
Böttchers Publikation basiert auf ihrer Dissertation mit dem Titel „Die Konsolidierung des deutsch-türkischen Bildungsraums im Wilhelminischen Kaiserreich“, die sie 2021 an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg erfolgreich verteidigt und für die Drucklegung leicht überarbeitet hat. Übergeordnetes Ziel ihrer Untersuchung ist es, „das national begrenzt[e] Bildungsdenken aufzubrechen und [...] ein transkulturelles Verständnis von Erziehung und Bildung in historischen Kontexten zu entwickeln“ (16). Dabei möchte sie auch „die Bedeutung eines in Vergessenheit geratenen Kapitels deutscher Bildungsgeschichte für die Historiografie und das Selbstverständnis der deutschen Pädagogik“ beleuchten (ebd.).
Zentrale Impulse für ihre Studie erhielt Böttcher in der Arbeitsgruppe des von Ingrid Lohmann eingeworbenen DFG-Projekts „Das Wissen über Türken und die Türkei in der Pädagogik. Analyse des diskursiven Wandels 1839-1945“, an dem sie auch aktiv beteiligt war. Im Rahmen dieses umfassenden Forschungsprojekts untersuchte die Autorin die Auswirkungen der deutsch-osmanischen Verflechtungsgeschichte auf das pädagogische Feld im Wilhelminischen Kaiserreich (1888-1918). Im Zentrum ihrer Analyse stehen drei Akteure des kulturpolitischen und pädagogischen Feldes: der Publizist und Vereinsfunktionär Ernst Jäckh (1875-1959), der Lehrer und spätere Schulreferent Franz Schmidt (1874-1963) sowie der evangelische Theologe und Seminardirektor Otto Eberhard (1875-1966). Darüber hinaus rekonstruiert die Autorin den „Türken- und Türkeidiskurs“ (ebd.) in der deutschen pädagogischen Presse des Wilhelminischen Kaiserreichs.
Ihre Ausführungen dazu gliedert die Autorin in sechs Schritte: Zunächst erläutert sie ihr Forschungsinteresse, das Forschungsziel, die Fragestellung, den Forschungsstand und den Aufbau der Arbeit (Kapitel 1). Ihre theoretischen, konzeptionellen und methodischen Überlegungen vertieft sie in Kapitel 2, wobei sie insbesondere auf transnationale Geschichte in postkolonialer Perspektive, transnationale Bildungsräume, historische Diskursanalyse, soziale Netzwerkanalyse und hermeneutische Interpretationsverfahren sowie auf die Erstellung ihres Quellenkorpus eingeht. Eine historische Kontextualisierung des Forschungsgegenstandes erfolgt in Kapitel 3. Darin skizziert Böttcher zunächst die Topoi vom „kranken Mann am Bosporus“ und vom „friedlichen Imperialismus“ im Wilhelminischen Kaiserreich, um dann die Interessen- und Schicksalsgemeinschaft zwischen dem Osmanischen Reich und dem Wilhelminischen Kaiserreich zu umreißen. Die Rekonstruktionen in Kapitel 4 und 5 bilden den Hauptteil der Publikation. Sie basieren auf einem reichhaltigen Quellenkorpus von 530 Artikeln aus 87 pädagogischen Zeitschriften, den Böttcher durch einschlägige Monografien, Vorträge, Reden, Flugblätter, Lexikonartikel, Memoiren sowie nicht-pädagogische Zeitschriftentexte ergänzt (53). Im vierten Kapitel analysiert die Autorin das facettenreiche (bildungs-)politische Handeln der oben genannten Akteure in unterschiedlichen Kontexten des deutsch-osmanischen Bildungsraums. Und im fünften Kapitel rekonstruiert sie unter den Zwischenüberschriften „Die Türkei – (k)ein Platz an der Sonne“, „Der ‚kranke Mann‘ auf dem Weg der Besserung“ und „[e]in neues Arbeitsfeld für deutsche Schularbeit“ den sich wandelnden Diskurs zum „Türken- und Türkeibild“ im Wilhelminischen Reich. Ihre Ausführungen enden mit einem Fazit und Ausblick, in dem die Verfasserin auch Überlegungen zu weiterführenden Forschungen anstellt. Aufgrund der vielen bislang nicht aufgearbeiteten Quellen und der ansprechenden Sprache empfiehlt sich die Publikation nicht nur für historisch interessierte Pädagog:innen und Vertreter:innen anderer Fachrichtungen, sondern auch für interessierte Leser:innen einer breiteren Öffentlichkeit.
Aus konzeptioneller, regionalwissenschaftlicher, historischer und geschlechtersensibler Sicht sind jedoch – ähnlich wie in dem von Lohmann und Böttcher (2021) herausgegebenen Sammelband „Türken- und Türkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert. Pädagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer“ – vier Punkte kritisch anzumerken [1]: Böttcher gibt an, mit „Türken“ und davon abgeleiteten Begriffen den Sprachgebrauch ihrer Quellen wiederzugeben, was jedoch in zweierlei Hinsicht bedenklich ist. Erstens fokussiert der Begriff „Türken“ ausschließlich auf Männer, wodurch Frauen unsichtbar gemacht und dethematisiert werden – und das, obwohl die Autorin selbst am Beispiel der Mädchenschulen im Osmanischen Reich darauf aufmerksam macht, wie diese zum Diskurswandel über das Osmanische Reich in der Wilhelminischen Zeit beitrugen (192-195).
Zweitens ist es ethnisierend und historisch falsch, die Begriffe „Türken“ und „Türkei“ als Synonyme für osmanische Untertanen und das Osmanische Reich zu verwenden, in dem bekanntlich auch eine Vielzahl von Minderheiten lebte. Gerade in einer Publikation, die sich um eine postkoloniale – und damit auch machtkritische – Perspektive bemüht, ist dieser unreflektierte Umgang mit Geschlechterverhältnissen und Begriffen enttäuschend, da er hegemoniale Machtverhältnisse zementiert. Zumindest einleitende Erläuterungen und Begriffsklärungen zu diesem sensiblen Aspekt ihres Forschungsgegenstandes wären wünschenswert gewesen, um die Leser:innen explizit auf diesen Bias in den Quellen hinzuweisen.
Drittens fehlt vor dem Hintergrund der analysierten Verflechtungsgeschichte eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff transnational. Über die empirische Analyse hinaus hätte die Autorin damit (1) den Begriff für Verflechtungsgeschichten jenseits des Nationalstaats theoretisch-konzeptionell fundieren und (2) einen längst überfälligen konzeptionellen Beitrag zum bislang ungeklärten Verhältnis von transnationaler Geschichte, entangled history, Globalgeschichte und postkolonialen Ansätzen leisten können.
Viertens nimmt Böttcher für ihre Analyse, ohne dies näher zu begründen, „[a]bsichtsvoll“ eine „germanozentrisch[e] Perspektive“ (16) ein. Damit bleibt ihre Untersuchung auf die deutsche Seite des deutsch-osmanischen (Bildungs-)Raumes beschränkt. Auch wenn es für verschiedene Forschungsfragen durchaus seine Berechtigung hat, nur eine Seite von transnationalen oder transkulturellen Verflechtungsgeschichten in den Blick zu nehmen – wie etwa bei der Rekonstruktion des „Türken- und Türkeidiskurses" (ebd.) in der deutschen pädagogischen Presse des Wilhelminischen Kaiserreichs –, greift dieser Analysefokus für die drei oben genannten Akteure zu kurz. So wäre es gerade bei der Analyse des Wirkens von Jäckh, Schmidt und Eberhard im deutsch-osmanischen (Bildungs-)Raum wünschenswert gewesen, dieses nicht nur aus einer germanozentrischen, sondern aus einer deutsch-osmanischen Perspektive zu betrachten. Denn mit dem gewählten Quellen- und Analysefokus gelingt es der Autorin zwar, „für die historische Gewordenheit des deutschen Türkeibildes zu sensibilisieren“ (16), ihrem Anspruch, „das national begrenzte Bildungsdenken aufzubrechen“ und ein „transkulturelles Verständnis von Phänomenen und Gestaltungsformen von Erziehung und Bildung in historischen Kontexten“ zu entwickeln (ebd.), wird sie jedoch nicht gerecht. Ihre Analyse bleibt vielmehr im „nationalen Containerdenken“ der Gegenwart verhaftet [2].
[1] Lohmann, I., & Böttcher, J. (Hrsg.) (2021). Türken- und Türkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert. Pädagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer. Bd. 1: Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte. Klinkhardt.
Dazu die Rezension von B. Pusch in: Diyâr, 3, H. 1, S. 152–154.
[2] Levitt, P., & Glick Schiller, N. (2004). Conceptualizing Simultaneity: A Transnational Social Field Perspective on Society. International Migration Review, 38, 3, 1002–1039.