EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Ulrich Heimlich / Ewald Kiel (Hrsg.)
Studienbuch Inklusion
Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2020
(366 S.; ISBN 978-3-8252-5248-9; 24,99 EUR)
Studienbuch Inklusion Der Titel des vorliegenden Werkes erscheint insbesondere in Zeiten einer schier unĂŒberschaubaren und stetig steigenden Zahl von Publikationen zum komplexen Themenfeld Inklusion verheißungsvoll. Das „Studienbuch Inklusion“ lĂ€sst nicht nur anhand des Titels, sondern auch anhand des von den Herausgebern in der Kurzbeschreibung formulierten Anspruches eine wohlaufbereitete Zusammenfassung zentraler Grundlagen inklusiver PĂ€dagogik erwarten – eine Erwartung, die nicht erfĂŒllt wird.

Das von Ulrich Heimlich und Ewald Kiel (beide Professoren an der Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t MĂŒnchen) unter Mitarbeit von Susanne Bjarsch (Mitarbeiterin des Projekts „Basiswissen Inklusion und SonderpĂ€dagogik im EWS (BAS!S)“) herausgegebene, aus dem BAS!S-Projekt heraus entstandene „Studienbuch Inklusion“, gliedert sich in drei Kapitel: 1. SonderpĂ€dagogische Förderschwerpunkte, 2. Inklusives Schulsystem und 3. Inklusiver Unterricht und inklusive Schulentwicklung. Die drei Kapitel werden ergĂ€nzt durch Hinweise auf Lehr-Lern-Materialien sowie durch Lösungen zu den im Studienbuch enthaltenen Arbeitsaufgaben. Der Band ist entsprechend des Anliegens eines Studienbuchs didaktisch aufbereitet: Die KlĂ€rung zentraler Terminologien oder auch Handlungsempfehlungen erfolgt in hervorgehobenen KĂ€sten, Schlagworte am Textrand und Symbole sollen eine schnelle Orientierung ermöglichen und mit ArbeitsauftrĂ€gen und weiterfĂŒhrenden Literaturhinweisen sollen Reflexionen der Lektionen und vertiefendende Auseinandersetzungen angeregt werden. Die Zielgruppe des Studienbuchs sind Studierende aller LehramtsstudiengĂ€nge.

Der mit dem Werk verbundene Anspruch wird auf der BuchrĂŒckseite wie folgt zusammengefasst: „Soll schulische Inklusion gelingen, so mĂŒssen angehende LehrkrĂ€fte bereits im Lehramtsstudium in angemessener Weise auf diese neue Aufgabe vorbereitet werden. Dazu ist u. a. ein Grundwissen zu den sonderpĂ€dagogischen Förderschwerpunkten, den verschiedenen Settings in einem inklusiven Schulsystem sowie zum inklusiven Unterricht und zur inklusiven Schulentwicklung erforderlich. Das „Studienbuch Inklusion“ fasst dieses Basiswissen in didaktisch aufbereiteten Texten mit Praxis- und Fallbeispielen zusammen. Eine Einladung zur aktiven Erarbeitung der Grundlagen einer inklusiven PĂ€dagogik in Schule und Unterricht!“ WĂ€hrend das „u.a.“ im Backcover-Text als Andeutung verstanden werden könnte, dass es mehr als sonderpĂ€dagogisches Grundwissen bedarf, um Inklusion umzusetzen und dass im vorliegenden Werk auch mehr als SonderpĂ€dagogik steckt, ernĂŒchtert bereits ein erster Blick ins Inhaltsverzeichnis. Auf ĂŒber 220 Seiten werden sonderpĂ€dagogische Förderschwerpunkte sowie Handlungs- und Organisationsformen zusammengefasst, womit deutlich wird: Im „Studienbuch Inklusion“ geht es nicht um die proklamierte „Einladung zur aktiven Erarbeitung der Grundlagen einer inklusiven PĂ€dagogik in Schule und Unterricht“, sondern um die Erarbeitung von Grundlagen der SonderpĂ€dagogik. Im Rahmen der etwas mehr als 70 Seiten des dritten Kapitels werden ausgewĂ€hlte Grundlagen guten integrativen und inklusiven Unterrichts und zeitgemĂ€ĂŸer Schulentwicklung zusammengefasst – in letzter Konsequenz unterliegen jedoch auch diese AusfĂŒhrungen dem sonderpĂ€dagogischen Bias, der den Band insgesamt bestimmt.

Das dem Werk zugrundeliegende sonderpĂ€dagogische VerstĂ€ndnis von Inklusion und inklusiver PĂ€dagogik wird bereits im Vorwort der Herausgeber unmissverstĂ€ndlich deutlich. Hier formulieren diese den mit dem Werk verbundenen Anspruch (anders als auf dem Backcover) mit der Vermittlung von „Basiswissen zum Thema „Inklusion und SonderpĂ€dagogik““ (5). Die Herausgeber bemĂŒhen sich redlich zu begrĂŒnden, warum die „Inklusion im engeren Sinne“, die auf „Menschen mit Behinderung und ihre UnterstĂŒtzungssysteme“ (ebd.) ausgerichtet ist, so bedeutungsvoll sei, dass sich eine VerkĂŒrzung auf diese Perspektive nicht nur vermeintlich legitimiert, sondern gar als logische Konsequenz darstellen mĂŒsse. So wird die „Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bzw. sonderpĂ€dagogischem Förderbedarf in allgemeine Schulen“ (ebd.) durch die Herausgeber als „gegenwĂ€rtig [
] grĂ¶ĂŸte Herausforderung fĂŒr LehrkrĂ€fte“ (ebd.) bezeichnet. Auf Basis dieser Argumentation erfolgt sodann die ErklĂ€rung der Unverzichtbarkeit der sonderpĂ€dagogischen Disziplin und sonderpĂ€dagogischer Organisationsformen, die in den einzelnen Kapiteln des Bandes immer wieder wiederholt wird.

Die Theorie, Empirie und Praxis der auf einem reflexiven InklusionsverstĂ€ndnis fußenden inklusiven PĂ€dagogik respektive Anliegen und Erkenntnisse der erziehungswissenschaftlichen Integrations-, Inklusions- und deren Verflechtung mit der Bildungs- und Ungleichheitsforschung bleiben sodann weitgehend unberĂŒcksichtigt. An reflexiven ZugĂ€ngen zur Frage des Umgangs mit Differenzen im Bildungswesen und damit verbundener Fragen der Verhinderung von Diskriminierungen sowie der (Re )Produktion von Ungleichheiten im und durch das Bildungswesen mangelt es ĂŒberwiegend, obgleich diese Themenfelder seit Jahr(zehnt)en als zentrale Herausforderungen fĂŒr das Bildungswesen und LehrkrĂ€fte bekannt sind. UnabhĂ€ngig vom Konzept der IntersektionalitĂ€t, das fĂŒr die inklusive PĂ€dagogik höchst bedeutsam ist, wĂ€ren Reflexionen milieu-, migrations- oder geschlechtsbezogener Diskriminierungen (z.B. institutioneller) neben Fragen des „Doing Dis_ability“ [1] dem Argument der „grĂ¶ĂŸte[n] Herausforderung“ (5) folgend daher im „Studienbuch Inklusion“ zu erwarten gewesen.

Das vorliegende Werk weist nicht nur SchwĂ€chen mit Blick auf fehlende wissenschaftliche Grundlagen und eine ungenĂŒgende BerĂŒcksichtigung und Darstellung des themenbezogenen Forschungstandes auf, es konterkariert darĂŒber hinaus bedeutende Diskurse der letzten Jahrzehnte u.a. zum Behinderungsbegriff sowie zur Klientel der SonderpĂ€dagogik bzw. ihrer Subdisziplinen und des pĂ€dagogischen Umgangs mit dieser. Die bereits im Vorwort genutzte Formulierung „Menschen mit Behinderung“ (ebd.) kann als Ausdruck eines ontologisierenden Behinderungsbegriffs respektive einer Vorstellung von Behinderung als vom Individuum ausgehende „Eigenschaft“ gedeutet werden, mit der die soziale Bedingtheit bzw. Konstruktion von „Behinderung“ und der Prozess des Behindert-Werdens ausgeblendet werden. Die im Band vorgenommenen allgemeinen AusfĂŒhrungen zum sonderpĂ€dagogischen Förderbedarf bekrĂ€ftigen diesen Eindruck und entbehren nahezu jeglicher kritischen Reflexion. So wird z.B. die Definition sonderpĂ€dagogischen Förderbedarfs ĂŒber die im juristischen und administrativen Zusammenhang gĂ€ngige Formel vorgenommen und erklĂ€rt, dass ein sonderpĂ€dagogischer Förderbedarf vorliegt, wenn SchĂŒler/innen „nicht mehr ausreichend gefördert werden können“ (17). Von Erkenntnissen zu bspw. Verzerrungseffekten im Rahmen von Feststellungsverfahren und Überweisungen an die Förderschule, von denen insbesondere benachteiligte Kinder sowie Kinder mit Migrationshintergrund betroffen sind, ist nichts zu lesen.

Im Rahmen der BeitrĂ€ge zu den einzelnen sonderpĂ€dagogischen Förderschwerpunkten (die allerdings qualitative Unterschiede aufweisen) erfolgen teilweise Ă€ußerst stereotype Darstellungen der SchĂŒlerin bzw. des SchĂŒlers mit festgestelltem sonderpĂ€dagogischen Förderbedarf. Erzeugt werden diese u.a. durch teils stark verkĂŒrzte, bedeutende Theorien und Forschungen nicht berĂŒcksichtigende Darstellungen und pauschalisierende Aussagen, mit denen die vermeintliche Dichotomie von Kindern mit und ohne sonderpĂ€dagogischem Förderbedarf zementiert wird.

Ein zentrales Problem des vorliegenden Bandes ist, dass die AusfĂŒhrungen in den einzelnen Kapiteln mitunter weniger den Charakter didaktisch reduzierter, komprimierter, aber fachlich korrekter und trotz aller Komprimierung umfassender Darstellungen haben; sie lassen sich vielmehr als Ausdruck einer reduktiven Didaktik deuten. Insgesamt bleibt das Werk auf sonderpĂ€dagogische Perspektiven beschrĂ€nkt, die selten reflexiv und progressiv, weitgehend konservativ und teilweise deutlich verklĂ€rend sind, bspw. wenn höchst selektive Mechanismen verniedlicht bzw. entdramatisiert werden (siehe die Rhetorik, dass die Feststellung eines sonderpĂ€dagogischen Förderbedarfs nicht automatisch eine Beschulung im Förderschulwesen bedeutet, z.B. auf S. 17 und S. 74). An system- und ungleichheitskritischen ZugĂ€ngen, die anschlussfĂ€hig an eine reflexive Erziehungswissenschaft und ein reflexives InklusionsverstĂ€ndnis wĂ€ren, mangelt es alles in allem. Das vorliegende Werk kann daher allenfalls als Versuch einer an weitgehend konservativen Perspektiven orientierten SonderpĂ€dagogisierung der LehrkrĂ€ftebildung verstanden werden.

DarĂŒber hinaus sind die Darstellungen im „Studienbuch Inklusion“ eng am bayerischen Schulsystem orientiert, welches teils zum ‚Vorzeige-Modell‘ inklusiver Schulentwicklung stilisiert werden soll – exemplarisch, wenn Schulen mit dem Profil Inklusion als „„LeuchttĂŒrme“ der inklusiven Schulentwicklung“ (216) bezeichnet werden. Kritik am sogenannten bayerischen „(Sonder)Weg schulischer Inklusion“ [2, 3], der sich ĂŒberdeutlich durch eine strukturkonservierende und reformkritische Haltung sowie den Versuch einer Restaurierung und Expansion der SonderpĂ€dagogik im schulischen Bereich auszeichnet, wird dabei ebenso ausgeblendet wie Arbeiten bedeutender Integrations- und InklusionspĂ€dagog/innen [4, 5]. Beides ist insofern konsequent, als dass diese nicht mit der vorliegenden Werbekampagne fĂŒr den bayerischen Weg zur ‚Inklusion‘ – in dessen Kontext das „differenzierte „Sonderschulsystem“ der Bundesrepublik Deutschland“ zur „Ausgangsbedingung fĂŒr ein inklusives Bildungssystem“ (135) erhoben wird, das Problem der vermeintlichen Inklusion das zu integrierende Kind ist und das (Bildungs-)System selbst nicht grundlegend hinterfragt werden muss – vereinbar wĂ€ren.

Um potenziellen Leser/innen transparent zu machen, was sie mit dem „Studienbuch Inklusion“ erwartet, wĂ€re ein Vorschlag fĂŒr einen dem Inhalt des Bandes angemessenen Titel: „Studienbuch SonderpĂ€dagogik und Integration im bayerischen Schulsystem“.

[1] Köbsell, S. (2016): Doing Dis_ability: Wie Menschen mit BeeintrĂ€chtigungen zu „Behinderten“ werden. In: K. Fereidooni & A. P. Zeoli (Hrsg.): Managing Diversity. Die diversitĂ€tsbewusste Ausrichtung des Bildungs- und Kulturwesens, der Wirtschaft und Verwaltung. Wiesbaden: Springer VS, S. 89-103
[2] Dorrance, C. & Dannenbeck, C. (2015): Schule und die Frage der Inklusion in Bayern. Kritische Bestandsaufnahme und Perspektiven. Policy Paper im Auftrag des BayernForums der Friedrich-Ebert-Stiftung. MĂŒnchen: FES BayernForum http://library.fes.de/pdf-files/akademie/bayern/12082.pdf
[3] Dorrance, C. & Dannenbeck, C. (2016): Der Bayerische (Sonder)Weg schulischer Inklusion. In: Zeitschrift fĂŒr Inklusion Online, Heft 2/2016. http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/360/290
[4] MĂŒller, F. J. (2018a): Blick zurĂŒck nach vorn – WegbereiterInnen der Inklusion. Band 1. Gießen: Psychosozial Verlag
[5] MĂŒller, F. J. (2018b): Blick zurĂŒck nach vorn – WegbereiterInnen der Inklusion. Band 2. Gießen: Psychosozial Verlag
Toni Simon (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Toni Simon: Rezension von: Heimlich, Ulrich / Kiel, Ewald (Hg.): Studienbuch Inklusion. Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382525248.html