
Die Abhandlung beschäftigt sich mit der Frage, „inwieweit Johann Heinrich Pestalozzis Methode der Menschenbildung […] sokratisches Denken aufnimmt oder Parallelen zu ihm aufweist“ (11), da Pestalozzis Lebenszeit „zu großen Teilen in die Epoche einer breiten Wiedererinnerung“ an die Antike gefallen sei. Die Beantwortung dieser Frage ist in vier inhaltliche Kapitel organisiert, die von einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung gerahmt werden. In der Einleitung (11–43) wird zunächst der Forschungsstand in Bezug auf die sokratische Methode und in Bezug auf Pestalozzis Methode skizziert, dann der Aufbau der Arbeit dargelegt sowie das methodische Vorgehen erläutert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass „in der aktuellen Literatur zur sokratischen Methode […] das 18. Jahrhundert und Pestalozzi nur eine geringe Rolle“ (12) spielen. In der Reformpädagogik und in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sei diese Frage allerdings durchaus diskutiert worden, weshalb auch die entsprechende, ausschließlich deutschsprachige Forschungsliteratur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Forschungsstand herangezogen wird.
Das zweite Kapitel (44–85), das mit „die sokratische Methode in der Zeit der Aufklärung“ überschrieben ist, widmet sich der Frage, was das „Sokratische an Sokrates‘ Methode der Gesprächsführung sei“. Dieses wird zum einen in einer „konsequenten Aufforderung zu kritischem Nachdenken über grundlegende Fragen im Gespräch“ gesehen (57) und zum andern als Verzicht auf eine direkte Unterweisung bzw. Belehrung, womit der Aspekt des schöpferischen Hervorbringens betont worden sei. Entsprechend habe die „direkte Weitergabe von festem, gesichertem Wissen […] in der Schule der Aufklärungszeit allmählich an Bedeutung“ verloren (83), wie einigermaßen quellenfrei behauptet wird, und die Schüler seien durch eine sokratische Pädagogik vermehrt zu eigenen Aktivitäten aufgefordert worden.
Das dritte Kapitel (86–126) wendet sich Jean-Jacques Rousseau und seinem Konzept der negativen Erziehung zu, wie er sie teilweise in den ersten drei der insgesamt fünf Büchern des Émile (1762) entwickelte, da dieser ebenfalls die Absicht gehabt habe, die „Erziehung methodisch zu reformieren“ und damit „neue pädagogische Impulse“ gesetzt habe (85). Der Autor kommt in diesem Kapitel dann allerdings zum Schluss, dass Rousseau „kein sokratischer Pädagoge“ gewesen sei. Seine Pädagogik sei aber trotzdem von einem „sokratischen Geist“ geprägt, weshalb er auch „mit einigem Recht als einen Wegbereiter sokratischer Pädagogik“ angesehen werden könne (126).
Das umfangreiche vierte Kapitel (127–233) widmet sich der philanthropischen Pädagogik, da diese „das bestehende Bildungswesen in Anlehnung an die Gedanken Rousseaus und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese reformieren wollte“ (38). Es werden Johann Bernhard Basedow, Ernst Christian Trapp, Johann Stuve, Philipp Julius Lieberkühn und Karl Friedrich Bahrdt als Vertreter des Philanthropismus auf die sokratischen Dimensionen ihrer Pädagogik befragt, wobei deutlich wird, dass sich das „sokratische“ bei den einzelnen Autoren unterschiedlich manifestiert hat, falls ein solches überhaupt sichtbar wird (233).
Mit dem fünften Kapitel (234–394) wendet sich die Abhandlung dann dem „eigentlichen“ Thema zu, der Frage nämlich, inwiefern die Methode Pestalozzis sokratisch genannt werden kann. In einer sehr detaillierten und quellennahen Darstellung der pestalozzischen Pädagogik in Bezug auf die sokratische Methode, des Katechisierens und der Ausbildung der Denkkraft kommt der Autor zum Schluss, dass Pestalozzi weder ein Sokratiker noch ein „Verfechter der sokratischen Methode“ gewesen sei und dieser sogar „eher skeptisch“ gegenübergestanden habe. Trotzdem seien seine „pädagogischen Ideen“ von „sokratischen Ideen“ durchzogen gewesen, wenn nicht ausschließlich auf die äußeren Merkmale des Sokratisierens geachtet werde (392), womit der „Geist“ einer Idee in den Vordergrund gerückt wird.
In der Schlussbetrachtung (395–408) werden die einzelnen Kapitel nochmals rekapituliert, bevor im letzten Kapitel (Fazit und Ausblick, 409–413) und damit die Studie abschließend auf die überzeitliche Relevanz von Pestalozzis Überlegungen hingewiesen wird. Dieser habe darauf aufmerksam gemacht, „dass die Aufgabe aller Pädagogen darin besteht, beständig Möglichkeiten und Rahmenbedingungen auszuloten, wie ein Thema aufbereitet und dargeboten werden kann, um Schüler durch eigenständige Beschäftigung mit ihm zu Erkenntnissen und Einsichten kommen zu lassen“ (409). Vor diesem Hintergrund sei Pestalozzi „zwar kein Sokratiker“, aber eben doch ein „sokratischer Pädagoge“ (413).
Diese Schlussfolgerung weist nochmals auf das Kernproblem einer Arbeit hin, die rein textimmanent argumentiert, den historischen Kontext kaum berücksichtigt und nach dem „Eigentlichen“ eines Textes fragt. Auch wenn zwischen der „Methode Sokrates“ und der „sokratischen Methode“ unterschieden wird, so wird doch eine sokratische Lehrmethode, die in einer platonischen Ideenlehre zu verorten ist, mit einer sokratischen Lehrart im 18. Jahrhundert gleichgesetzt, ohne dass danach gefragt werden würde, auf welches zeitgenössische Problem die jeweilige Lehrart eine Antwort war. Auch Rousseaus Pädagogik, die wesentlich am Émile (bzw. der ersten Hälfte davon) festgemacht wird, wird nicht als Antwort auf eine als krisenhaft und korrupt interpretierte Gesellschaft des französischen Absolutismus gelesen, sondern als Anleitung zu einer „naturgemäßen Erziehung“, wobei die Natur als ontologischer Fakt und nicht als Gegenbegriff zur Gesellschaft verstanden wird. Mit einer solchen Perspektive können Zusammenhänge und Bezüge hergestellt werden, welche den Quellen kein Vetorecht einräumen, weil nicht nur die Einheit eines Werks gewahrt werden muss, sondern weil ähnliche Denk- oder Argumentationsmodelle als Ausdruck eines „Gleichen“ verstanden werden und nicht als zwar formgleiche, aber trotzdem fundamental unterscheidbare Antworten auf ebenso fundamental andere Problemlagen.
Die Studie, die auf einer langjährigen nebenberuflichen und außeruniversitären Beschäftigung mit Pestalozzi beruht und die infolge des plötzlichen Tods des Verfassers nicht mehr von ihm überarbeitet werden konnte, hat eine Vielzahl von Quellen und Literatur akribisch und gewissenhaft nach sokratischen Spuren durchforstet. Sie ist jedoch einer rein hermeneutischen, von der klassischen Ideen- bzw. Geistesgeschichte geleiteten Forschungsperspektive verhaftet, knüpft an einen Forschungsstand an, der als „veraltet“ zu bezeichnen ist und berücksichtigt neuere historiographische Entwicklungen nicht.[1] Dabei verweist sie auf durchaus interessante Fragen, die an dieses Quellenkorpus gestellt werden könnten: Weshalb interessierte sich die deutschsprachige Pädagogik des 18. Jahrhunderts für Sokrates bzw. für die Sokratische Lehrmethode und welche Anliegen konnten damit verfolgt werden? Oder: Welche Funktionen übernahm diese Methode bei der Herausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin Pädagogik oder eines Lehrberufs? Durch die rein hermeneutische Herangehensweise bleiben solche Fragen leider unbeantwortet und das Potenzial einer Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert im Allgemeinen und den „Klassikern“ der Disziplin im Besondern unberücksichtigt.
[1] Vgl. Tröhler, D., & Horlacher, R. (2019). Histories of Ideas and Ideas in Context. In T. Fitzgerald (Hrsg.), Handbook of Historical Studies in Education. Debates, Tensions, and Directions (S. 29-45). Springer. Doi.org/10.1007/978-981-10-0942-6_2-1; Zumhof, T. (2021). Ideengeschichte. In G. Kluchert, K.-P. Horn, C. Groppe, & M. Caruso (Hrsg.), Historische Bildungsforschung. Konzepte – Methoden – Forschungsfelder (S. 69-78). Klinkhardt.