Der von Eveline Christof, Michael Holzmayer, Julia Köhler und Johannes Reitinger 2023 herausgegebene Sammelband „Professionalisierung im Lehrberuf begleiten“ ist Ilse Schrittesser gewidmet und anlässlich ihrer Pensionierung entstanden. Mit den Beiträgen soll das Wirken Schrittessers in der Lehrer:innenbildung in Österreich und in der Professionalisierungsforschung gewürdigt werden. Das fachliche Anliegen des Bandes besteht darin, den aktuellen Forschungsstand der Themenfelder zu diskutieren, die im Sinne Schrittessers zentral für eine professionelle Lehrer:innenbildung sind. Alle zwölf Beiträge des Sammelbandes, deren Autor:innen in einem Netzwerk aus Expert:innen und Weggefährt:innen mit Schrittesser verbunden sind, nehmen entsprechend Bezug auf verschiedene Schwerpunkte ihrer Arbeiten.
Nachdem in der Einleitung diese Schwerpunkte zusammenfassend dargestellt werden, sind die zwölf Beiträge des Sammelbandes in zwei thematische Abschnitte unterteilt. Die erste Hälfte widmet sich der pädagogischen Sicht auf Lernen und Lehren und fokussiert dabei Theorie-Praxis-Verhältnisse im Rahmen des phänomenologischen und des pragmatischen Ansatzes sowie Aspekte des kasuistischen Lernens. Die zweite Hälfte legt den Schwerpunkt auf die Professionalisierung in Schule und Lehrer:innenbildung und beschäftigt sich mit aktuellen Fragen und Desiderata in diesen Feldern.
Käte Meyer-Drawe eröffnet den ersten Teil, mit einer essayistischen Untersuchung des Wertes von Theorie(n) in der Erziehungswissenschaft und Pädagogik. Da Erziehungswissenschaft gleichzeitig Wissenschaft und Handlungslehre sei, dabei jedoch in beiden Feldern enttäusche, wird eine Akzeptanzkrise von Theorie konstatiert. Theorie wird anschließend der praktischen Erfahrung gegenübergestellt und in ein Verhältnis gesetzt, dem in der Schlussfolgerung vor allem kasuistische Ansätze und phänomenologisch orientierte Vignettenforschung gerecht werden können. Neda Forghani-Arani schließt an den Erfahrungsbegriff an, indem sie auf Deweys pragmatisches Verständnis von Lernen als Transformation zurückgreift und das Potenzial negativer Erfahrungen als fruchtbare Momente des Lernens im Professionalisierungsprozess herausstellt. An einer Fallstudie wird gezeigt, wie die Erfahrung von Diskontinuität sowohl ein präreflexiver als auch einen reflexiv-transformativer Anfang des professionellen Lernens sein kann. Evi Agostini stellt anschließend der pragmatischen Perspektive auf Lernen und Erfahrung eine phänomenologische Sichtweise gegenüber. Mit der Kombination der beiden Ansätze zeigt sie, wie in der Schule (negative) Erfahrungen in reflektierte Lernprozesse überführt werden können – für alle am Unterricht Beteiligten. Sabine Freudhofmayer widmet sich mit dem Zusammenhang von Anerkennung und Lernen. Anerkennung wird mit zwei theoretischen Ansätzen betrachtet: dem normativen Konzept der Anerkennung nach Honneth und der (adressierungs-)analytischen Perspektive nach Butler. Beide Ansätze werden auf drei Schulgeschichten angewendet, die im Rahmen der Kollektiven Erinnerungsarbeit nach Haug entstanden sind und die Bedeutung von Anerkennung im Schulkontext verdeutlichen. Dabei wird gezeigt, dass Anerkennung durch die Lehrperson Selbstbeziehungen von Schüler:innen verändern und schulisches Lernen ermöglichen kann. Einen innovativen Akzent setzt der Beitrag von Alexander Hoffelner, indem Improvisation als professionell-pädagogisches Handeln entworfen wird, das im pädagogischen Alltag zwischen Struktur und Offenheit unverzichtbar ist. Neben der theoretischen Argumentation für Improvisation als relevante Kategorie wird danach gefragt, welche Bedeutung sie für die Professionalisierung von Lehrpersonen haben kann. Der erste Teil des Sammelbandes wird durch den Beitrag von Marion Pollmanns abgeschlossen. Dieser beschäftigt sich im Rahmen der rekonstruktiven Unterrichtsforschung mit dem Verhältnis der Logik von didaktischen Anforderungen an Schüler:innen und deren Eigenlogik in der Aufgabenbearbeitung. Anhand eines Arbeitsblattes und dessen Bearbeitung wird gezeigt, wie durch Rekonstruktion des schülerseitigen Verstehens bildungstheoretische Projektionen durch Forschende vermieden und gleichwohl Potenziale für didaktische Anschlüsse durch Lehrpersonen freigelegt werden können.
Den zweiten thematischen Abschnitt des Bandes zu Professionalisierung und Lehrer:innenbildung eröffnet Michael Schratz mit einem Beitrag zu ethischen Anforderungen an professionelles Handeln. Es wird argumentiert, dass sich pädagogisches Handeln aufgrund der Unverfügbarkeit des Lernens nicht standardisieren lässt. Stattdessen werden Qualitätsrahmen für Lehrer:innenbildung entwickelt, von denen zwei Varianten gegenübergestellt werden: das EPIK-Modell in Österreich und die Praxisstandards in Ontario, Kanada. Aus letzterem werden die ethischen Standards hervorgehoben, um für die Notwendigkeit einer Berufsethik für Lehrpersonen zu argumentieren. Ines M. Breinbauer beleuchtet die Notwendigkeit einer dekolonisierenden Perspektive auf die Lehrer:innenbildung. Sie analysiert ausgewählte Denk- und Handlungsmuster in ihrer kolonialen Logik sowie deren institutionelle Rahmungen und zeigt, wie dadurch Professionalisierung gehemmt werden kann. Schlussfolgernd wird eine dekoloniale Haltung gegenüber bestehenden Wissensregimen eingefordert. Mit einer praxistheoretischen Perspektive wird im Beitrag von Katharina Rosenberger das Klassenzimmer betrachtet. Anhand von Fotografien werden Aneignungsweisen von Schüler:innen und Lehrer:innen anhand zweier verschiedener räumlicher Ordnungen verglichen und diskutiert, wie sich Lernräume mit neuen Bauformen von Schulgebäuden verändern und neue Aneignungsweisen hervorbringen können. Wilfried Datler, Margit Datler und Irmtraud Sengschmied zeigen, welchen Wert psychoanalytische Verstehenskompetenz für die Professionalisierung von Lehrer:innen haben kann. Im Beitrag wird dargestellt, wie diese Kompetenz durch die Methode der Work Discussion entwickelt werden kann und dass sie vor allem für das Verstehen von Emotionen in pädagogischen Interaktionen relevant wird. Dazu wird auch beschrieben, wie die sogenannten Work-Discussion-Seminare im universitären Weiterbildungslehrgang Psychagogik verortet und gestaltet sind. Erna Nairz-Wirth beschreibt in ihrem Beitrag die Herausforderungen, mit denen Lehrkräfte in ihrer ersten Berufsphase konfrontiert sind. Sie beleuchtet den sogenannten Praxisschock und zwei Unterstützungssysteme, die Lehrkräften in der Induktionsphase helfen können: Das Mentoring und professionelle Lerngemeinschaften. Der Beitrag schließt mit einem Blick auf anregende internationale Entwicklungen und Ideen für eine gelungene Professionalisierung nach dem Studium. Zum Abschluss des Bandes rückt Katharina Resch eine bedeutsame Gruppe in den Fokus, die in Professionalisierungsdebatten häufig unerwähnt bleibt, nämlich die teacher educators, also diejenigen Personen, die in der Lehrer:innenbildung tätig sind. Im Rahmen der Hochschulforschung werden diese bisher kaum berücksichtigt. Der Beitrag zeigt die Heterogenität dieser Personengruppe und stellt verschiedene bestehende Typologien von Lehrer:innenbildner:innen dar. Abschließend wird diesbezüglich der aktuelle Forschungsbedarf aufgezeigt.
Den Herausgebenden ist es gelungen, eine große Bandbreite des Professionalisierungsdiskurses zu thematisieren. So liegt auch in der Vielfältigkeit der Themen und Schlaglichter die Stärke dieses Bandes. Einzig die Themenbereiche Bildungstechnologien, Digitalisierung und künstliche Intelligenz verbleiben ohne spezifische Bezugnahme. Der Aufbau des Bandes ist nachvollziehbar und insofern sinnvoll, dass alle Beiträge explizit auf Aspekte von Schrittessers Arbeit Bezug nehmen. Besonders die ersten drei theoretischen Beiträge hängen inhaltlich eng zusammen. Die folgenden Beiträge setzen eher unabhängige Schlaglichter auf verschiedene Themen und Perspektiven im Professionalisierungsdiskurs. Dabei werden neue theoretische Ansätze (Hoffelner; Breinbauer) ergänzt durch die Darstellung vielversprechender fallbasierter Reflexionsformate (Freudhofmayer; Datler, Datler & Sengschmied) sowie Hinweise auf aktuelle bzw. künftige Probleme und Forschungsbedarfe (Schratz; Nairz-Wirth; Resch). An manchen Stellen fehlen vertiefende empirische Beispiele (z.B. Datler, Datler & Sengschmied) oder konkretere Umsetzungsvorschläge für die Lehrer:innenbildung (z.B. Hoffelner).
Mit „Professionalisierung im Lehrberuf begleiten“ liegt ein informativer und anregender Querschnitt durch den aktuellen Professionalisierungsdiskurs vor, der als Lektüre vor allem für Personen zu empfehlen ist, die in der Lehrer:innenbildung tätig sind oder sich für Ilse Schrittessers vielfältiges Werk und Wirken interessieren.
EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)
Professionalisierung im Lehrberuf begleiten
Perspektiven auf Lernen und Lehren in Schule und Hochschule
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(191 S.; ISBN 978-3-7815-2574-0; 21,90 EUR)
Eric Kanold (Leipzig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eric Kanold: Rezension von: Christof, Eveline / Holzmayer, Michael / Köhler, Julia / Reitinger, Johannes (Hg.): Professionalisierung im Lehrberuf begleiten, Perspektiven auf Lernen und Lehren in Schule und Hochschule. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152574.html
Eric Kanold: Rezension von: Christof, Eveline / Holzmayer, Michael / Köhler, Julia / Reitinger, Johannes (Hg.): Professionalisierung im Lehrberuf begleiten, Perspektiven auf Lernen und Lehren in Schule und Hochschule. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152574.html