EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)

Heinz-Elmar Tenorth / Ulrich Wiegmann
Pädagogische Wissenschaft in der DDR
Ideologieproduktion, Systemreflexion und Erziehungsforschung. Studien zu einem vernachlässigtem Thema der Disziplingeschichte deutscher Pädagogik
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022
(627 S.; ISBN 978-3-7815-2532-0; 44,90 EUR)
Pädagogische Wissenschaft in der DDR Das öffentliche Interesse an der DDR ist auch nach mehr als 30 Jahren gesamtdeutscher Entwicklungen und Transformationen ungebrochen. Davon zeugen verschiedene Spuren aus Literatur, Musik, Theater, Feuilleton und Film. In der erziehungswissenschaftlichen DDR-Forschung, anders als in der Geschichtswissenschaft, sei dieses Interesse jedoch nicht zu erkennen. So konstatieren Heinz-Elmar Tenorth und Ulrich Wiegmann in ihrem Buch „Pädagogische Wissenschaft in der DDR“ das „manifeste Desinteresse“ (11) der Erziehungswissenschaft an der DDR seit Mitte der 1990er Jahre, „vor allem angesichts der offenkundigen materialen und analytischen Defizite, die sich mit den dominierenden und zumeist unbefragt tradierten Urteilen über die wissenschaftliche Pädagogik der DDR bis heute verbinden“ (ebd.). Die wissenschaftliche Pädagogik der SBZ und der DDR wird in der vorliegenden Monographie als Teil der deutschen Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft des 20. Jahrhunderts erörtert und „vor dem Hintergrund der Tradition der erziehungswissenschaftlichen Reflexion in Deutschland“ (19) analysiert. Die Autoren konzentrieren sich dabei auf einen Zeitraum von 1945 bis 1990, sodass auch die Anfänge der Umbruchsphase ab 1989/90 in den Blick kommen.

Die Publikation setzt sich mit der Entstehung und der Entwicklung der disziplinären Reflexion von Erziehungsfragen im historisch-gesellschaftlichen Prozess unter den „Bedingungen von Diktatur“ (19) auseinander. Sie zielt darauf, wissenschaftliche Pädagogik „nicht nur als spannungsreiche Symbiose differenter Wissensformen [darzulegen], sondern auch als historisch identifizierbare und historischen Akteuren eindeutig zurechenbare Disziplin im Kontext der sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen der DDR insgesamt“ (25) zu betrachten. Hierfür werden verschiedene Quellen herangezogen, wie z.B. politisch-administrative Dokumente, wissenschaftliche Beiträge und Ego-Dokumente (vgl. 23f). Diese werden auf drei Ebenen analysiert: erstens bezüglich der strukturellen Bedingungen der wissenschaftlichen Pädagogik insbesondere im Hinblick auf die „etablierten Einrichtungen der Produktion und Verbreitung pädagogischen Wissens“ (20); zweitens hinsichtlich der kommunikativen Bedingungen des pädagogischen Wissens, d.h. der „in der Wissenschaftspraxis und in der ihr zurechenbaren publizistischen Kommunikationsinfrastruktur erzeugten und diskutierten […] Gestalt“ (ebd.); drittens die epistemologischen Perspektiven dieser Praxis betreffend, indem die Wissensformen nicht nur auf den „politisch-professionellen Kontext“ hin befragt werden, „sondern als Erkenntnisse“ (ebd.), also mit wissenschaftlichem Anspruch ernst genommen werden. Diese drei Ebenen werden in den folgenden exemplarischen Detailstudien in ein konkretes Verhältnis zueinander gesetzt.

Die Studien ordnen sich drei Teilen zu. Der erste Teil ist als eine Art Überblicksdarstellung konzipiert, in dem der Forschungsstand zur Disziplingeschichte rekonstruiert wird. Dieses dient der Verortung der Studien des zweiten und dritten Teils. Äquivalenzen und Differenzen zur bundesrepublikanischen Entwicklung der Erziehungswissenschaft nach 1945 werden regelmäßig aufgegriffen. Der Fokus des Kapitels liegt jedoch darin, eine „historische Skizze“ (26) der Entstehungsbedingungen sowie der Entwicklungen der Wissenschaftspraxis und ihrer Dynamik von 1945-1990 als Teil deutscher Bildungsgeschichte zu entwerfen.

Im zweiten und dritten Teil, dem eigentlichen Kern des Buches, werden dann die exemplarischen Detailstudien vorgestellt. Zunächst konzentrieren sich die Autoren im zweiten Teil auf die ambivalente Entstehung der wissenschaftlichen Pädagogik nach 1945 in der SBZ und in der DDR anhand zentraler Akteure (Robert Alt, Heinrich Deiters; Gerhart Neuner, Karl-Heinz Günther; Eberhart Mannschatz) und Einrichtungen der außeruniversitären Forschung (Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut, Akademie der Pädagogischen Wissenschaften) sowie der öffentlichen Verwaltung (Ministerium für Staatssicherheit). Sie schildern die Konstruktion und Durchsetzung einer wissenschaftlichen Pädagogik der DDR, „die man als politisch intendiert und als Normalmodell beobachtete und bewertete“ und „auch als die durch die Macht der Institutionen durchgesetzte Gestalt der Disziplin bezeichnen kann“ (26f). Dieses Normalmodell wird von Tenorth und Wiegmann letztendlich als „marxistische Wissenschaft“ (553) charakterisiert. In der Wissenschaftspraxis habe sich jedoch eine Entwicklung vollzogen, die sich aus der Wahrnehmung und distanzierten, mitunter kritischen Beobachtung der Widersprüche zwischen politischer Intention und pädagogischer Wirklichkeit ergeben habe (vgl. 303f, 362f, 390f). So deuten sie eine Gleichzeitigkeit in der wissenschaftlichen Pädagogik an, die sowohl das Normalmodell der wissenschaftlichen Pädagogik, die als „Systembetreuungswissenschaft“ (29) aufgeführt wird, als auch ab den 1970er Jahren eine stärkere eigenständige Erziehungsforschung erkennen lässt. Diese These wird schließlich im dritten Teil konkretisiert.

Die Gleichzeitigkeit der wissenschaftlichen Pädagogik als Systembetreuungswissenschaft und ihr Weg zu einer „Sozialwissenschaft“ (554) mit historischen (Kapitel 6.1), empirischen (Kapitel 6.2) und pädagogisch-philosophischen (Kapitel 6.3) Wissensformen wird durch die exemplarische Analyse der lokalen wissenschaftlichen Pädagogik in der DDR (Jena, Halle, Potsdam) herausgearbeitet. Damit stellen die Autoren die Ambivalenz von herrschaftspolitischer Steuerung und Lenkung der wissenschaftlichen Pädagogik der DDR und ihre „Verwissenschaftlichung und Theoretisierung, forschende Autonomisierung und reflexive Selbstbeobachtung“ (459) in den historischen, empirischen und philosophischen Forschungsfeldern nach 1975 fest (vgl. 553). Die Disziplin entwickelte sich, so das abschließende Fazit von Tenorth und Wiegmann, zwischen Systembetreuungswissenschaft, also politisierter und ideologisch-formierter Pädagogik (vgl. 555-564), und einer Sozialwissenschaft mit vielfältigen Wissensformen und Argumentationsstilen, die von einer Dynamik aus Konflikten, Ambivalenzen und Symbiosen gekennzeichnet war (vgl. 564-571). Sie changierte zwischen Ansprüchen und Erwartungen aus Politik, Wissenschaft, Profession und Gesellschaft (vgl. 584-587).

Materialreich tragen Tenorth und Wiegman auf rund 580 Seiten ihre Arbeiten der letzten Jahre zusammen. Der einleitende erste Teil, die Anordnung der Kapitel sowie das abschließende Fazit geben den sehr verschiedenen Einzelstudien eine gemeinsame Form. Allerdings entziehen sich einzelne Paragraphen der Stringenz der Argumentation des Gegenstandes, so z.B. die berufsbiographische und wissenschaftliche Gegenüberstellung von Robert Alt und Heinrich Deiters sowie die biographischen Verflechtungen und Dissonanzen von Karl-Heinz Günther und Gerhart Neuner. Dennoch legen Tenorth und Wiegmann eine beachtliche Studie vor. Seit Mitte der 1990er Jahre ist sie die umfassendste Auseinandersetzung mit der disziplinären Gestalt der wissenschaftlichen Pädagogik der DDR und ihrer Verortung in der deutschen Disziplingeschichte nach 1945 [1]. Die Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes auf DDR-spezifische Strukturen und Dynamiken entbehren nicht eines transnationalen Blicks, insbesondere zur Bundesrepublik. Hier sprechen Tenorth und Wiegmann eine erstaunliche Entwicklung an: In beiden deutschen Staaten gewinnen, unter je verschiedenen Bedingungen, die pädagogische Psychologie und die soziologische Erziehungs- respektive Bildungsforschung nach 1945 an Bedeutung und erhalten auch hinsichtlich der bildungspolitischen Steuerung eine zunehmend wichtige Funktion. Leider konnten sie diesen Aspekt und weitere trans- wie internationale Elemente der Disziplingeschichte, aufgrund der legitimen Begrenzungen, nicht systematisch ausarbeiten. Mit ihrem wissenshistoriographischen Zugang, der sich auf Strukturen und kommunikative Elemente der Akteure und Einrichtungen sowie auf deren sozialen Beziehungen fokussiert, entwickeln Tenorth und Wiegmann disziplingeschichtlich relevante Thesen, mit denen sich in der erziehungswissenschaftlichen DDR-Forschung neue Fragen, nicht nur in historiographischer Hinsicht, stellen lassen.

[1] Zwei Ausnahmen jüngeren Datums sind hier explizit zu erwähnen: die Reihe „Gesellschaft und Erziehung. Historische und Systematische Perspektiven“, die, publiziert von 2006-2017, 17 disziplin-, schul- und theoriehistorische Sammelbände zur wissenschaftlichen Pädagogik und Bildungspolitik in SBZ und DDR umfasst, begründet und herausgegeben von Christa Uhlig, Bodo Friedrich und Dieter Kirchhöfer; die Monographie „Fünf Jahrzehnte, vier Institute, zwei Systeme: das Zentralinstitut für Hochschulbildung Berlin (ZHB) und seine Kontexte 1964-2014“ von Peer Pasternack (2019), mit jedoch vorwiegend institutions- und weniger wissensgeschichtlichem Fokus.
Anna-Sophie Kruscha (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna-Sophie Kruscha: Rezension von: Tenorth, Heinz-Elmar / Wiegmann, Ulrich: Pädagogische Wissenschaft in der DDR, Ideologieproduktion, Systemreflexion und Erziehungsforschung. Studien zu einem vernachlässigtem Thema der Disziplingeschichte deutscher Pädagogik. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152532.html