24 (2025), Nr. 1 (Januar)

Ralf Brocker
Pestalozzi – ein Sokratiker?
Eine hermeneutische Analyse im Kontext sokratischer Lehrart im 18. Jahrhundert
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2024
(431 S.; ISBN 978-3-7815-2632-7; 49,00 EUR)
Pestalozzi – ein Sokratiker? Publikationen, die sich mit einem der sogenannten Klassiker der PĂ€dagogik beschĂ€ftigen, haben seit einiger Zeit eher Seltenheitswert. Es ist deshalb erfreulich, wenn eine Publikation sich einer Person aus diesem Feld annimmt. Ob es der vorliegenden Monografie allerdings gelingt, das Genre der Klassiker der PĂ€dagogik mit neuen Perspektiven aus seinem Randdasein zu befreien und einen „neuen“ oder „frischen“ Blick auf dieses Genre allgemein und die Person Pestalozzi im Besonderen zu werfen, ist jedoch fraglich.

Die Abhandlung beschĂ€ftigt sich mit der Frage, „inwieweit Johann Heinrich Pestalozzis Methode der Menschenbildung [
] sokratisches Denken aufnimmt oder Parallelen zu ihm aufweist“ (11), da Pestalozzis Lebenszeit „zu großen Teilen in die Epoche einer breiten Wiedererinnerung“ an die Antike gefallen sei. Die Beantwortung dieser Frage ist in vier inhaltliche Kapitel organisiert, die von einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung gerahmt werden. In der Einleitung (11–43) wird zunĂ€chst der Forschungsstand in Bezug auf die sokratische Methode und in Bezug auf Pestalozzis Methode skizziert, dann der Aufbau der Arbeit dargelegt sowie das methodische Vorgehen erlĂ€utert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass „in der aktuellen Literatur zur sokratischen Methode [
] das 18. Jahrhundert und Pestalozzi nur eine geringe Rolle“ (12) spielen. In der ReformpĂ€dagogik und in der geisteswissenschaftlichen PĂ€dagogik sei diese Frage allerdings durchaus diskutiert worden, weshalb auch die entsprechende, ausschließlich deutschsprachige Forschungsliteratur aus der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts als Forschungsstand herangezogen wird.

Das zweite Kapitel (44–85), das mit „die sokratische Methode in der Zeit der AufklĂ€rung“ ĂŒberschrieben ist, widmet sich der Frage, was das „Sokratische an Sokrates‘ Methode der GesprĂ€chsfĂŒhrung sei“. Dieses wird zum einen in einer „konsequenten Aufforderung zu kritischem Nachdenken ĂŒber grundlegende Fragen im GesprĂ€ch“ gesehen (57) und zum andern als Verzicht auf eine direkte Unterweisung bzw. Belehrung, womit der Aspekt des schöpferischen Hervorbringens betont worden sei. Entsprechend habe die „direkte Weitergabe von festem, gesichertem Wissen [
] in der Schule der AufklĂ€rungszeit allmĂ€hlich an Bedeutung“ verloren (83), wie einigermaßen quellenfrei behauptet wird, und die SchĂŒler seien durch eine sokratische PĂ€dagogik vermehrt zu eigenen AktivitĂ€ten aufgefordert worden.

Das dritte Kapitel (86–126) wendet sich Jean-Jacques Rousseau und seinem Konzept der negativen Erziehung zu, wie er sie teilweise in den ersten drei der insgesamt fĂŒnf BĂŒchern des Émile (1762) entwickelte, da dieser ebenfalls die Absicht gehabt habe, die „Erziehung methodisch zu reformieren“ und damit „neue pĂ€dagogische Impulse“ gesetzt habe (85). Der Autor kommt in diesem Kapitel dann allerdings zum Schluss, dass Rousseau „kein sokratischer PĂ€dagoge“ gewesen sei. Seine PĂ€dagogik sei aber trotzdem von einem „sokratischen Geist“ geprĂ€gt, weshalb er auch „mit einigem Recht als einen Wegbereiter sokratischer PĂ€dagogik“ angesehen werden könne (126).
Das umfangreiche vierte Kapitel (127–233) widmet sich der philanthropischen PĂ€dagogik, da diese „das bestehende Bildungswesen in Anlehnung an die Gedanken Rousseaus und unter ausdrĂŒcklicher Bezugnahme auf diese reformieren wollte“ (38). Es werden Johann Bernhard Basedow, Ernst Christian Trapp, Johann Stuve, Philipp Julius LieberkĂŒhn und Karl Friedrich Bahrdt als Vertreter des Philanthropismus auf die sokratischen Dimensionen ihrer PĂ€dagogik befragt, wobei deutlich wird, dass sich das „sokratische“ bei den einzelnen Autoren unterschiedlich manifestiert hat, falls ein solches ĂŒberhaupt sichtbar wird (233).

Mit dem fĂŒnften Kapitel (234–394) wendet sich die Abhandlung dann dem „eigentlichen“ Thema zu, der Frage nĂ€mlich, inwiefern die Methode Pestalozzis sokratisch genannt werden kann. In einer sehr detaillierten und quellennahen Darstellung der pestalozzischen PĂ€dagogik in Bezug auf die sokratische Methode, des Katechisierens und der Ausbildung der Denkkraft kommt der Autor zum Schluss, dass Pestalozzi weder ein Sokratiker noch ein „Verfechter der sokratischen Methode“ gewesen sei und dieser sogar „eher skeptisch“ gegenĂŒbergestanden habe. Trotzdem seien seine „pĂ€dagogischen Ideen“ von „sokratischen Ideen“ durchzogen gewesen, wenn nicht ausschließlich auf die Ă€ußeren Merkmale des Sokratisierens geachtet werde (392), womit der „Geist“ einer Idee in den Vordergrund gerĂŒckt wird.

In der Schlussbetrachtung (395–408) werden die einzelnen Kapitel nochmals rekapituliert, bevor im letzten Kapitel (Fazit und Ausblick, 409–413) und damit die Studie abschließend auf die ĂŒberzeitliche Relevanz von Pestalozzis Überlegungen hingewiesen wird. Dieser habe darauf aufmerksam gemacht, „dass die Aufgabe aller PĂ€dagogen darin besteht, bestĂ€ndig Möglichkeiten und Rahmenbedingungen auszuloten, wie ein Thema aufbereitet und dargeboten werden kann, um SchĂŒler durch eigenstĂ€ndige BeschĂ€ftigung mit ihm zu Erkenntnissen und Einsichten kommen zu lassen“ (409). Vor diesem Hintergrund sei Pestalozzi „zwar kein Sokratiker“, aber eben doch ein „sokratischer PĂ€dagoge“ (413).

Diese Schlussfolgerung weist nochmals auf das Kernproblem einer Arbeit hin, die rein textimmanent argumentiert, den historischen Kontext kaum berĂŒcksichtigt und nach dem „Eigentlichen“ eines Textes fragt. Auch wenn zwischen der „Methode Sokrates“ und der „sokratischen Methode“ unterschieden wird, so wird doch eine sokratische Lehrmethode, die in einer platonischen Ideenlehre zu verorten ist, mit einer sokratischen Lehrart im 18. Jahrhundert gleichgesetzt, ohne dass danach gefragt werden wĂŒrde, auf welches zeitgenössische Problem die jeweilige Lehrart eine Antwort war. Auch Rousseaus PĂ€dagogik, die wesentlich am Émile (bzw. der ersten HĂ€lfte davon) festgemacht wird, wird nicht als Antwort auf eine als krisenhaft und korrupt interpretierte Gesellschaft des französischen Absolutismus gelesen, sondern als Anleitung zu einer „naturgemĂ€ĂŸen Erziehung“, wobei die Natur als ontologischer Fakt und nicht als Gegenbegriff zur Gesellschaft verstanden wird. Mit einer solchen Perspektive können ZusammenhĂ€nge und BezĂŒge hergestellt werden, welche den Quellen kein Vetorecht einrĂ€umen, weil nicht nur die Einheit eines Werks gewahrt werden muss, sondern weil Ă€hnliche Denk- oder Argumentationsmodelle als Ausdruck eines „Gleichen“ verstanden werden und nicht als zwar formgleiche, aber trotzdem fundamental unterscheidbare Antworten auf ebenso fundamental andere Problemlagen.

Die Studie, die auf einer langjĂ€hrigen nebenberuflichen und außeruniversitĂ€ren BeschĂ€ftigung mit Pestalozzi beruht und die infolge des plötzlichen Tods des Verfassers nicht mehr von ihm ĂŒberarbeitet werden konnte, hat eine Vielzahl von Quellen und Literatur akribisch und gewissenhaft nach sokratischen Spuren durchforstet. Sie ist jedoch einer rein hermeneutischen, von der klassischen Ideen- bzw. Geistesgeschichte geleiteten Forschungsperspektive verhaftet, knĂŒpft an einen Forschungsstand an, der als „veraltet“ zu bezeichnen ist und berĂŒcksichtigt neuere historiographische Entwicklungen nicht.[1] Dabei verweist sie auf durchaus interessante Fragen, die an dieses Quellenkorpus gestellt werden könnten: Weshalb interessierte sich die deutschsprachige PĂ€dagogik des 18. Jahrhunderts fĂŒr Sokrates bzw. fĂŒr die Sokratische Lehrmethode und welche Anliegen konnten damit verfolgt werden? Oder: Welche Funktionen ĂŒbernahm diese Methode bei der Herausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin PĂ€dagogik oder eines Lehrberufs? Durch die rein hermeneutische Herangehensweise bleiben solche Fragen leider unbeantwortet und das Potenzial einer Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert im Allgemeinen und den „Klassikern“ der Disziplin im Besondern unberĂŒcksichtigt.

[1] Vgl. Tröhler, D., & Horlacher, R. (2019). Histories of Ideas and Ideas in Context. In T. Fitzgerald (Hrsg.), Handbook of Historical Studies in Education. Debates, Tensions, and Directions (S. 29-45). Springer. Doi.org/10.1007/978-981-10-0942-6_2-1; Zumhof, T. (2021). Ideengeschichte. In G. Kluchert, K.-P. Horn, C. Groppe, & M. Caruso (Hrsg.), Historische Bildungsforschung. Konzepte – Methoden – Forschungsfelder (S. 69-78). Klinkhardt.
Rebekka Horlacher (ZĂŒrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rebekka Horlacher: Rezension von: Brocker, Ralf: Pestalozzi – ein Sokratiker?, Eine hermeneutische Analyse im Kontext sokratischer Lehrart im 18. Jahrhundert. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2024. In: 24 (2025), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2025), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152632.html