studienbuch Erziehungs- und Bildungsgeschichte Im Jahr 2021 sind zwei wichtige BĂ€nde fĂŒr die Erziehungs- und Bildungsgeschichte erschienen, welche die LĂŒcke einer aktuellen Bestandsaufnahme von Wissen, Diskursen und Forschungsperspektiven des Faches schließen helfen: Einmal der Konzepte, Methoden und Forschungsfelder aufzeigende Sammelband von Kluchert et al. [1], dann das hier zu rezensierende „Studienbuch Erziehungs- und Bildungsgeschichte“, herausgegeben von Eva Matthes, Sylvia Kesper-Biermann, Jörg-W. Link und Sylvia SchĂŒtte. Die Herausgeber:innen verorten die Geschichte von Erziehung und Bildung im „Kernbestand der Erziehungswissenschaft“ und „erziehungswissenschaftlicher StudiengĂ€nge“ (7). Damit einher geht der Anspruch, dass eine historische BeschĂ€ftigung mit der PĂ€dagogik fĂŒr eine fundierte Vorbereitung auf professionelles pĂ€dagogisches Handeln unentbehrlich sei und das vorliegende Werk ein wissenschaftliches Standardwerk „fĂŒr eine umfassende, reflektierte und kritische EinfĂŒhrung“ (10) werde. Die konzeptuelle Anlage als „Studienbuch“ fĂŒr eine komplexe Disziplin bedarf, dass es AnfĂ€nger:innen Erkenntnisse vermittelt und Kompetenzfortschritt ermöglicht, aber auch fĂŒr thematisch Versierte einen systematischen Überblick anbietet – beides gelingt auch innerhalb der einzelnen BeitrĂ€ge ausgesprochen gut.

Von den 16 BeitrĂ€gen des Bandes befassen sich elf mit der Geschichte spezifischer gesellschaftlicher Bereiche von Erziehung und Bildung, etwa der historischen Genese der Familien(ersatz)erziehung oder der institutionellen sowie der außerinstitutionellen Bildung. Sie werden gerahmt von BeitrĂ€gen, die theoretische und methodische Grundlagen und Problemstellungen diskutieren. Alle BeitrĂ€ge sind analog aufgebaut und beginnen mit einem Problemaufriss, dem abschnittsweise die historische Entwicklung oder theoretisch-methodische Erörterung folgt. Den Abschluss bilden zum einen Forschungsdesiderate und -perspektiven, andererseits die lobenswerte Listung und Kommentierung von je fĂŒnf zentralen Forschungsarbeiten, an die sich noch eine ausfĂŒhrlichere Bibliografie anschließt. Die BeitrĂ€ge mit dem Schwerpunkt auf der historischen Genese einzelner Segmente von Erziehung und Bildung sind in sich nochmals thematisch gruppiert, fokussieren zunĂ€chst auf die Familie als Erziehungs- und Sozialisationsort, dann auf die historische Entwicklung der Institution ‚Schule‘ und schließlich auf außerschulische Bildung. Generell wird ein thematisch umfassender Überblick geboten, auffĂ€llig ist aber das Fehlen eines Beitrages zur außerschulischen Berufsbildung, deren schulisches Pendant jedoch zur Darstellung kommt. Mit der Ausnahme eines Beitrages (von Sylvia Kesper-Biermann) ĂŒber „transnationale Beziehungen in der Geschichte der PĂ€dagogik“, der grenzĂŒbergreifende Bewegungen von Ideen und Prozessen der Bildung und die dabei entstehenden Verbindungen und Wechselwirkungen untersucht, verbleibt der Band im nationalen Rahmen Deutschlands vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

Den Auftakt des Bandes bilden drei BeitrĂ€ge, die Quellen, Methoden und Theorien der Erziehungs- und Bildungsgeschichte vorstellen. Die empfehlenswerte EinfĂŒhrung zu den „Quellen und Methoden der Historischen Bildungsforschung“ (Sabine Reh et al.) bietet nicht nur eine Darstellung der historischen Entwicklung hin zur gegenwĂ€rtigen Methoden- und TheorienpluralitĂ€t, sondern zeigt zudem, wie Wissensgenese (auch) in der historischen Bildungsforschung mit sich wandelnden QuellenverstĂ€ndnissen in Verbindung steht. Nicht minder lohnend ist die „Geschichte der pĂ€dagogischen Historiographie“ (Jörg-W. Link), in welcher der Autor auf der Basis zahlreicher „Geschichten der PĂ€dagogik“ diese mit den kategorisierenden Begriffen Traditionsbildung, Kanonisierung und Mythenbildung sowie Kritik und Ausdifferenzierung informativ, konsistent und ĂŒber das traditionelle Narrativ des Dualismus von Ideengeschichte und Sozialgeschichte hinausgehend erzĂ€hlt. Den Abschluss des Komplexes bildet das Beispiel des ‚framing‘-Konzeptes als Forschungsperspektive (Andreas Lischewski).

Die nachfolgenden elf BeitrĂ€ge widmen sich einzelnen Bereichen von Erziehung und Bildung. Am Anfang steht eine historische Soziologie der Familie in Verbindung mit der Geschichte der Familienerziehung (Carola Groppe), angelehnt an die Evolution der Familienvorstellungen bis hin zur gegenwĂ€rtigen Pluralisierung. Dem schließt sich Carola Kuhlmanns Beitrag zur Familienersatzerziehung an, wobei deren Geschichte anhand einzelner Schlaglichter kapitelweise erzĂ€hlt wird. Die anschließenden BeitrĂ€ge thematisieren die Geschichte verschiedener Instanzen institutioneller Bildung: die institutionalisierte Kleinkinderziehung (Sylvia SchĂŒtze), das niedere (Uwe Sandfuchs) und höhere (Frank Tosch) Schulwesen, die schulische Berufsbildung (Karin BĂŒchter), die Förderschulbildung (Alexandra Schotte), die Lehrer- und Lehrerinnenbildung (Joachim Scholz), die universitĂ€re Bildung (Jonas Flöter), die außerschulische Jugendbildung (Jakob Benecke) sowie die Erwachsenen- und Weiterbildung (Elisabeth Mailhammer). Die einzelnen BeitrĂ€ge sind trotz ihrer notwendigen KĂŒrze informativ und hinreichend komplex. Zugleich ermöglicht deren analoge Struktur, die historische Entwicklung einzelner gesellschaftlicher Segmente von Erziehung und Bildung parallel zu verfolgen.

Neben dem Beitrag von Kesper-Biermann schließt der Band mit einer ĂŒberblicksartigen Darstellung der „Entwicklung der PĂ€dagogik als Wissenschaft“ von Eva Matthes ab. Der Beitrag zeichnet sowohl die Herausbildung der PĂ€dagogik als eigenstĂ€ndige Wissenschaftsdisziplin als auch den fĂŒr die zweite HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts prĂ€genden „Erkenntnis- und Methodenstreit“ (317) nach. Damit greift Matthes nicht nur geschickt die in der Einleitung des Bandes vorgetragene Rechtfertigung von Erziehungs- und Bildungsgeschichte als Teil der Erziehungswissenschaft auf, sondern fĂŒgt auch dem Beitrag Links neue Facetten hinzu.

Hervorzuheben ist hier die institutionelle Expansion der PÀdagogik als Wissenschaft etwa infolge der Integration der pÀdagogischen Hochschulen in die UniversitÀten sowie die aufschlussreiche Skizze der gegenwÀrtigen Nachfrage nach PÀdagogik.

Die Autor:innen des Bandes standen vor der anspruchsvollen Aufgabe, komplexe und umfangreiche Forschungsbereiche innerhalb der Erziehungs- und Bildungsgeschichte konsistent und verstĂ€ndlich abzubilden. Dies ist ihnen in aller Regel gelungen. Neben den fundierten Darstellungen sind insbesondere die themenspezifische, kommentierte Listung von fĂŒnf zentralen Werken der Forschungsliteratur, die Bereitstellung eines weiterfĂŒhrenden bibliografischen Apparates und die Benennung von Forschungsdesideraten hervorzuheben. Zu kritisieren ist die in der Anlage des Bandes implementierte Konzentration auf Deutschland sowie das thematische Fehlen der außerschulischen Berufsbildung. Wie eine Erweiterung des geografischen Rahmens aussehen könnte, zeigt die sechsteilige Reihe „A Cultural History of Education“ [2], die jedoch nicht dem Charakter eines „Studienbuchs“ und dessen engem Raum entspricht. Als solches kann der vorliegende Band aber gewinnbringend als Vorlage fĂŒr ein Grundlagenseminar im Bachelor-Studiengang verwendet werden, das in die Geschichte von Erziehung und Bildung in Deutschland einfĂŒhrt. DarĂŒber hinausgehend ist auch eine Nutzung einzelner BeitrĂ€ge in themenspezifischen Seminaren denkbar, etwa dank der Darstellung aktueller Forschungsperspektiven als Alternative zu dem etwas in die Jahre gekommenen „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ [3].

[1] Kluchert, G., Horn, K.-P., Groppe, C. & Caruso, M. (2021). Historische Bildungsforschung. Konzepte – Methoden – Forschungsfelder. Klinkhardt.
[2] McCulloch, G. (2020). A Cultural History of Education (6 Bde). Bloomsbury.
[3] Berg, Ch. (1987-2005). Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (6 Bde). Beck.
Dennis Mathie (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dennis Mathie: Rezension von: Matthes, Eva / Kesper-Biermann, Sylvia / Link, Jörg-W. / SchĂŒtze, Sylvia: Studienbuch Erziehungs- und Bildungsgeschichte, Vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Stuttgart/Bad Heilbrunn: UTB/Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382525708.html