In diesem Jahr feiert Alice Salomon, Gründerin der gleichnamigen Hochschule für Soziale Arbeit in Berlin, ihren 150. Geburtstag. Salomon zählt zu den Klassiker:innen der Sozialen Arbeit. Aus Anlass des Jubiläums veröffentlicht das Alice Salomon Archiv nun einen Grundlagentext Salomons mit dem Titel „Die sittlichen Grundlagen und Ziele der Wohlfahrtspflege“. Der Artikel entstand auf Basis eines Vortrags, den Salomon auf dem 37. Deutschen Fürsorgetag hielt. In diesem Vortrag stellt sie die Frage, welche Ideale („sittliche[n] Kräfte“) der Wohlfahrtspflege zugrunde liegen. Salomon bestimmt dann Nation, Solidarität, Religion und Humanismus als Leitwerte der Sozialen Arbeit. Damit eröffnete sie eine Debatte um die grundlegenden Werte Sozialer Arbeit, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Es verspricht deshalb spannend zu werden, wenn die Herausgeberinnen, Dayana Lau, Friederike Mehl und Sabine Toppe, acht Wissenschaftler:innen aus der Sozialen Arbeit bitten, Salomons Text in seiner Relevanz für die heutige Soziale Arbeit zu reflektieren.
Der Text wird zunächst eingeführt. Er wird dann in Gänze abgedruckt, inklusive eines Reprints der ersten Vortragsseite im Original. In den nun folgenden Artikeln arbeiten unterschiedliche Autor:innen die Bedeutung der von Salomon bestimmten Leitwerte für die heutige Soziale Arbeit heraus. Das Buch schließt mit einer Replik auf Salomons Text, die von Studierenden der Alice Salomon Hochschule verfasst wurde.
Das Buch verfolgt nach eigenen Angaben zwei Ziele: So soll der Text Salomons erstens zum „kontroversen und kritischen Weiterdenken anregen“ (5-6, 10). Zweitens soll das Buch für die historische Gewordenheit der Begriffe und ihre Konstruktivität sensibilisieren (11). Die Publikation hegt also nicht den Anspruch, Salomons Werk in seinem historischen Kontext besser zu verstehen, sondern beleuchtet einen historischen Text in seiner Bedeutung für die Gegenwart.
Wie werden diese Ziele umgesetzt? In der Arbeit mit historischen Texten entsteht ein Impuls zum kritischen Weiterdenken dadurch, dass diese zugleich vertraut und unvertraut sind. Der Text „Die sittlichen Grundlagen der Wohlfahrtspflege“ wirkt vertraut, weil er von einer Sozialen Arbeit handelt, die 1922 ebenso wie 2022 um ihre grundlegenden Werte ringt. Er ist gleichzeitig fremd, weil die „sittlichen Grundlagen“, die Salomon hier aufmacht und die Art und Weise, wie sie diese diskutiert, sich von der heutigen Wertediskussion sehr unterscheiden. Historische Quellen sind für heutige Perspektiven anschlussfähig, zeigen aber gleichzeitig Alternativen zum Vertrauten auf. Die Kommentator:innen suchen folglich nach Stellen in Salomons Text, an die sie eigene Überlegungen anknüpfen können. Dieses Weiterdenken erfolgt in unterschiedlicher Distanz zum Text: Während sich einige Autor:innen an Salomons Text entlanghangeln, Textstellen herausgreifen und mit gegenwärtigen Fragen der Sozialen Arbeit kontrastieren (beispielsweise die Artikel von Nausikaa Schirilla und Safiye Yildiz), begreifen andere Autor:innen den jeweiligen Leitwert lediglich als Anlass, um losgelöst von Salomons Text über die Relevanz von Nation, Solidarität, Humanismus und Religion für die gegenwärtige Soziale Arbeit zu reflektieren (beispielsweise die Texte von Esther Lehnert, Anke Strube oder die Replik am Ende des Buches). Die zuletzt genannten Texte kommen über die Darstellung bereits bekannter Positionen nicht hinaus.
Stark wird das Buch dann, wenn es durch die Kontrastierung zwischen Vertrautem und Unvertrautem zu einem wirklichen Weiterdenken kommt. Beispielhaft ist hier der Text von Nausikaa Schirilla zu nennen, die einen kritischen Blick auf Humanismus als Wert Sozialer Arbeit wirft, indem sie Salomons Humanismusbegriff vor dem Hintergrund von Butlers Ethik der Verantwortung reflektiert und zu dem Schluss kommt, dass beide Ansätze die „Begrenztheit humanitärer Ideale“ anerkennen und gerade deshalb „die humanitären Triebkräfte nicht eingeschränkt [werden], sondern sie anders wirken“ (83). Zum Nachdenken regt auch der Beitrag von Jana Günther an, der ausgehend von Salomons Schlüsseltext den Begriff der Solidarität zwischen Klassenkampf, paternalistischer Fürsorge und Menschenrechten auslotet. Welche weiteren Impulse über den Grundlagentext hinaus in Salomons Werk zu finden sind, macht Sabine Toppe in einem einleitenden Artikel sichtbar – der gerade deshalb auch ein guter Abschluss gewesen wäre.
Ein Impuls zum Weiterdenken kann auch entstehen, wenn ein historischer Text heute in sich widersprüchlich erscheint. Diese Widersprüche springen einem im Fall von „Die sittlichen Grundlagen und Ziele der Wohlfahrtspflege“ geradezu entgegen: So betrachtet beispielsweise Esther Lehnert den Humanismus als einen Wert, der die rechtsideologische Aufteilung in „ethnisch-homogene ‚Wir-Gruppen‘ und verschiedene untergeordnete ‚fremde‘ Ihr-Gruppen“ (77) überwinden kann, während Safiye Yildiz nur wenige Seiten vorher herausarbeitet, wie Salomon durch ihren Nationenbegriff den Anderen erst konstruiert. Andere Autor:innen greifen diese Widersprüchlichkeiten auf und denken sie weiter. Hervorzuheben ist hier die Replik der Studierenden sowie der Artikel von Alexander Kenneth-Nagel, der der Spannung zwischen (säkularisiertem) Humanismus und Religion nachgeht. Kenneth-Nagel kontrastiert Essentialisierungen in der Sozialen Arbeit mit der Gefahr der Ausblendung von Differenzen und kommt zu dem Schluss, dass „eine automatische Ausblendung von Differenzdimensionen nicht automatisch zu mehr Gleichheit führt“ (49).
Die Leitwerte der Sozialen Arbeit, die Salomon 1921 bestimmte, erscheinen aus einer heutigen Perspektive widersprüchlich, weil sich ihre Bedeutung in den letzten 150 Jahren verändert hat. [1] Daher sind sie geeignet, für die Konstruktivität und Gewordenheit von Begriffen zu sensibilisieren. Dass angesichts der sehr kurzen Texte nur wenige Autor:innen diesem Anspruch folgen (können), ist nachvollziehbar. Am stärksten erfolgt die begriffsgeschichtliche Arbeit in den beiden Kommentierungen zur „Nation“, da hier die Bedeutungsverschiebung zwischen 1922 und 2022 besonders deutlich wird. So zeichnen Gudrun Hentges und Kemal Bozay beeindruckend nach, wie Salomon ihren Nationenbegriff konstruiert, nämlich nicht als „vorgestellte Gemeinschaft“ (63), sondern als „essenzialistische“ (62), in der das Andere als das Fremde angelegt ist. Noch deutlicher arbeitet Safiye Yildiz heraus, wie durch den Begriff der Nation die:der Andere als Adressat:in der Sozialen Arbeit überhaupt erst konstruiert wird. Die Ausführungen sind zweifelsohne ein wichtiger Beitrag zur kritischen Salomon-Rezeption.
Leider fehlt es aber an einer historischen Einbettung und es fällt daher unter den Tisch, warum Salomon die Nation so konstruierte, wie sie es tat. Ohne Salomons Nationalismus verharmlosen zu wollen; „Nation“ und „Volk“ wurden in der Weimarer Republik als Kitt angesehen, die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden. Die „Volksgemeinschaft“ wurde von fast allen politischen Parteien als utopisches Ziel propagiert. [2] Rassismus und die Lehre von der Entwicklung der Völker von einem primitiven Zustand zu einem Kulturvolk waren anerkannte Lehrmeinungen der Wissenschaft. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch anderes sag- und denkbar gewesen wäre – und Konzepte aus der Arbeiter:innenbewegung legen hiervon Zeugnis ab (vgl. hierzu auch den Artikel von Magdalena Kaufmann und Jirka Wunsch). Weil mit der richtigen und berechtigten Etikettierung von Salomons Volksbegriff als „westlich-imperialistisch“ (108) und „essenzialisitisch“ (62) aus einer heutigen Perspektive immer auch eine Bewertung einhergeht, ist hier der historische Kontext aufzuzeigen, auch damit es nach einer „Phase der Verdrängung und Verklärung in der Profession“ (11) nicht zu einer ahistorischen Verurteilung Alice Salomons kommt. In eine ähnliche ahistorische Schieflage gerät der Artikel von Philipp Schäfer, der Salomon ausgehend von ihrem Solidaritätsbegriff zur Garantin einer herrschaftssensiblen Sozialen Arbeit stilisiert (97). Eine bürgerliche Kapitalismuskritik war in der Weimarer Republik weit verbreitet und mit der Klassengesellschaft durchaus kompatibel. [3] Auch Alice Salomons Ansatz bleibt ein bürgerlicher, der zwar kritische Elemente, aber durchaus auch kolonialisierende Momente beinhaltet. [4]
Solche Schieflagen sind nicht verwunderlich, weil die Autor:innen bis auf wenige Ausnahmen zu den Themenfeldern „Nation“, „Solidarität“, „Humanismus“ und „Religion“ nicht aus einer historischen Perspektive forschen. Es geht dem Buch nicht primär um Alice Salomon, sondern um heutige Perspektiven, die sich aus ihrem Text ergeben können.
Somit leistet das Buch zweierlei: Nach einer langen Phase, in der Alice Salomon entweder als Person oder in ihrer Bedeutung für die Professionalisierung Sozialer Arbeit diskutiert wurde, lädt das Buch erstens ein, sich mit ihren Texten auseinanderzusetzen. Durch die Auswahl der Kommentator:innen weist das Buch über den Kreis der historisch Forschenden in der Sozialen Arbeit hinaus. Es eröffnet eine wissenschaftlich-analytische Perspektive auf Salomons Text und regt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrem Werk ein. Das Buch ist damit als wichtiger Beitrag zu einer kritischen Salomonrezeption zu verstehen, die Alice Salomon weder auf ein Podest stellt, noch sie ad acta legt (108). Dass dieser kritische Impuls aus dem Alice Salomon Archiv selbst kommt und sich auch Studierende mit der Namensgeberin ihrer Hochschule auseinandersetzen, ist bemerkenswert und zeigt, dass Kritik hier ernst genommen wird. Schließlich gibt das Buch eine Idee, welches didaktisches Potenzial in der Auseinandersetzung mit historischen Texten für die Gegenwart liegen kann, wenn diese als Impuls für gegenwärtige Diskussionen verstanden werden.
[1] Brunner, O., Conze, W., & Koselleck, R. (2004). Geschichtliche Grundbegriffe. Klett-Cotta.
[2] Wildt, M. (2019). Die Ambivalenz des Volkes. Suhrkamp.
[3] Kerbs, D., & Reulecke, J. (1998). Einleitung der Herausgeber. In Dies. (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen. 1880 bis 1933 (S. 10–18). Hammer.
[4] Werner, M. (2022). Zwischen Erinnern und Historiographie. Replik auf Joachim Wielers ‚Zum 150. Geburtstag von Alice Salomon‘. Soziale Arbeit 71(6), 217–224.
EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)
„Über alle Parteiungen weg“?
Aktuelle Gedanken zu Alice Salomons Schlüsseltext „Die sittlichen Grundlagen und Ziele der Wohlfahrtspflege“
Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2022
(136 S.; ISBN 978-3-7841-3482-6; 21,00 EUR)
Melanie Werner (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Melanie Werner: Rezension von: Berlin, Alice Salomon Archiv der Alice Salomon Hochschule (Hg.): „Über alle Parteiungen hinweg“?!, Aktuelle Gedanken zu Alice Salomons Schlüsseltext „Die sittlichen Grundlagen und Ziele der humanitären Wohlfahrtspflege“. Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378413482.html
Melanie Werner: Rezension von: Berlin, Alice Salomon Archiv der Alice Salomon Hochschule (Hg.): „Über alle Parteiungen hinweg“?!, Aktuelle Gedanken zu Alice Salomons Schlüsseltext „Die sittlichen Grundlagen und Ziele der humanitären Wohlfahrtspflege“. Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378413482.html