Klassenführung gehört wahrscheinlich zu einem der Begriffe, die in den letzten Jahren in der Empirischen Bildungsforschung immer mehr Aufmerksamkeit erfahren haben. Als ein zentrales Merkmal von Unterrichtsqualität wird Klassenführung zum Beispiel als Wirkfaktor für die kognitive und affektiv-motivationale Entwicklung von Schülerinnen und Schülern erforscht, es werden aber auch differenzielle Effekte für verschiedene Schüler/innengruppen oder Fragen der Operationalisierung und validen Erfassung von Klassenführungshandeln untersucht. Darüber hinaus hat die Qualitätsoffensive Lehrerbildung dazu beigetragen, dass vermehrt Bemühungen angestellt werden, Wissen über Klassenführung als ein Teil pädagogisch-psychologischen Wissens einerseits valide zu erfassen, seine Entwicklung im Verlauf der Lehrerbildung abzubilden und durch diverse Interventionskonzepte nachhaltig zu fördern.
Insofern ist der Titel von Ludwig Haags Buch „Kernkompetenz Klassenführung“ treffend gewählt. Darin verdeutlicht er die Relevanz von Klassenführung sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für Lehrkräfte auf Grundlage empirischer Studien und stellt im Hauptteil des Buches den Forschungsstand über zentrale Facetten von Klassenführung zusammen.
In einem einleitenden Kapitel begründet der Autor selbst das Ziel eines weiteren Werks über das Thema Klassenführung: Das vorliegende Buch möchte eine evidenzbasierte Auswahl an Kerndimensionen von Klassenführung aus bisherigen Paradigmen, Konzeptualisierungen und Forschungsergebnissen systematisieren und damit den „Markenkern von Klassenführung“ (8) illustrieren und erläutern.
Der Einleitung folgen acht Kapitel, von denen die ersten und letzten beiden Kapitel einen einleitenden und abschließenden Rahmen bilden, während die mittleren vier Kapitel 3 bis 6 den Hauptteil des Buches darstellen, in denen jeweils eine Dimension von Klassenführung ausführlich und differenziert sowie mit Rückgriff auf unterschiedliche Forschungsarbeiten und Konzeptualisierungen erläutert wird.
Im ersten Kapitel werden historische Entwicklungen der Klassenführungsforschung nachgezeichnet und die jeweiligen Paradigmen kurz erläutert. Dabei werden auch einschlägige Forschungsarbeiten von Kounin, Marzano oder Evertson und Kolleg/innen überblicksartig eingeführt. Mit den folgenden vier Unterkapiteln werden Ansätze einschlägiger deutschsprachiger Wissenschaftler/innen gegenübergestellt, auf die auch im weiteren Verlauf des Buches wiederholt zurückgegriffen wird. In einem abschließenden Unterkapitel resümiert der Autor die Entwicklung des Verständnisses von Klassenführung sowie die aktuellen deutschsprachigen Konzeptualisierungen in einem Beziehungsgeflecht von Klassenführung, das die Dimensionen „Präsenz“, „Kommunikation“, „Strukturierende Unterrichtsgestaltung“ und „Regulation“ umfasst, die jeweils den Inhalt der vier Hauptkapitel darstellen.
Das recht kurze zweite Kapitel verdeutlicht die Relevanz von Klassenführung für die Gesundheit von Lehrkräften. Dabei bleibt der Autor nicht bei der überblicksartigen Darstellung von Erkenntnissen über Zusammenhänge zwischen Klassenführung bzw. Störungen im Unterricht und Burnout, sondern liefert auch drei Erklärungen für diesen Zusammenhang und leitet auf vier verschiedenen Systemebenen Lösungsansätze ab (Lehrer-Schüler-Beziehung, Schulklima und Schulkultur, Elternengagement und Managementqualitäten der Schulleitung).
Das dritte Kapitel thematisiert die erste Dimension des Beziehungsgeflechts von Klassenführung: die Präsenz der Lehrkraft. Zu Beginn arbeitet der Autor die Präsenz der Lehrkraft als unabdinglich und als Voraussetzung für das Lehrer/innenhandeln unter Druck und Unsicherheit heraus. Anschließend wird der Begriff der Präsenz unter Rückgriff auf bereits erwähnte und weitere Autor/innen mit entsprechenden leicht divergierenden Verständnissen und Benennungen in Zusammenhang gebracht. Das ausführlichste Unterkapitel stellt die traditionelle Klassenführungsstudie von Kounin (1970) vor, erläutert die Kounin’schen Dimensionen der Klassenführung und würdigt ihren Verdienst der Fokussierung auf Prävention anstelle von Interventionen von Unterrichtsstörungen.
Im vierten Kapitel widmet sich der Autor der Dimension der Regulation/Verhaltenskontrolle und greift neben weiteren Autor/innen an dieser Stelle die langjährigen und ausführlichen Arbeiten um Evertson und Emmer zu den Themen Regeleinführung und -etablierung sowie einem breiteren Verständnis im Sinne des vorausplanenden Handelns auf, erläutert letztere detailliert und lässt auch Evaluationsergebnisse des entsprechenden Classroom Organization and Management Programs nicht aus. Weitere Aspekte stellen Rituale, Verstärkersysteme sowie lerner/innenzentrierte Arrangements dar, bevor am Ende ein Fallbeispiel zur Veranschaulichung der behandelten Aspekte sowie hilfreiche Bearbeitungsmaterialien zur Verfügung gestellt werden.
Kapitel 5 thematisiert die zentrale Dimension der Strukturierenden Unterrichtsgestaltung. Dieses recht heterogene Kapitel umfasst unterschiedliche Ebenen der Strukturierung, die von einer rein organisatorischen Strukturierung über Differenzierung bis hin zur kognitiven Aktivierung und Motivierung der Schülerinnen und Schüler reichen. In diesem Kapitel wird also die vom Autor in der Einleitung erwähnte häufige Überlappung von Klassenführung und Unterrichtsplanung bzw. Unterrichtsführung deutlich. Die inhaltliche Breite des Kapitels bietet somit zahlreiche Ansatzpunkte im Zusammenhang mit strukturierender Unterrichtsgestaltung, sind möglicherweise jedoch eher Merkmale eines breiteren Verständnisses von Unterrichtsqualität.
Die letzte Dimension der Kommunikation/Beziehungsförderung wird in Kapitel 6 behandelt. Diese betreffen vielseitige Aspekte der Schüler-Lehrer-Beziehung und des Klassenklimas: eine lösungsorientierte und empathische Kommunikation, eine lernförderliche Kombination aus Wärme und Kontrolle in der Interaktion mit Schülerinnen und Schülern sowie die notwendige Emotionsregulation von Lehrkräften in herausfordernden Situationen. Letztlich geht der Autor noch auf Feedback nach Hattie und Timperley sowie eine lernförderliche Fehlerkultur als Kommunikationskomponenten ein und greift abschließend die Potenziale des gegenseitigen Feedbacks durch Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler auf, wobei auch Hinweise auf gängige Evaluationsinstrumente gegeben werden.
Im siebten Kapitel wird ein konzises Fazit gezogen, in dem die erläuterten Dimensionen auf die Prävention und Intervention von Unterrichtsstörungen übertragen werden. Ein Schlusskapitel thematisiert erleichternde und günstige Bedingung für das Erlernen und die erfolgreiche Umsetzung guter Klassenführung – sowohl auf Seiten der Lehrkräfte als auch auf Seiten der Schülerinnen und Schüler.
Die im vorliegenden Buch herausgearbeitete Systematisierung von Ludwig Haag trägt dazu bei, einen umfassenden Blick auf das Thema Klassenführung zu erhalten. Auch wenn die Gliederung und Reihenfolge der Kapitel sowie die Sortierung von Forschungsergebnissen zu den vier Dimensionen des Beziehungsgeflechts der Klassenführung nicht immer eindeutig nachvollziehbar sind, bietet das Buch einen breiten, informativen Überblick über unterschiedliche Forschungslinien sowie praktische Implikationen für die Gestaltung von Unterricht. Darin besteht gleichwohl die Stärke und Schwäche des Buches: Einerseits ist der Überblick über Erkenntnisse und Merkmale von Klassenführung überaus informativ und zeigt anschaulich, wie breit die wissenschaftliche Basis aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und Forschungsrichtungen sowie -traditionen ist, die für eine gewinnbringende Beschäftigung mit dem Thema Klassenführung herangezogen werden kann. Diese Breite wirkt an manchen Stellen des Buches jedoch willkürlich in der Zuordnung der Studien und Konzepte zu den vier dargestellten Dimensionen. Da diese jedoch nicht den Anspruch eines eindeutig abgegrenzten Konstrukts haben, erscheint der Kritikpunkt resümierend hinnehmbar.
In Ergänzung zu anderen einschlägigen Werken über Klassenführung überzeugt das Buch von Haag durch seine Quellen aus erziehungswissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Fachdisziplinen und sein immerwährendes Bemühen die einzelnen konzeptionellen Traditions- sowie Forschungslinien mit der pädagogischen Praxis und Unterrichtsentwicklung in einen Zusammenhang zu setzen. Dabei gelingt es dem Autor ausgezeichnet, auf die Notwendigkeit des adaptiven und flexiblen Rückgriffs auf das hier dargelegte Wissen im Gegensatz zur rezeptartigen Anwendung hinzuweisen und die Verantwortlichkeit der Lehrkraft zu verdeutlichen.
EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)
Kernkompetenz Klassenführung
Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2018
(176 S.; ISBN 978-3-8252-4934-2; 18,99 EUR)
Bernadette Gold (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bernadette Gold: Rezension von: Haag, Ludwig: Kernkompetenz Klassenführung. Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2018. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382524934.html
Bernadette Gold: Rezension von: Haag, Ludwig: Kernkompetenz Klassenführung. Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2018. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382524934.html