EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)

GĂĽnther Schorch
Studienbuch Grundschulpädagogik
Die Grundschule als Bildungsinstitution und pädagogisches Handlungsfeld
Bad Heilbrunn: Klinkhardt (UTB 3. Auflage) 2007
(279 S.; ISBN 978-3-8252-2951-1; 18,90 EUR)
Studienbuch Grundschulpädagogik Günther Schorch legt mit dem „Studienbuch Grundschulpädagogik“ die dritte Auflage seiner Leitlinien des Berufsfelds Grundschule vor, die bereits drei Jahre nach Erscheinen der letzten Ausgabe in erweiterter Überabreitung als UTB neu aufgelegt sind. Das spricht nicht nur für den Nutzen von Schorchs Buch, sondern zeugt auch von den regen öffentlichen Debatten, den ständigen bildungspolitischen Reformmaßnahmen und nicht zuletzt von der wissenschaftlichen Dynamik, denen dieser Bildungsbereich in den letzten Jahren ausgesetzt ist. Eine regelmäßig vorzunehmende neue Standortbestimmung der Grundschulpädagogik scheint daher unausweichlich.

Das Studienbuch ist in drei Teile gegliedert: Teil A umreißt den „Erziehungswissenschaftlichen Theorierahmen der Grundschulpädagogik“, Teil B stellt „Die Grundschule als Bildungsinstitution“ vor, Teil C analysiert „Die Grundschule als pädagogisches Handlungsfeld“. Diese Zugänge zeigen Schorch als profunden Kenner der Grundschulpädagogik. Der Anspruch, „Überblickswissen“ zu liefern und zentrale Berufsaufgaben zu vermitteln, wird eingelöst, indem die Teile B und C Grundfragen der Grundschulpädagogik aus zwei verschiedenen Blickrichtungen – nämlich aus der Sicht der Institution und der des professionell Handelnden – beleuchten. Der Autor verfolgt in beiden Perspektiven jeweils die gleiche Systematik, die an vier wesentlichen Aspekten ausgerichtet ist:

  • Grundlegung,
  • Schulanfang und Schulfähigkeit,
  • Gemeinsamkeit und Heterogenität,
  • Kindgemäßheit.


Die einzelnen Bereiche lassen sich wie folgt kommentieren: Im ersten Teil (13-35) werden die Positionierungen der jungen wie vielfältigen akademischen Fachdisziplin skizziert, grundlegende Fragen und Themen der Grundschulforschung benannt sowie in die Bildungstheorie der Grundschule bzw. Primarstufe eingeführt. Dieser Versuch einer wissenschaftlichen Verortung der Grundschulpädagogik fällt insgesamt recht knapp aus. Sicher wären hier aus Perspektive des Fachdiskurses Leerstellen auszumachen und eine ausführlichere, noch stärker problemorientierte Diskussion zu wünschen. Als Studieneinführung bietet das Kapitel jedoch eine zugleich konzise und aspektreiche Darstellung der Grundschulpädagogik.

Der zweite Teil (37-126) entfaltet die vier oben genannten Aspekte aus der institutionellen Perspektive. Schorch hat dabei keine einseitig funktionale Auffassung von der Grundschule als Zulieferstufe für den Sekundarbereich, sondern betont die Tradition ihrer relativen Eigenständigkeit in Deutschland, ohne die damit zusammenhängenden spezifischen Übergangsprobleme zu verschweigen. „Grundlegung“ wird dabei zunächst verstanden als grundlegende Bildung oder Elementarbildung, die in der Tradition von Comenius´ Ethos des „omnes omnia omnino“ die moderne Grundschule begründet hat (42ff.). Von einem hohen Bildungsanspruch ausgehend werden die aktuellen Tendenzen um Bildungsstandards, Kompetenzen und einheitliche Tests kritisch in den Blick genommen. Dabei gemahnt der Autor hinsichtlich der Verengung oder Verweigerung eines umfassenden Bildungsgedankens zur Vorsicht (54f.). In Kürze, aber gleichwohl mit den grundlegenden Informationen wird auf die Fragen des Schulanfangs und Möglichkeiten seiner Gestaltung eingegangen, Schulfähigkeit als ein „multifaktorielles Gebilde“ rekonstruiert und die Entwicklung der Debatte um diesen Begriff in der Grundschulpädagogik kritisch nachgezeichnet.

Die Tatsache der starken Unterschiedlichkeit in der Schülerschaft in deutschen Grundschulen und die daraus resultierenden Probleme im Umgang mit Heterogenität werden unter dem Aspekt der „gemeinsamen Schule“ gekennzeichnet, Facetten ihrer Diskussion erfasst und die Chancen resp. Grenzen von Heterogenität benannt. Zum einen lässt sich dabei der Ethos einer „Vielfalt in der Gemeinsamkeit“ im Anschluss an die sogenannte Pädagogik der Vielfalt aufgreifen und als grundschulpädagogisches Leitbild entwickeln. Zum anderen sind aber auch kritisch die Grenzen schulischer Integrationskraft und Momente der Überforderung zwischen Bildungsstandards und sonderpädagogischer Förderdiagnostik benannt. In diesem Kontext kennzeichnet Schorch die Grundschule als kindgemäße Institution – bzw. als Institution, die den Anspruch der „Kindgemäßheit“ einzulösen habe. Die vorherrschenden Haltungen in der Frage, was kindgerecht sei, hätten die pädagogischen Konzepte und die Ansprüche an die Institution Grundschule wesentlich geprägt – gerade auch die Widersprüche, mit den sich diese auseinander zu setzen habe. Gegenwärtig etwa würden kompensatorische Funktionen betont und vielfach eine stärker sozial- und förderpädagogische Ausrichtung gefordert; zugleich drängen Leistungstest in eine gänzlich andere Richtung. Kritisch wird hier das Problem „monokausal“ abgeleiteter Aufgabenzuweisungen aufgezeigt. Sich der Kindgemäßheit verpflichtet fühlen müsse heißen, sie als „Bedingungsfaktor des pädagogischen Profils“ für eine humane Schule anzuerkennen, „die nicht nur der Vorbereitung auf das Leben dient, sondern selbst Teil kindlichen Lebens ist“ (126).

Im umfangreichsten dritten Teil (127-257) entfaltet Schorch seine systematische Sichtweise auf die individuelle Lehrkraft, die auf einer relativ eigenständigen Theorie pädagogischen Handelns im Bedingungsrahmen Grundschule beruhe. Auch hier werden die Themen „Grundlegung“ und „Schulanfang“ in ihren wesentlichen Aspekten entfaltet sowie die Herausforderungen durch „Heterogenität“ aufgezeigt – nun aus Sicht des professionell handelnden Pädagogen mit seinem Erziehungs- und Bildungsauftrag. Einzelne Punkte mögen streitbar sein, etwa der Umgang mit dem Begriff „Kulturtechniken“ oder die Überlegung, Ethikunterricht an den als mittlerweile überholt anzusehenden Theorien Kohlbergs auszurichten – insgesamt aber bietet der Autor hier eine solide Einführung in wesentliche Aufgaben des Grundschullehrers/der Grundschullehrerin, die anhand einschlägiger Literatur auf dem aktuellen Forschungsstand begründet werden. Auch das Thema „Kindgemäßheit“ findet sich in dieser Systematik hinsichtlich der Vielfalt der modernen Lehrerrolle und der mit ihr verbundenen Problematiken wieder. Es werden differenziert die Probleme beschrieben, denen sich eine Grundschullehrkraft angesichts dieses Anspruchs gegenübersieht, und es wird zu entwicklungsangemessenen Inhalten und Formen des Lernens gemahnt. Auch wenn eine Lehrkraft als Vertreter der Institution Grundschule die Ansprüche der Sache und der Gesellschaft zu vertreten habe, solle sie sich zugleich immer auch als ein „Anwalt des Kindes“ verstehen, der dieses nötigenfalls auch vor unangemessenen Anforderungen in Schutz zu nehmen habe.

Das Konzept des vorliegenden Studienbuches, die Institution und das pädagogische Handeln als grundlegende Perspektiven zu betonen, ist überzeugend – wenn auch ein „blinder Fleck“ nicht zu übersehen ist: die Perspektive des Kindes. Diese wird zwar in vielen Zusammenhängen mitgedacht – insbesondere bei den Themen „Heterogenität“ und „Kindgemäßheit“ – und mehrmals mit Verweis auf anthropologische und reformpädagogische Ansätze erwähnt, sie wird aber nicht ausführlich entfaltet. Hier wäre ein ergänzendes Kapitel denkbar, das die Grundschulpädagogik in einer ebenso konsequenten Systematik vom Kind her denkt und die Diskussion der neueren Kindheitsforschung sowie um die Vielfalt moderner Kindheiten in Zeiten pluraler Kulturen und Lebenswelten rezipiert. Der eigenständige kulturelle Beitrag, den Kinder im Bildungsprozess leisten, wäre hier aus pädagogischer Sicht zu thematisieren. Auch auf der Grundlage der umwälzenden Entwicklungen im Vorschulbereich wäre manches aus einer Institutionen übergreifenden Perspektive neu zu analysieren – sieht sich die Grundschule gerade mit Bezug auf die Formulierung neuer Bildungsansprüche im Elementarbereich mit großen Herausforderungen (Lehrerausbildung, Bildungspläne, Schuleingang, Schulentwicklung usw.) konfrontiert. Diese Veränderungen haben gegenwärtig schon prägenden Einfluss auf die Grundschulforschung und -pädagogik, weit über die organisatorischen Grundfragen und Modelle des Übergangs hinaus.

In seinen „Schlussgedanken“ konzipiert der Autor die „Vermittlung“ in ihrem Doppelsinn von „vermitteln von“ und „vermitteln zwischen“ als grundschulpädagogische Kategorie. Hier werden drei große Vermittlungsfelder entlang der drei Teile des Studienbuchs in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit und den je eigenen Vermittlungsaufgaben angedeutet:

  • Die Wissenschaft in ihrer Mittlerrolle zwischen Pädagogik und Bezugswissenschaften bzw. Fächern, Theorie und Praxis, normativen und empirische Zugängen;
  • die Schule als Institution in der Mittlerrolle zwischen staatlich-gesellschaftlichen (Selektions-)Anforderungen und pädagogischen (Förder-) Aufgaben;
  • die einzelne Lehrkraft in ihrer Mittlerrollen zwischen SchĂĽler und Sache.


Es ist der Versuch, Vermittlungsfelder der Grundschulpädagogik in einem schlüssigen Entwurf harmonisch zu vereinen und gegensätzliche Perspektiven gleichsam dialektisch zu verschränken. Fragezeichen, aktuelle Probleme und Widersprüche erklingen hier jedoch allenfalls zwischen den Zeilen und werden metaphorisch überwunden: Schorch schließt sein Vermittlungsplädoyer mit dem Bild des „Brückenbauens“: Die Lehrkraft biete Möglichkeiten an, die zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, der Fremd- und Selbstbestimmung oder differentem Bildungsdenken vermitteln. Das mag konzeptionell erhellend sein und dem Leser eines Studienbuches Mut geben, ein kritisch-konstruktiver Beitrag zu den herrschenden Debatten oder eine neue Sichtweise wird damit nicht geboten.

Diese kritischen Anmerkungen sollen nicht über den positiven Gesamteindruck und das hohe Verdienst von Schorchs Werk hinwegtäuschen: Hier liegt ein Referenzwerk vor, dessen Lektüre sowohl Studierenden als auch Praktikern und Fachkollegien empfohlen sei; denn: Wesentliche Bereiche der Bildungs- und Schultheorie wie der Grundschulforschung und -didaktik werden gründlich und sehr gut lesbar dargestellt. Das Buch ist zum Selbststudium und für Lehrveranstaltung, zum Nachschlagen oder zur vertieften Lektüre geeignet – ein Studienbuch im besten Sinne. Angesichts der ewigen „Baustelle Grundschule“ darf man gespannt sein, wie sich die Leitlinien Schorchs in der vierten Auflage lesen werden.
Peter Gansen (GieĂźen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Gansen: Rezension von: Schorch, GĂĽnther: Studienbuch Grundschulpädagogik, Die Grundschule als Bildungsinstitution und pädagogisches Handlungsfeld, 3. Auflage. Stuttgart: UTB 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978382522951.html