
Die Ouvertüre der Studie besteht in Gerhard Klucherts lesenswertem Überblick über die internationale Forschung zum Schulleben. Indem Kluchert bisherige Ansätze und Ergebnisse Revue passieren lässt, umreißt er gleichzeitig auch die methodischen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, ein so flüchtiges Phänomen wie das Schulleben untersuchen zu wollen. Kluchert benennt zudem wichtige Desiderata, so etwa die fehlende Forschung zu den Schulferien (31). Den Hauptteil des Bandes bilden dann eine Reihe aufschlussreicher Studien, die unterschiedliche Aspekte des Schullebens erkunden. So muss z. B. die Forschung zu deutschen Schülerzeitungen leider, so Joachim Scholz, als „eher konturlose Gemengelage“ (42) charakterisiert werden. Er selbst sorgt mit seinem Beitrag zu Schülerzeitungen im fin de siècle für erste Abhilfe. Wie er zeigt, sind die ersten Zeitungen meistens keineswegs pädagogische Projekte, sondern oft das Ergebnis der bemerkenswerten Eigeninitiative von Schülern. Scholz diskutiert auch die Skepsis der Pädagogen, welche die Schülerzeitungen mit den Schülerverbindungen in einen Topf warfen. Sie hatten einen schlechten Ruf, da sie Burschenschaftsritualen huldigten und etwa „unter Alkoholeinfluss unziemliche Albernheiten“ begannen (51). Gesitteter ging es auf den von den Lehrkräften organisierten Schulreisen zu, die Viktoria Gräbe untersucht. Sie verwendet dazu die Schulprogramme preußischer Gymnasien sowie die Reisetagebücher, die bei solchen Unternehmungen oft geführt werden mussten. An diesen Tagebüchern lässt sich gut der Hiatus erkennen, der zwischen den offiziellen Darstellungen in den Programmen und den freieren Schilderungen der Schülerinnen und Schüler besteht (70). Die interessante Frage, welche rhetorischen Kniffe Gymnasiastinnen und Gymnasiasten beherrschten und welchen pädagogischen Konventionen sie gehorchten, untersucht Denise Löwe am sogenannten Bildungsgang. Denn für das Abitur musste ab 1926 in Preußen ein Abriss der „eigenen Bildungsentwicklung“ (77) verfasst werden. Eine weitere Facette des Schreibens mitsamt den behandelten Themen (wie z. B. die Qualität der Speisen) untersucht Daniel Gerster, der sich der Korrespondenz annimmt, welche Schüler der Internatsschule Pforta mit ihren Eltern führten. Gerster versäumt es nicht, auch auf die entscheidenden „konventionellen“ Lücken der Briefwechsel hinzuweisen: Die Schüler schilderten „in ihren Briefen den Alltag als abwechslungs- und abenteuerreich“, sie schwiegen, „wie nachträgliche, autobiografische Texte“, „weitgehend über Gewalt- und Missbrauchserfahrungen.“ (132)
Weitere Beiträge beschäftigen sich ebenfalls mit den „performativen Praxen des Schreibens“ (105) und Erinnerns. So untersucht Sylvia Wehren Tagebücher bürgerlicher Jungen und Elke Kleinau Erinnerungen an die Zeit der Ausbildung zur Lehrerin während des Nationalsozialismus, indem sie eine veröffentlichte Lebensgeschichte mit den Erläuterungen vergleicht, die in einem Interview gegeben wurden. Pia Schmid analysiert Schulerfahrungen von Frauen, wie sie in deren Autobiographien zu finden sind, Ulrich Leitner die Schilderungen des Schullebens in Ego-Dokumenten aus katholischen Südtiroler Knabenseminaren und Maria Hermes-Wladarsch den Briefwechsel einer Lehrerin mit ihrer Schülerin. Dass Schreiben und Erinnern ohne Medien jedoch nicht funktionieren, führt Li Gerhalter mit ihrem Beitrag anschaulich vor Augen. Sie untersucht nämlich die Freundschaften deutscher und österreichischer Schülerinnen mit Hilfe von Gegenständen, die zur Erinnerung ausgetauscht wurden. Sie kann daran unter anderem zeigen, wie der Inhalt der Gaben tatsächlich häufig hinter der „haltbaren Materialität“ selbst zurücktrat, der Packen Briefe z. B. wichtiger als ihr konkreter Inhalt wurde (149). Auf die Materialität der Überlieferung selbst geht Julian Holzapfl an Beispielen wie Notenbüchern oder Schulprotokollen aus dem Staatsarchiv München ein. Einen weiteren wichtigen Ort des Schullebens nimmt sich Waltraud Schütz vor, die sich mit Fabrikschulen in Niederösterreich beschäftigt. Mit der gewissermaßen entgegengesetzten Seite des Schullebens setzen sich wiederum Dennis Mathie und Carola Groppe auseinander, welche die bislang kaum erforschten privaten Schülerpensionen für auswärtige Schüler erstmals akribisch einer Untersuchung unterziehen.
Dieses knappe Résumé vermag nicht hinreichend zu belegen, auf welch breiter Basis der Band argumentiert und welche Fülle an Überlegungen und umsichtigen Deutungen er präsentiert. Wollte man, wie es sich für die Textsorte „Rezension“ gehört, Haare in der schmackhaften Suppe finden, dann wären klassische Monita wohl dahingehend anzubringen, dass sich der Band fast ausschließlich mit der privilegierten Schülerschaft höherer Schulen beschäftige, vergleichender, transnationaler hätte angelegt werden können und dass wichtige Aspekte des Schullebens wie z. B. eben Ferien, Schülerverbindungen oder die Jugendbewegung (Pfadfinder, Wandervogel etc.) nur gestreift würden, dass der Band verständlicherweise ein besonderes Augenmerk auf das Schreiben lege, man aber auch anderen Tätigkeiten, der Kleidung, den Dingen oder der Infrastruktur der Schulen noch mehr Aufmerksamkeit hätte schenken können. Auch gäbe es noch, obwohl im Band viele bislang kaum beachtete Quellenarten berücksichtigt wurden, weitere aufschlussreiche Quellen wie z. B. Nekrologe [3]. Eine solche Kritik würde jedoch nur nochmals zeigen, wie anregend, wichtig und verdienstvoll der Band ist, so dass nur zu hoffen bleibt, dass weitere Bände folgen werden, die dem Schulleben in derselben Weise gewidmet sind.
[1] z. B. Juen, A. (2022). Die häusliche Ordnung schulischer Pädagogik. Zur Praxis der Hauswarte und Hausmütter an den Zürcher Lehrer:innseminaren, 1900–1950. Chronos. www.chronos-verlag.ch/public-download/3514.
[2] Landwehr, A. (2016). Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie (S.87). Fischer.
[3] Burri, J. (2020). Die „Seminarfamilie“. Nekrologe als Medium von Vergemeinschaftung. In A. Hoffmann-Ocon, A. De Vincenti & N. Grube (Hrsg.), Praxeologie in der Historischen Bildungsforschung. Möglichkeiten und Grenzen eines Forschungsansatzes (S.81-111). transcript. www.transcript-open.de/doi/10.14361/9783839453742-003.