Wieder ein Einführungstext in eine Methode der empirischen Forschung? Das Buch ist weit mehr und zugleich auch weit weniger als das. Andreas Wernet behandelt die grundlegenden Themen der Nutzung der Objektiven Hermeneutik zur Gewinnung eines Verständnisses von Daten der sozialen Welt, ohne dabei den Eindruck zu vermitteln, dass die Schritt-für-Schritt-Anwendung einer Gebrauchsanweisung das Wagnis des eigenen Denkens umgehen könnte.
Aus vielen Jahren der Lehre und der Begleitung von Studierenden bei Forschungsvorhaben unter Anwendung der Objektiven Hermeneutik hat Wernet neun zentrale Themen oder Fragenkomplexe extrahiert, die für die Nutzung der Objektiven Hermeneutik von Bedeutung sind. Das Buch klärt, welches Erkenntnisinteresse diese Methode hat (Kapitel 1), wie im Umgang mit Daten Erkenntnis errungen wird (Kapitel 2) und wie eine Fragestellung gefunden werden kann (Kapitel 3). Weiterhin werden grundlegende Hinweise zur Datengewinnung (Kapitel 4) und zur Auswahl der zu analysierenden Materialausschnitte (Kapitel 5) gegeben. Anhand konkreter empirisch gewonnener Daten wird beispielhaft der Umgang mit dem Material demonstriert (Kapitel 6) und erläutert, wie Einzelergebnisse zu generalisierbaren Aussagen synthetisiert werden können (Kapitel 7). Abschließend wird auf die Bedeutung von Interpretationsgruppen zur Gewinnung robuster Interpretationsentwürfe (Kapitel 8) und auf die Ansprüche an die Forscher:innen eingegangen, die sich dem Abenteuer Objektive Hermeneutik stellen wollen (Kapitel 9). Das Buch schließt mit einer hilfreichen Übersicht zu den Fragen ab, denen sich jedes Kapitel widmet. Mit Hilfe dieser Übersicht kann der oder die interessierte Leser:in im Buch rasch jene Stellen aufsuchen, die zur Bearbeitung ihrer aktuellen Fragen an die Methode von Bedeutung sein könnten. Das Buch lädt damit ein, chronologisch oder aber auch als Nachschlagwerk genutzt zu werden.
Im Allgemeinen wird die Objektive Hermeneutik häufig als sequenzanalytisches Verfahren dargestellt, bei dem konkurrierende Lesarten gebildet werden, um am Ende zu gültigen Aussagen zu kommen. Diese Texte können zum Teil als erkenntnistheoretische Grundlegungen gelesen werden oder als Kurzcharakterisierungen der Methode, mit dem Ziel, diese mit anderen Ansätzen vergleichen zu können. Im vorliegenden Buch versucht Wernet, einen Mittelweg zu gehen. Einerseits erleben wir in seinen Ausführungen hautnah, wie praktisch mit der Methode zu arbeiten ist (exemplarisch in Kapitel 6). Andererseits werden wir als Person, die dieses Buch liest, von Wernet nicht in Ruhe gelassen. Immer wieder werden wir beim Lesen in den Bann gezogen, uns mit dem eigenen Abenteuermut, mit dem eigenen Willen zum Denken und zur Gewinnung von Erkenntnis auseinanderzusetzen. Darin liegt für all jene Leser:innen, die den raschen pragmatischen Überblick suchen und ein Know-How verwerten wollen, die schlechte Nachricht über dieses Buch. Ganz im Gegensatz dazu zeigt der Text aber auf, wie der oder die qualitativ Forschende die Methode der Objektiven Hermeneutik nutzen kann, um an empirischem Material orientiert methodisch geleitet um Verstehen zu ringen.
Dieses Buch lädt damit nicht nur dazu ein, die Methode der Objektiven Hermeneutik kennenzulernen. Wernet lädt darüber hinaus zu einer Haltung des Forschens ein, die um ein eigenes, personalisiertes Engagement nicht herumkommt. Diese Einladung zur Objektiven Hermeneutik ist realistisch, ganz ohne nüchtern zu sein, und engagiert, ganz ohne missionarisch zu werden. Ich kann diesen Text nicht nur für Menschen empfehlen, die beginnen sich mit der Objektiven Hermeneutik vertieft auseinanderzusetzen, sondern er eignet sich auch für all jene, die sich der eigenen Forschungshaltung und Grundlegung vergewissern wollen.
EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)
Einladung zur Objektiven Hermeneutik
Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021
(181 S.; ISBN 978-3-8252-5601-2; 10,00 EUR)
Michael Scherf (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Scherf: Rezension von: Wernet, Andreas: Einladung zur Objektiven Hermeneutik. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382525601.html
Michael Scherf: Rezension von: Wernet, Andreas: Einladung zur Objektiven Hermeneutik. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382525601.html