Weder in den amtlichen Erhebungen zur Familien- und Sozialpolitik noch in der Public Health- oder Gesundheitswissenschaft ist bislang geklärt, wie die gesellschaftliche Angleichung der Lebenserwartung von älteren Menschen mit Behinderung die institutionellen Anforderungen an die Versorgung und Betreuung künftig beeinflussen wird.
Der Brüsseler Kreis, ein Bündnis großer Sozialunternehmen aus Diakonie und Caritas, welches die Grundlagen für die Bearbeitung der Thematik schaffen und zugleich unterstützend eingreifen will, hat diese Forschungslücke erkannt. Unter dem Aspekt einer „Behindertenhilfe im Wandel“ sollen Möglichkeiten der Neuerung aufgezeigt werden, die gemeinsam mit dem Zentrum für Versorgungsforschung und dem Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln in realistische Konzepte umgesetzt werden, ohne auch Fragen der betriebswirtschaftlichen Effizienz zu vernachlässigen. In der genannten Kooperation wurde die INA-Studie mit dem Untertitel „Inanspruchnahme, soziales Netzwerk und Alter am Beispiel von Angeboten der Behindertenhilfe“ initiiert.
Ziel der Untersuchung ist es, nicht nur aus dem Blickwinkel der Angehörigen oder der gesetzlichen Betreuung, sondern auch aus der Betroffenenperspektive heraus zu ermitteln, was bei der künftigen Sozialplanung bezüglich des zu erwartenden Inanspruchnahmeverhaltens zu bedenken sei. Ein solches Unterfangen erscheint sehr anspruchsvoll. Verlangt es doch, über Jahre vorab die Alterssituation von Menschen mit Behinderung zu prognostizieren. Die Autorinnen und Autoren wandten gemessen am Gesamtumfang der Studie viel Sorgfalt auf, um ihr Vorgehen bei der Erhebung des zu erwartenden Versorgungsbedarfs von Menschen mit Behinderung exponiert darzustellen. Folgerichtig stehen die Ausführungen zum Ablauf der Studie mit einem guten Drittel ihres Gesamtumfanges an zentraler Stelle.
Den methodischen Rahmen bildet eine „Vollerhebung“. Um die gesuchten Informationen zu ermitteln, wurden zunächst Terminologien und Testinstrumentarien ausgewählt und studienspezifisch angepasst. Darüber hinaus wurden Datenerhebungsinstrumentarien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend genutzt, um die „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung“ (MUGSLA) durch selbst konstruierte Items zu verifizieren. Mit der Einbeziehung des Kölner Patientenfragenbogens (KPF), der auf dem Konzept der „Unterstützenden Versorgung“ beruht und für die „Unternehmensführung mit biopsychosozialen Kennzahlen“ entwickelt worden ist, wurde zudem noch eine abschließende Möglichkeit gesucht, um die „Menschen mit Behinderung als Experten ihrer selbst“ zum Erleben der Einrichtungen in einer reduzierten und leichten Version zu befragen.
Im dritten Kapitel werden die „Anspruchshalter Nutzer und Nutzerinnen der Einrichtungen des Brüsseler Kreises, ihre Angehörigen sowie die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nach ihren soziodemographischen Merkmalen skizziert“ (57). Mit Bezug auf die Untersuchungspopulationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihrer Angehörigen sowie der Menschen mit Behinderung erweisen sich nach Auffassung der Autorinnen und Autoren die Umstrukturierungen und (alters-) spezifische Anpassungen in der Infrastruktur des Wohn- und Beschäftigungsbereiches als differenzielle Variablen, um kommende Versorgungsansprüche nach Alter, Geschlecht, Familienstand, Schulbildung oder beruflicher Stellung auszuloten. Die hier zusammengeführten Befunde dokumentieren neben den Folgerungen aus der Alterung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenso die Konsequenzen aus der Alterung der Menschen mit Behinderung. Darüber hinaus werden die Konsequenzen aus den Befunden zur Geschlechtsverteilung und Nationalität diskutiert. Es zeigt sich in der Gesamtheit der Ergebnisse zunächst, dass die befragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu über einem Drittel zwischen 40- und 50 Jahren alt sind, dass die Menschen mit Behinderung in der Regel elterliche Angehörige haben, die selbst betreuungsbedürftig werden, dass bereits heute immer mehr Menschen mit Behinderung im Renteneintrittsalter sind und dass in den nächsten Jahren fast ein weiteres Drittel des Bewohnerinnen- und Bewohnerklientels aus der Werkstatt ausscheiden wird. Außerdem zeigt sich, dass die ausländischen Mitbürgerinnen und ausländischen Mitbürger mit Behinderung als eine neue Personengruppe gesehen werden kann, die Angebote der Behindertenhilfe nachfragt.
Im vierten Kapitel wird die Bedeutung sozialer Beziehungen herausgestellt. Handlungsspielräume werden insbesondere über die bessere Ressourcennutzung durch das „Konzept der Lebenslage“ (Schulz-Nieswandt 2006) definiert. Betrachtet werden „Netzwerkpersonen“; es werden „Soziale Unterstützungsleistungen“, thematisiert, es wird die Bedeutung der „Laienhilfe“ erörtert und abgeklärt, inwieweit die „Professionalisierung“ diese wirksam ersetzen oder ergänzen kann. Das methodologische Herangehen kennzeichnet ein „multidimensionaler Ansatz, der die Personen transaktionalistisch in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt betrachtet“ (82) und von Schulz-Nieswandt (2006) im „Konzept der Lebenslage“ nach Überlegungen von Otto Neurath ausgearbeitet worden ist. Bestätigt wird hier, dass die sozialen Netze von Menschen mit Behinderung nur schwach ausgeprägt sind, dass oftmals keine Familienangehörigen ihre Angehörigen mit Behinderung im höheren Lebensalter mehr pflegen können oder diejenigen, die bisher Unterstützung leisteten, selbst zunehmend hilfsbedürftig werden. Die Autorinnen und Autoren der Studie verweisen desweiteren darauf, dass weitgehend unbekannt ist, ob die in den sozialen Einrichtungen Tätigen hinreichend qualifiziert sind, um den sich wandelnden Anforderungen gerecht zu werden.
Die Inanspruchnahme von formalen Wohnangeboten ist das Thema des sechsten Kapitels. Im Pro und Contra der Inanspruchnahme professioneller Leistungen erscheinen hier strukturelle Beschränkungen (constraints), daneben aber auch soziokulturelle Orientierungsmuster (frames), außerdem Einschränkungen der individuellen Entscheidungssituation (bounded rationality) sowie langfristig gewachsene Überzeugungen (beliefs) und nicht zuletzt bewährte Handlungsroutinen (habits) im Hinblick auf die betrachtete Population als maßgeblich für künftige Angebote der Behindertenhilfe. Als besonders sensibel für die Wahl der Wohneinrichtung werden das pädagogische Konzept und die vorherrschende Atmosphäre seitens der Studie erachtet. Außerdem stellt sich vor dem Hintergrund der steigenden Alterung behinderter Menschen (Driller/Pfaff 2006) für Angehörige die Frage, ob die Versorgungsstrukturen derzeit ausreichen, um die steigende Anzahl schwerst-pflegebedürftiger Menschen mit Behinderung auch in Zukunft innerhalb der Behindertenhilfe versorgen zu können (141).
Die vorliegende Studie zieht Schlussfolgerungen aus der Überlastung der Familie, die durch gesundheitliche Beeinträchtigungen der zu pflegenden Angehörigen oder mangelhafte Wohnbedingungen verursacht sein können. Sie verweist darauf, dass die Entscheidungsträger für die Inanspruchnahme formeller Wohnangebote viel zu selten selbst die betroffenen Personen mit Behinderung sind. Und sie bestätigt, dass Angehörige und gesetzliche Betreuung deren ganztägige Versorgung nach Eintritt ins Rentenalter favorisieren. Die empirischen Befunde der INA-Studie sind perspektivisch bedeutsam. Über die Geschwindigkeit, mit der sich die Inanspruchnahme sozialer Netzwerke verschärft, sagt die Untersuchung derzeit allerdings noch wenig aus. Dies muss Gegenstand zukünftiger Forschungen sein. Die INA-Studie weist hingegen eindeutig darauf hin, dass eine solide empirische Datenbasis zwingend notwendig ist, um auf die kommenden Herausforderungen vorbereitet zu sein.
Die Erhebungen sind neu und systematisch erhoben. Hinzu kommt, dass in einigen Bereichen der Behindertenhilfe, so unter anderem in der Arbeit mit intellektuell beeinträchtigen Menschen, Anregungen dieser Art in der Vergangenheit wenig beachtet, ja teilweise auch ignoriert worden sind. Außerdem kommen die Betroffenen üblicher Weise selten zu Wort und es überwiegt eine Fokussierung auf die tradierten Service- und Fürsorgemodelle, vor allem in der Arbeit mit behinderten Menschen im Erwachsenen- und höheren Lebensalter. Vielen der in der Behindertenhilfe Verantwortlichen fällt es darüber hinaus immer noch schwer, sich vom herkömmlichen, defizitären Behinderungsbild abzulösen.
Allein die humanistische Forderung nach einem würdevollen Leben verlangt, sich mit der Frage der Betreuung von Menschen in Sondereinrichtungen kritisch auseinanderzusetzen. Maßgeblich ist, dass bei einem Leben mit Behinderung auch und gerade im Erwachsenen- und höheren Lebensalter mangelndes Zutrauen, Infantilisierung, Fremdbestimmung, Verdinglichung, Respektlosigkeit und Verschleierung von Bevormundung nicht toleriert werden kann. Diese Forderung wird seit längerem auch seitens der Selbsthilfeorganisationen von Menschen mit Behinderung thematisiert. In Übereinstimmung mit der INA-Studie zeigen die Aktivitäten der Selbsthilfegruppen auf, dass die Professionalität in der Behindertenhilfe neu zu justieren ist. Wer mit einer Behinderung altern muss, will ganz gewiss nicht einer entmündigenden „Fürsorglichkeit“ anheim fallen. Deshalb gilt es, Positionen und Postulate des professionellen Handelns perspektivisch zu hinterfragen – die Befunde der INA-Studie verstehen sich hierzu als ein wesentlicher Beitrag. Die Beteiligten des Brüsseler Kreises hatten wiederholt mehr Planungsunsicherheit für Sozialunternehmen politisch angemahnt. In Kooperation mit der Universität zu Köln wurden nun Ergebnisse vorgelegt, die sowohl als Sprachrohr der Lebensentwürfe behinderter Menschen wie auch als Orientierungshilfe für die Frequentierung sozialer Einrichtungen anzusehen sind.
EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)
Die INA-Studie
Inanspruchnahme, soziales Netzwerk und Alter am Beispiel von Angeboten der Behindertenhilfe
Freiburg: Lambertus 2008
(172 S.; ISBN 978-3-7841-1800-0; 20,80 EUR)
Volker Kriegel (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Volker Kriegel: Rezension von: Driller, Elke / Alich, Saskia / Karbach, Ute / Pfaff, Holger / Schulz-Nieswandt, Frank (Hg.): Die INA-Studie, Inanspruchnahme, soziales Netzwerk und Alter am Beispiel von Angeboten der Behindertenhilfe. Freiburg: Lambertus 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378411800.html
Volker Kriegel: Rezension von: Driller, Elke / Alich, Saskia / Karbach, Ute / Pfaff, Holger / Schulz-Nieswandt, Frank (Hg.): Die INA-Studie, Inanspruchnahme, soziales Netzwerk und Alter am Beispiel von Angeboten der Behindertenhilfe. Freiburg: Lambertus 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378411800.html