In der Allgemeinen Didaktik ist das Thema „Didaktische Reduktion“ seit den 1980er Jahren gegenüber der Methodik zunehmend zu einem Desiderat geworden. Der Schwerpunkt des allgemeindidaktischen Diskurses liegt derzeit nicht auf Seiten des Stofflichen, sondern vielmehr auf der Art und Weise der Vermittlung. Dies zeigt sich im Wandel von der Input- zur Outputorientierung sowie in der Umgestaltung des Bildungswesens in Richtung Standardisierung und Kompetenzorientierung. Martin Lehner gibt in seinem Buch „Didaktische Reduktion“ neben der Empfehlung zur Rückbesinnung auf das, was Didaktik erst begründet – nämlich der Lerngegenstand selbst –, aufbauend auf historischen Hintergründen und fachlichen Grundlagen praxisorientierte Hinweise zum Umgang mit Stofffülle und Stoffkomplexität, die sich aus der Sache an sich und in ihrem zeitlichen Korsett als problembehaftet darstellen. Hierbei diskutiert er die didaktische Reduktion als einen nach außen und nach innen gerichteten Prozess, der ausgehend von der Reduktion der Stoffmenge zur Reduktion der inhaltlichen Komplexität führen muss. Lehner gibt mit seiner Lektüre Erziehungswissenschaftler(inne)n, Pädagog(inn)en sowie Studierenden ein zielgruppenorientiertes Grundlagen- und Arbeitsbuch auf den Weg.
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. Lehner führt zunächst in die Grundlagen der didaktischen Reduktion ein, indem er ausgehend von einer begrifflichen Abgrenzung die Facetten der Funktion selbiger beschreibt. Anhand des Postulats, Reduktion als eine bewusste Entscheidung auszumachen, wird auf die unterschiedlichen Tätigkeiten des Reduzierens in ihrer differenten Ausprägung eingegangen. Des Weiteren werden der täglich zunehmende Wissenszuwachs, die Zergliederung der Fachwissenschaften, die Individualisierung der Lernenden, die Abspaltung des Sonderwissens von der Allgemeinbildung sowie die Hinwendung zu handlungsorientierten Lehr- und Lernformen als objektive Bedingungen, die jede für sich zum Stoff-Zeit-Problem beiträgt, dargestellt. Erschwerend kommt laut Lehner hinzu, dass die Komplexität der „Sache“ an sich und die Kompliziertheit, die ihr implizit ist, eine gewisse gesellschaftliche Wertschätzung erfährt, die schlussendlich zusätzlich zu einer didaktischen Herausforderung heranwächst.
Im zweiten Kapitel gibt Lehner eine historische Rückschau über „die Geschichte der didaktischen Reduktion“ anhand der Theorien der Didaktiker Martin Wagenschein, Wolfgang Klafki, Dietrich Hering und Gustav Grüner. Die hierbei herausgearbeiteten Differenzen im Gebrauch des Terminus sowie in den darauf bezogenen Techniken greift Lehner in den folgenden Teilen des Buches immer wieder auf. So wird im dritten Kapitel „Vom Inhalt zum Lerngegenstand“ die Doppelfunktion der Lehrperson thematisiert. Der Lehrer sieht sich einerseits in der Verantwortung, die auf die Sache bezogenen Bedürfnisse und Ziele der Lernenden und andererseits die Sache selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Eine Folge dessen ist immer auch eine Negation der Auswahl des Stofflichen und damit auch immer eine Entscheidung gegen verschiedene Inhalte. Die Sachanalyse nach Klafki kann in diesem Zusammenhang den Lehrenden dazu dienen, den Bildungsgehalt einer Sache hinsichtlich der Zielgruppe zu ermitteln.
Der Hauptteil des Buches besteht aus dem vierten und fünften Kapitel zur „Reduktion der Stofffülle (Stoffreduktion)“ und zur „Reduktion der inhaltlichen Komplexität (Inhaltsreduktion)“. Der Autor beleuchtet in Kapitel vier zunächst subjektive Lehrtheorien, die auf dem Wunsch nach inhaltlicher Vollständigkeit, der sogenannten „Vollständigkeitsfalle“, begründet sind. Die Tendenz von Lehrpersonen zum Streben nach inhaltlicher Vollständigkeit, die in Richtung der Ausbildung enzyklopädischen Wissens tendiert, grenzt Lehner deutlich von der Hinwendung zur Gründlichkeit ab. Denn hierbei gelte es, „das Wesentliche des Stoffes“ vor dem Hintergrund der Zielgruppe, der Ziele und des Zeitbudgets herauszufiltern. Lehner verweist hierzu auf verschiedene didaktische Prinzipien und Raster, die die Auswahl der Inhalte unterstützen kann. Außerdem zeigt er sowohl Techniken der Stoffreduktion als auch Möglichkeiten auf, mithilfe einer „Fachlandkarte“ die fachliche Grundlandschaft eines Faches zu veranschaulichen. Mittels Textelementen und der Anordnung dieser wird ein inhaltliches Leitsystem der Facetten eines Themas erarbeitet. In einem weiteren Schritt könnte diese Fachlandkarte durch Streichen von Textelementen und inhaltlichen Verbindungen reduziert werden. Schließlich macht Lehner deutlich, dass sich Situiertheit (das Exemplarische) und Systematik (das Schematische) als Formen der didaktischen Reduktion nicht ausschließen, sondern durchaus ergänzen.
Im fünften Kapitel werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie die inhaltliche Komplexität eines Stoffes reduziert werden kann, um selbige in Lerngegenstände zu transformieren. Dies erfordert sowohl Konzentration als auch Vereinfachung. Bei der Konzentration geht es um die Fokussierung fachspezifischer Begriffe, Aussagen und Strukturen. Hierzu werden konkrete Techniken der Konzentration vorgestellt. Eine dieser Techniken heißt beispielsweise „Die Siebe der Reduktion“. Begriffe, Aussagen und Strukturen werden auf unterschiedlich feine „Siebe“ gelegt. Dabei verbleiben – ausgehend von der Vollständigkeit der Inhalte – nur eine zentrale Aussage (grobes Sieb), drei zentrale Aussagen (mittleres Sieb) oder zehn zentrale Aussagen. Mit zunehmender Anzahl nehmen auch inhaltliche Komplexität und strukturelle Vielfalt des Inhalts zu.
Die Vereinfachung postuliert sich anhand des Einschränkens und Veranschaulichens. Dass etwas als „schwierig“ deklariert wird, ist eine Zuschreibung und kein impliziter Zustand an sich. Und gerade dies ermöglicht es, Inhalte so umzugestalten, dass diese für die jeweilige Lerngruppe erfahrbar werden. Lehner demonstriert auch in diesem Zusammenhang fachspezifische Techniken zur inhaltlichen Vereinfachung. So verweist er auf die schematische oder tabellarische Entwicklung theoretischer Modelle und Konzepte. Des Weiteren dienen Bilder, Skizzen und Metaphern der Visualisierung und Veranschaulichung.
Darüber hinaus werden Strukturhilfen aufgezeigt, die essenzielle Beziehungen und Zusammenhänge zwischen Themenbereichen darstellen und damit zu einem besseren Verstehensprozess anleiten können. Ziel ist es, einem komplexen Sachverhalt eine Struktur überzuordnen. Bekannte Strukturhilfen sind beispielsweise Mind-Maps, Concept-Maps oder Advance Organizer. Sie dienen dazu, einen Inhalt näher zu durchdenken und das Wissen zu differenzieren und letztendlich damit die inhaltliche Komplexität zu reduzieren.
Aus handlungsorientierter Perspektive, so Lehner, regt der Prozess der didaktischen Reduktion selbst auch Verstehensprozesse der Lernenden an. Aufgabe der Lehrperson sollte es demnach sein, nicht nur selbst die Stofffülle und die inhaltliche Komplexität zu reduzieren, sondern auch die Lernenden dazu anzuregen, Inhalte zu reduzieren. Lehner verweist auch in diesem Zusammenhang auf verschiedene praktische Umsetzungsmöglichkeiten. Das letzte Kapitel bildet eine Zusammenfassung aller zuvor erarbeiteten Techniken.
Problematisch erscheint Lehners unzureichende Reflexion des institutionellen Hintergrundes. So beziehen sich die empfohlenen Techniken recht unspezifisch auf Lehr-Lern-Situationen an allgemeinbildenden Schulen, berufsbildenden Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen. Doch nicht nur die Lerngruppen und die Zielstellungen sind in diesem Rahmen different, sondern auch das zur Verfügung stehende Zeitbudget und die Art und Weise der Lehre und damit die Auswahl der Techniken und Instrumente. So ergeben sich beispielsweise bei einer kleinschrittigen Vorgehensweise des Unterrichtens, die auch Unterrichtsgespräche und schüleraktive Phasen beinhaltet, spontane Reduzierungen. Eine stärkere Reflexion des institutionellen Kontextes hätte zusätzlich den Vorteil gehabt, dass das Curriculum als erste Instanz der Stoffreduktion stärker in den Fokus hätte gerückt werden können. So sind hochschulinterne Curricula vollkommen anders organisiert als die schulformenspezifischen Curricula der einzelnen Bundesländer oder gar der einzelnen Schulen, weil sie unterschiedliche Zielstellungen verfolgen und vor allem verschiedenen Lernvoraussetzungen unterliegen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist dahingehend zu nennen, dass Lehner die Trias Ziel –Zielgruppe –Zeitbudget allzu stark in den Vordergrund stellt. Die Lehrperson als Bindeglied zwischen Stoff, Lerngruppe und gesellschaftlichem Kodex bleibt hingegen außen vor. Es sollte nicht unterschätzt werden, inwiefern inhaltliche Affinitäten der Lehrperson die stoffliche Reduktion beeinflussen. Themen, die im Interessengebiet der Lehrperson liegen, werden unter Umständen weniger stark reduziert, sowohl bezüglich der Gründlichkeit als auch der Einschränkung, als Themen, die nicht in ihrem Interessenhorizont liegen.
Ungeachtet dessen bietet Lehner mit seiner Publikation ein äußerst zweckdienliches Arbeits- und Studienbuch. Dies liegt insbesondere am stringenten Aufbau des Buches und der Auswahl praxisorientierter Techniken und Instrumente, die Lehrenden Möglichkeiten und Beispiele zur Stoffreduktion und zur inhaltlichen Komplexitätsreduktion aufzeigen sowie Anregungen zur Einbindung der Lernenden in den Reduktionsprozess bieten. Mittels Zitaten und Fallbeispielen gelingt es dem Autor, auch abstrakte Inhalte zu veranschaulichen und zu perspektivieren.
EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)
Didaktische Reduktion
Bern: Haupt/UTB 2012
(211 S.; ISBN 978-3-8252-3715-8; 14,99 EUR)
Anne Ohndorf (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anne Ohndorf: Rezension von: Lehner, Martin: Didaktische Reduktion. Bern: Haupt/UTB 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382523715.html
Anne Ohndorf: Rezension von: Lehner, Martin: Didaktische Reduktion. Bern: Haupt/UTB 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382523715.html