EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Jakob Benecke (Hrsg.)
Erziehungs- und Bildungsverhältnisse in der DDR
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022
(398 S.; ISBN 978-3-7815-2494-1; 25,00 EUR)
Erziehungs- und Bildungsverhältnisse in der DDR Je mehr das 20. Jahrhundert in historische Distanz rückt, um so wichtiger wird es, diesen Zeitraum in seinen Entwicklungen, Krisen und Umbrüchen umfassend in den Blick zu nehmen und aus einem solchen Studium informierte Schlüsse zu ziehen. In Deutschland wird die historische Forschung herausgefordert durch ein von sieben verschiedenen politischen Systemen bestimmtes Jahrhundert: beginnend mit dem Kaiserreich über die Weimarer Republik, das nationalsozialistische Regime, die Besatzungsherrschaft der vier alliierten Siegermächte, die Etablierung der Bundesrepublik (West) und der DDR bis schließlich mit der Wiedervereinigung Deutschlands unmittelbar in die Gegenwart reichend. Dabei wirkt zwischen dem Verstehen des Jahrhunderts und dem Verstehen einzelner Epochen ein unauflösliches Wechselverhältnis: Setzt doch eine treffende Gesamtbetrachtung die Kenntnis der einzelnen Erscheinungen voraus, wie auch das Verstehen der einzelnen Epochen ohne übergreifende Betrachtung nicht möglich ist. Im Verlag Julius Klinkhardt wird nun mit dem vorliegenden Band unter dem Titel „Erziehungs- und Bildungsverhältnisse im 20. Jahrhundert“ eine neue Reihe eröffnet, mit der die beiden Reihenherausgeber, Jakob Benecke und Jörg-W. Link, das Ziel verfolgen, in insgesamt sechs Bänden „einem breiten Publikum mit heterogenen Nutzungsinteressen die einzelnen Epochen der Erziehungs- und Bildungsgeschichte des 20. Jahrhunderts fundiert und differenziert zugänglich zu machen“.

Der als erster erschienene Einzelband ist der DDR gewidmet und wird von Jakob Benecke allein herausgegeben. In seinem einleitenden Aufsatz bietet Benecke einen dichten, lesenswerten Überblick über den gesamten Problemstand, legt die Konzeption des Bandes dar und stellt zugleich, ohne Schematismus, sondern in flüssigem Duktus, wichtige und anregende Sachaspekte der enthaltenen Aufsätze aus der Feder von einundzwanzig Wissenschaftler*innen vor. Der Band enthält eine Gesamtschau über die wissenschaftliche Aufarbeitung der Erziehungs- und Bildungsgeschichte der DDR und bietet einen Überblick über den Sach- und Problemstand wie auch über Perspektiven und Kategorien der Forschung. Einzelne Beiträge stellen eigene originäre Forschungsarbeiten dar, andere, von nicht geringerem Interesse, werten auf aktuellem Stand die forschungsbasierte Literatur aus. Dem Konzept des Herausgebers folgend wird ein weiter Begriff von Erziehung und Bildung im Kontext zugrunde gelegt: Es geht nicht nur um Bildung und Erziehung innerhalb von „klassischen“ Institutionen, sondern auch außerhalb von Institutionen, basierend primär auf Forschungen nach dem Ende der DDR. Gelegentlich kommt auch die erziehungswissenschaftliche Forschung aus der DDR selbst in den Blick.

Anlage und Aufbau des Bandes folgen einem eingangs gut begründeten Schema: Nach einer allgemeinen Orientierung, wie sie in den drei ersten Beiträgen geboten wird (über Generationen von Petra Gruner, über die Pädagogik und Erziehungswissenschaft in der DDR von Heinz-Elmar Tenorth und über die Familie von Yvonne Schütze), finden sich Beiträge, die in ihrer Abfolge am menschlichen Lebenslauf orientiert sind, vom Säuglings- bis zum Greisenalter, die inner- und außerschulische Handlungsfelder behandeln und verschiedene Gruppen von Adressaten einbeziehen: von Iris Nentwig-Gesemann zu Krippen und Kindergärten, von Gert Geißler zur Schule, von Eva Matthes zu Schulbüchern und Unterrichtsmitteln, von Sebastian Barsch zur Bildung von Menschen mit (intellektuellen) Behinderungen. Ulrich Wiegmann behandelt das Verhältnis der Schule zur Staatssicherheit, Christian Sachse die Wehrerziehung von Kindern und Jugendlichen, Beate Kaiser die Pionierorganisation, Peter Skyba die FDJ und die SED-Jugendpolitik. Steffi Lehmann widmet sich schließlich der Jugendpolitik mit Blick auf Anspruch und Wirkung ausgewählter Bildungsmaßnahmen, Uwe Grelak und Peer Pasternack dem konfessionellen Bildungswesen, Peer Pasternack außerdem dem Hochschulwesen und Tetyana Hoggan-Kloubert und Nicole Luthardt der Erwachsenenbildung. Beschlossen wird der Band mit einem Teil, in dem altersübergreifende Ziele oder Problemdimensionen in den Blick genommen werden: Internationalität (Susanne Timm), Jugendhilfe (Christian Sachse), doktrinäre Erziehung und abweichendes Verhalten (Christian Halbrock) und neonazistische und rassistische Einstellungen und Gewalttaten von Heranwachsenden in der DDR (Harry Waibel).

Mit ihrem Beitrag zur Familie in der DDR thematisiert Yvonne Schütze unter Heranziehung treffender beispielhafter Dokumente eine Blickrichtung der DDR-eigenen erziehungswissenschaftlichen Forschung, die einst der Selbstvergewisserung über das vom Regime Erreichte dienen sollte. In den Einzelberichten kommen auch solche Zugangsweisen zur Geltung, die in der erziehungswissenschaftlichen Forschung vergleichsweise seltener zum Zuge kommen, wie die Auswertung von ausgewählten Zeugnissen mittelbar und unmittelbar Beteiligter und Betroffener. Die Gruppe der Beiträger*innen umfasst sowohl bekannte Autoritäten der Erziehungswissenschaft als auch Fachpublizisten und junge Wissenschaftler*innen – eine Zusammenstellung, die der Vielseitigkeit der Fragestellungen und Perspektiven der Betrachtung sowie der Lesbarkeit des Bandes zugute kommt.

Ein Werk dieser Art bedarf in der Konzipierung und Ausarbeitung einer besonders sorgfältig durchdachten Anlage und Methodik, versteht sich doch bei dem umfassenden, der DDR gewidmeten Thema nahezu nichts von selbst; zu unterschiedlich können die Perspektiven, Wertungen und Rezeptionsweisen sein. Zwar ist die Zeit, in der es in progressiv gestimmten Kreisen verpönt war, die DDR eine Diktatur zu nennen, wohl endgültig vorüber, und doch ist und bleibt es eine Herausforderung an die wissenschaftlich-sachliche Aufklärung, in der Bestimmung der Fragestellungen, in der Auswahl der Quellen, in Herangehensweise und Interpretation hinsichtlich der Bildungsverhältnisse in der DDR den angemessenen Zugang und Ton zu finden – jenseits von Beschönigung, bedeutungsvollem Beschweigen, überheblicher Besserwisserei und Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Lebenswirklichkeit in einer Diktatur. Man könnte das eine Gratwanderung nennen oder auch die selbstverständliche Bemühung um wissenschaftliche Sachlichkeit, welche die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Einfühlung in die problematischen Handlungsfelder der zeithistorischen Akteure nicht auszuschließen braucht. Wie immer diese historiographische Qualität im Einzelnen benannt werden soll, man kann sagen, dass der vorliegende Band in besonderer Weise von dem Bemühen um sachgerechte Wissenschaftlichkeit bestimmt ist.

Hinsichtlich des Zugangs zu der Thematik fällt – positiv – auf, dass hier eine Geschichtsschreibung vorgestellt wird, die sich dem Lernen, der Erziehung und Bildung und der Lenkung des Menschen im gesamten Lebenslauf widmet, immer wieder einmal die Grenzen der Bildungs- und Erziehungsinstitutionen überschreitet und dabei den eigenen Anspruch, Bildungsverhältnisse zu beleuchten, auch einlöst. Es zeigt sich hier, dass die Einführung eines neuen Begriffs in die fachliche Sprachwelt gelegentlich durchaus glückt, wie es mit der Prägung des Begriffs der „Bildungsverhältnisse“ der Fall ist.

Mit Blick auf die Fülle der Beiträge, die sämtlich Interesse erweckend angelegt, gut strukturiert, lesbar geschrieben und mit informativer Dokumentation ausgestattet sind, verbietet sich im Rahmen einer Kurzrezension die kritische Hervorhebung einzelner Beiträge. Bei manchen von diesen dürfte für die Leserschaft das spezifisch erziehungswissenschaftliche Interesse überwiegen, andere bieten, in wechselndem Maße, Aspekte und Einblicke von geradezu bestürzend aktueller politischer Relevanz (z.B. zur Entstehung von Rechtsradikalismus, zum Internationalismus, zu Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus oder zum sozialpädagogischen und bildungspolitischen Umgang mit ausländischen Arbeitern oder mit Flüchtlingen und Asylanten). Wohl alle Beiträge sind in einer Weise angelegt, die geeignet ist, das Verständnis (ehemals) westdeutscher Leser für die Vorgeschichte der Kultur und Sozialisation ihrer (ehemals) ostdeutschen Nachbarn und Mitbürger beinahe spontan zu erweitern und zu vertiefen. Als Beispiel sei nur die Kategorie des Generationenverhältnisses genannt, mit der in verschiedenen Beiträgen erhellend gearbeitet wird. Es ist zu hoffen und dabei zuversichtlich zu erwarten, dass auch diejenigen Leser, die in Kindheit, Jugend und erweitertem Familienleben mit den Bildungs- und Sozialisationsverhältnissen der DDR persönlich in Berührung gekommen sind, sich durch den Band in seinem Ansatz und seinen einzelnen Beiträgen in ähnlicher Weise angesprochen und in ihrer Geschichte in der einen oder anderen Weise verstanden fühlen werden.

Was die Ausstattung des Bandes betrifft, so würden ältere Leser*innen sich wohl eine geringfügig größere und damit für die Lektüre komfortablere Drucktype wünschen. Für alle Altersklassen würde sich ein Register, mindestens eines der Namen, als nützlich erweisen. Der Band enthält einige Bilddokumente, von denen man sich noch weitere gewünscht hätte, wobei die gebotenen hier und da eine etwas tiefergehende Interpretation verdient hätten.

Als Gesamteindruck lässt sich festhalten, dass hier unter einem neuen attraktiven vielseitigen Ansatz ein besonders informatives, zum Lesen verlockendes Werk vorliegt, das sich vorzüglich als Auftakt einer Reihe eignet, sodass die geplanten weiteren Bände zu Epochen der deutschen Bildungsgeschichte im 20. Jahrhundert mit Spannung erwartet werden können.
Martha Friedenthal-Haase (Kleinmachnow bei Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martha Friedenthal-Haase: Rezension von: Benecke, Jakob (Hg.): Erziehungs- und Bildungsverhältnisse in der DDR. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152494.html