EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)

Julika Böttcher
Der deutsch-tĂŒrkische Bildungsraum im Wilhelminischen Kaiserreich
Akteure, Netzwerke, Diskurse
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(280 S.; ISBN 978-3-7815-2547-4; 39,90 EUR)
Der deutsch-tĂŒrkische Bildungsraum im Wilhelminischen Kaiserreich Die Verfasserin der vorliegenden Monografie nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Tatsache, dass „rund drei Millionen Menschen mit tĂŒrkischem Migrationshintergrund in Deutschland [
] die mit Abstand grĂ¶ĂŸte allochthone Gruppe der Bundesrepublik reprĂ€sentieren“ (9) sowie der zunehmenden kulturellen HeterogenitĂ€t, die als „große Herausforderung im Kontext von Gesellschaft und Schule empfunden wird“ (ebd.). Sie bemĂ€ngelt, dass in „Deutschland nur selten eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Gesellschaft und der TĂŒrkei“ (ebd.) stattfinde und die öffentliche Diskussion vielmehr von „Klischees und Vorurteilen“ (ebd.) geprĂ€gt sei. Mit ihrer Publikation möchte Böttcher diesem Missstand entgegenwirken und „fĂŒr die historische Gewordenheit des deutschen TĂŒrkei-Bildes“ (ebd.) sensibilisieren.

Böttchers Publikation basiert auf ihrer Dissertation mit dem Titel „Die Konsolidierung des deutsch-tĂŒrkischen Bildungsraums im Wilhelminischen Kaiserreich“, die sie 2021 an der FakultĂ€t fĂŒr Erziehungswissenschaft der UniversitĂ€t Hamburg erfolgreich verteidigt und fĂŒr die Drucklegung leicht ĂŒberarbeitet hat. Übergeordnetes Ziel ihrer Untersuchung ist es, „das national begrenzt[e] Bildungsdenken aufzubrechen und [...] ein transkulturelles VerstĂ€ndnis von Erziehung und Bildung in historischen Kontexten zu entwickeln“ (16). Dabei möchte sie auch „die Bedeutung eines in Vergessenheit geratenen Kapitels deutscher Bildungsgeschichte fĂŒr die Historiografie und das SelbstverstĂ€ndnis der deutschen PĂ€dagogik“ beleuchten (ebd.).

Zentrale Impulse fĂŒr ihre Studie erhielt Böttcher in der Arbeitsgruppe des von Ingrid Lohmann eingeworbenen DFG-Projekts „Das Wissen ĂŒber TĂŒrken und die TĂŒrkei in der PĂ€dagogik. Analyse des diskursiven Wandels 1839-1945“, an dem sie auch aktiv beteiligt war. Im Rahmen dieses umfassenden Forschungsprojekts untersuchte die Autorin die Auswirkungen der deutsch-osmanischen Verflechtungsgeschichte auf das pĂ€dagogische Feld im Wilhelminischen Kaiserreich (1888-1918). Im Zentrum ihrer Analyse stehen drei Akteure des kulturpolitischen und pĂ€dagogischen Feldes: der Publizist und VereinsfunktionĂ€r Ernst JĂ€ckh (1875-1959), der Lehrer und spĂ€tere Schulreferent Franz Schmidt (1874-1963) sowie der evangelische Theologe und Seminardirektor Otto Eberhard (1875-1966). DarĂŒber hinaus rekonstruiert die Autorin den „TĂŒrken- und TĂŒrkeidiskurs“ (ebd.) in der deutschen pĂ€dagogischen Presse des Wilhelminischen Kaiserreichs.

Ihre AusfĂŒhrungen dazu gliedert die Autorin in sechs Schritte: ZunĂ€chst erlĂ€utert sie ihr Forschungsinteresse, das Forschungsziel, die Fragestellung, den Forschungsstand und den Aufbau der Arbeit (Kapitel 1). Ihre theoretischen, konzeptionellen und methodischen Überlegungen vertieft sie in Kapitel 2, wobei sie insbesondere auf transnationale Geschichte in postkolonialer Perspektive, transnationale BildungsrĂ€ume, historische Diskursanalyse, soziale Netzwerkanalyse und hermeneutische Interpretationsverfahren sowie auf die Erstellung ihres Quellenkorpus eingeht. Eine historische Kontextualisierung des Forschungsgegenstandes erfolgt in Kapitel 3. Darin skizziert Böttcher zunĂ€chst die Topoi vom „kranken Mann am Bosporus“ und vom „friedlichen Imperialismus“ im Wilhelminischen Kaiserreich, um dann die Interessen- und Schicksalsgemeinschaft zwischen dem Osmanischen Reich und dem Wilhelminischen Kaiserreich zu umreißen. Die Rekonstruktionen in Kapitel 4 und 5 bilden den Hauptteil der Publikation. Sie basieren auf einem reichhaltigen Quellenkorpus von 530 Artikeln aus 87 pĂ€dagogischen Zeitschriften, den Böttcher durch einschlĂ€gige Monografien, VortrĂ€ge, Reden, FlugblĂ€tter, Lexikonartikel, Memoiren sowie nicht-pĂ€dagogische Zeitschriftentexte ergĂ€nzt (53). Im vierten Kapitel analysiert die Autorin das facettenreiche (bildungs-)politische Handeln der oben genannten Akteure in unterschiedlichen Kontexten des deutsch-osmanischen Bildungsraums. Und im fĂŒnften Kapitel rekonstruiert sie unter den ZwischenĂŒberschriften „Die TĂŒrkei – (k)ein Platz an der Sonne“, „Der ‚kranke Mann‘ auf dem Weg der Besserung“ und „[e]in neues Arbeitsfeld fĂŒr deutsche Schularbeit“ den sich wandelnden Diskurs zum „TĂŒrken- und TĂŒrkeibild“ im Wilhelminischen Reich. Ihre AusfĂŒhrungen enden mit einem Fazit und Ausblick, in dem die Verfasserin auch Überlegungen zu weiterfĂŒhrenden Forschungen anstellt. Aufgrund der vielen bislang nicht aufgearbeiteten Quellen und der ansprechenden Sprache empfiehlt sich die Publikation nicht nur fĂŒr historisch interessierte PĂ€dagog:innen und Vertreter:innen anderer Fachrichtungen, sondern auch fĂŒr interessierte Leser:innen einer breiteren Öffentlichkeit.

Aus konzeptioneller, regionalwissenschaftlicher, historischer und geschlechtersensibler Sicht sind jedoch – Ă€hnlich wie in dem von Lohmann und Böttcher (2021) herausgegebenen Sammelband „TĂŒrken- und TĂŒrkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert. PĂ€dagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer“ – vier Punkte kritisch anzumerken [1]: Böttcher gibt an, mit „TĂŒrken“ und davon abgeleiteten Begriffen den Sprachgebrauch ihrer Quellen wiederzugeben, was jedoch in zweierlei Hinsicht bedenklich ist. Erstens fokussiert der Begriff „TĂŒrken“ ausschließlich auf MĂ€nner, wodurch Frauen unsichtbar gemacht und dethematisiert werden – und das, obwohl die Autorin selbst am Beispiel der MĂ€dchenschulen im Osmanischen Reich darauf aufmerksam macht, wie diese zum Diskurswandel ĂŒber das Osmanische Reich in der Wilhelminischen Zeit beitrugen (192-195).

Zweitens ist es ethnisierend und historisch falsch, die Begriffe „TĂŒrken“ und „TĂŒrkei“ als Synonyme fĂŒr osmanische Untertanen und das Osmanische Reich zu verwenden, in dem bekanntlich auch eine Vielzahl von Minderheiten lebte. Gerade in einer Publikation, die sich um eine postkoloniale – und damit auch machtkritische – Perspektive bemĂŒht, ist dieser unreflektierte Umgang mit GeschlechterverhĂ€ltnissen und Begriffen enttĂ€uschend, da er hegemoniale MachtverhĂ€ltnisse zementiert. Zumindest einleitende ErlĂ€uterungen und BegriffsklĂ€rungen zu diesem sensiblen Aspekt ihres Forschungsgegenstandes wĂ€ren wĂŒnschenswert gewesen, um die Leser:innen explizit auf diesen Bias in den Quellen hinzuweisen.

Drittens fehlt vor dem Hintergrund der analysierten Verflechtungsgeschichte eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff transnational. Über die empirische Analyse hinaus hĂ€tte die Autorin damit (1) den Begriff fĂŒr Verflechtungsgeschichten jenseits des Nationalstaats theoretisch-konzeptionell fundieren und (2) einen lĂ€ngst ĂŒberfĂ€lligen konzeptionellen Beitrag zum bislang ungeklĂ€rten VerhĂ€ltnis von transnationaler Geschichte, entangled history, Globalgeschichte und postkolonialen AnsĂ€tzen leisten können.

Viertens nimmt Böttcher fĂŒr ihre Analyse, ohne dies nĂ€her zu begrĂŒnden, „[a]bsichtsvoll“ eine „germanozentrisch[e] Perspektive“ (16) ein. Damit bleibt ihre Untersuchung auf die deutsche Seite des deutsch-osmanischen (Bildungs-)Raumes beschrĂ€nkt. Auch wenn es fĂŒr verschiedene Forschungsfragen durchaus seine Berechtigung hat, nur eine Seite von transnationalen oder transkulturellen Verflechtungsgeschichten in den Blick zu nehmen – wie etwa bei der Rekonstruktion des „TĂŒrken- und TĂŒrkeidiskurses" (ebd.) in der deutschen pĂ€dagogischen Presse des Wilhelminischen Kaiserreichs –, greift dieser Analysefokus fĂŒr die drei oben genannten Akteure zu kurz. So wĂ€re es gerade bei der Analyse des Wirkens von JĂ€ckh, Schmidt und Eberhard im deutsch-osmanischen (Bildungs-)Raum wĂŒnschenswert gewesen, dieses nicht nur aus einer germanozentrischen, sondern aus einer deutsch-osmanischen Perspektive zu betrachten. Denn mit dem gewĂ€hlten Quellen- und Analysefokus gelingt es der Autorin zwar, „fĂŒr die historische Gewordenheit des deutschen TĂŒrkeibildes zu sensibilisieren“ (16), ihrem Anspruch, „das national begrenzte Bildungsdenken aufzubrechen“ und ein „transkulturelles VerstĂ€ndnis von PhĂ€nomenen und Gestaltungsformen von Erziehung und Bildung in historischen Kontexten“ zu entwickeln (ebd.), wird sie jedoch nicht gerecht. Ihre Analyse bleibt vielmehr im „nationalen Containerdenken“ der Gegenwart verhaftet [2].

[1] Lohmann, I., & Böttcher, J. (Hrsg.) (2021). TĂŒrken- und TĂŒrkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert. PĂ€dagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer. Bd. 1: Wie die TĂŒrken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte. Klinkhardt.
Dazu die Rezension von B. Pusch in: Diyñr, 3, H. 1, S. 152–154.
[2] Levitt, P., & Glick Schiller, N. (2004). Conceptualizing Simultaneity: A Transnational Social Field Perspective on Society. International Migration Review, 38, 3, 1002–1039.
Barbara Pusch (RPTU, Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Barbara Pusch: Rezension von: Böttcher, Julika: Der deutsch-tĂŒrkische Bildungsraum im Wilhelminischen Kaiserreich, Akteure, Netzwerke, Diskurse. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152547.html