EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Michaela Vogt / Mai-Anh Boger / Patrick BĂŒhler (Hrsg.)
Inklusion als Chiffre?
Bildungshistorische Analysen und Reflexionen
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(255 S.; ISBN 978-3-7815-2476-7; 24,90 EUR)
Inklusion als Chiffre? Die Feststellung der KomplexitĂ€t und Unbestimmtheit des Inklusionsbegriffs begleitet seit Jahren den Diskurs ĂŒber Inklusion – egal ob in konstruktiv-kritischer oder in ablehnend-vermeidender Intention. Der Inklusionsdiskurs vereint tatsĂ€chlich sowohl im historischen Verlauf als auch in der aktuellen Thematisierung unterschiedliche Begriffskonzepte. Der hier besprochene Sammelband macht diese diskursive RealitĂ€t im Sinne eines historischen Metadiskurses zu seinem Anliegen. Die Herausgeber*innen eröffnen ihn mit der Frage: „Wie erzĂ€hlt man die Geschichte eines Un-Dings?“ (9).

ZunĂ€chst wird der Inklusionsbegriff, bezugnehmend auf Ernesto Laclau, in ein VerstĂ€ndnis von Diskurs als Ensemble von Bedeutungssequenzen zur Strukturierung sozial-kultureller Praktiken eingeordnet. Inklusion gilt demnach als ‚leerer Signifikant‘ und nicht als eigener, klar umrissener Begriff. Inklusion wird zur bedeutsamen Chiffre fĂŒr andere, mit ihr assoziierte und teilweise synonym verwendete begriffliche Konzepte – wie etwa Teilhabe, soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte. Diese Begriffe betonen unterschiedliche Facetten und Bedeutungsgehalte von Inklusion, die sowohl Schnittmengen aufweisen als auch auf Abgrenzungen und WidersprĂŒche verweisen können. Inklusion kann nach diesem VerstĂ€ndnis also als Chiffre gelesen werden, die sich einerseits unumgehbar, andererseits aber auch unbestimmt darstellt und im hegemonialen Diskurs um Deutungshoheiten inhaltlich immer wieder neu gefĂŒllt und definiert wird. Es ist daher nicht das Anliegen des Buches, dem Inklusionsdiskurs eine weitere Lesart hinzuzufĂŒgen. Vielmehr gilt es, ihm im (historischen) Verlauf mit dem Ziel einer Reorganisation und Re-Inventarisierung verschiedener Facetten nachzuspĂŒren. Da retrospektiv vorgenommene Dechiffrierungen selbst im Diskurs wieder dechiffrierbar sind und keine strikte Trennung zwischen einer Diskursanalyse und einer Diskursbeteiligung ermöglichen, sehen die Herausgeber*innen den vorliegenden Band als Beitrag zu einem kontinuierlichen Prozess von Re-Chiffrierungen.

Der Band versammelt TagungsbeitrÀge der gleichnamigen Tagung der DGfE-Sektion Historische Bildungsforschung aus dem Jahr 2019 und teilt sich in folgende Unterkapitel: Theorie der Disziplingeschichte, Geschichte inklusiver Bewegungen, Begriffs- und Wissensgeschichte, Inklusionsbegriffe und -verstÀndnisse ausgewÀhlter PÀdagogiken sowie Re-Kategorisierungen und Differenzordnungen. Eine Perspektive kritischer Bezugnahme auf das hegemoniale Narrativ von Inklusion als lineare Fortschrittsgeschichte eint die unterschiedlichen BeitrÀge.

Die BeitrĂ€ge zur ‚Theorie der Disziplingeschichte‘ zeichnen theoretische Zugangsweisen zu Fragen der HeterogenitĂ€t, Ungleichheit und Nicht/Teilhabe in pĂ€dagogischen Kontexten nach. Als zentral erweist sich dabei der Einfluss dichotomer Vorstellungen von Nicht/Behinderung fĂŒr Exklusionsstrukturen und -prozesse im Bildungssystem wie auch in der Bildungstheorie. Gleichermaßen wird aber auch die enge Kopplung der Integrationsidee an die Vorstellung einer Demokratisierung der Gesellschaft evident. Der Sammelband beginnt also mit der Bearbeitung grundlegender SpannungsverhĂ€ltnisse inklusiver Diskurse. Vera Moser ordnet in diesem Sinne die Deutsche Bildungsratsempfehlung „Zur pĂ€dagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ aus dem Jahr 1973 bildungspolitisch in die demokratische Reformstimmung der 1970er Jahre ein. Nachfolgend analysieren Bettina Lindmeier und Mia LĂŒcke auf bildungstheoretischer Ebene unterschiedliche adressat*innenspezifische VerĂ€nderungen des Konzepts der Bildsamkeit in ihrer Bedeutung fĂŒr Inklusions- und Exklusionsprozesse. Der Beitrag problematisiert das bildungstheoretische Spannungsfeld zwischen universalem Bildungsanspruch und individualisierten Bildungspraktiken am Beispiel der dramatischen Folgen der jĂŒngsten Zuschreibung von BildungsunfĂ€higkeit im Nationalsozialismus. In ĂŒbergeordneter Perspektive thematisiert Andreas Kuhn die grundsĂ€tzliche Problematik der disziplinĂ€ren Konstruktionen von Teilhabe und Ausschluss in pĂ€dagogischen Diskursen und zeigt auf, dass und wie (binnen)disziplinĂ€re Grenzen ĂŒberhaupt erst ĂŒber die Identifikation und Bearbeitung von Gegenstandsbereichen als nicht/pĂ€dagogische Fragestellungeng hergestellt werden.

Das Kapitel ‚Geschichte inklusiver Bewegungen‘ vereint in eher lockerem Zusammenhang ein inhaltlich und methodisch breites Spektrum verschiedener Aspekte der Historie sozialer, teilhabeorientierter Bewegungen. ZunĂ€chst thematisieren zwei BeitrĂ€ge das im internationalen Vergleich frĂŒhe und konsequente Vorgehen Italiens, wo bereits 1977 per Gesetz der allgemeine Schulbesuch aller Kinder und die Schließung der Sonderschulen geregelt wurde. Simonetta Polenghi zeichnet diese „[i]talienischen Wege zur Inklusion“ (63) vor dem Hintergrund eines antifaschistischen gesellschaftlichen Reformklimas der spĂ€ten 1970er Jahre nach. Eugenio Riversi analysiert italienische Fachtexte der 1970er Jahre in einer theoretischen Perspektive von Inklusion als Dispositiv (Foucault) im Kontext gesellschaftspolitischer Ziele. Mit der Thematisierung von Dis/Ability in medienarchĂ€ologischer Perspektive eröffnet Jan MĂŒggeburg eine Betrachtungsweise auf aktuelle alltagsrelevante Konstruktionen von Teilhabe- und Exklusionsprozessen. Schließlich spĂŒren Edith Glaser, Friederike Thole und Sarah Wedde der Nicht/Thematisierung inklusiver Bildung in der Bildungsreform der frĂŒhen Bundesrepublik nach und identifizieren bedeutende Parallelen und VorlĂ€ufer in den Diskussionen um Bildungsgerechtigkeit innerhalb der Gesamtschuldebatte.

‚Begriffs- und Wissensgeschichte‘ fasst vier BeitrĂ€ge zusammen, die jeweils Bedeutungsverschiebungen des Inklusionsbegriffs im Sinne von Reflexion und Dechiffrierung in unterschiedlichen pĂ€dagogischen Feldern und Zeitschienen bearbeiten. ZunĂ€chst analysiert Patrick BĂŒhler Bedeutungsverschiebungen des Integrations-Begriffs in der Schweizerischen Lehrerzeitung zwischen 1954 und 1994. Rebekka Horlacher identifiziert in der Auseinandersetzung mit frĂŒhen AnsĂ€tzen der Taubstummenerziehung bei Hans Konrad NĂ€f, einem zeitweisen WeggefĂ€hrten Pestalozzis, die Frage von Inklusion als Ziel oder als Prozess. Der Beitrag von Andrea De Vincenti, Norbert Grube und Andreas Hoffmann-Ocon untersucht am Beispiel des ZĂŒricher HeilpĂ€dagogen Heinrich Hanselmann dessen volkspĂ€dagogisierende Ambitionen, insbesondere mit Blick auf ein paradox gespeistes Konzept von Gemeinschaft. Abschließend nimmt Philipp Eigenmann Begriffsalternativen zum Integrationsbegriff im pĂ€dagogischen Umgang mit Migrationsfragen in der Schweiz im Zeitraum von 1960 bis 1980 in den Blick.

Die BeitrĂ€ge im Kapitel ‚Inklusionsbegriffe und -verstĂ€ndnisse ausgewĂ€hlter PĂ€dagogiken‘ zeigen diese an ausgewĂ€hlten Figuren, Formen oder Institutionen oder beziehen sich auf Werke, denen im Inklusionsdiskurs eine zentrale Stellung zugesprochen wird. Die BeitrĂ€ge hĂ€ngen eher lose zusammen. Den Auftakt macht Christian Stöger, indem er das hinsichtlich seiner exkludierenden und inkludierenden Anteile konkurrierend gedeutete Levana Projekt (1856-1865) anhand von Quellentexten neu auswertet. Sebastian Engelmann bearbeitet das VerhĂ€ltnis von Normalisierung, Empowerment und Dekonstruktion in der sozialistischen ReformpĂ€dagogik Minna Spechts in der Perspektive der trilemmatischen Inklusionstheorie (Boger). Daniel Deplazes geht schließlich dem IntegrationsverstĂ€ndnis der Heimerziehung am Beispiel des heilpĂ€dagogisch ausgerichteten ZĂŒricher Landerziehungsheims Alisbrunn und vor dem Hintergrund der Heimkritik der 1970er Jahre nach.

‚Re-/Kategorisierungen und Differenzordnungen‘ versammelt BeitrĂ€ge zu retrospektiven Rekonstruktionen diskursiver Konstruktionsleistungen von Differenz und Andersheit in relevanten gesellschaftlichen und pĂ€dagogischen Diskursen einschließlich ihrer exkludierenden Effekte. Joachim Scholz, Denise Löwe, Kerrin von Engelhardt und Sabine Reh arbeiten fĂŒr höhere Schulen im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik den Stellenwert von Normierungspraktiken und Ausschlussdrohung in der Bearbeitung von Nicht/Zugehörigkeit heraus. Elke Kleinau thematisiert Einschluss- und Ausschlussprozesse von „schwarzen deutschen Besatzungskindern“ (218) in der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit Blick auf Schule und Berufseinstieg und identifiziert EinflĂŒsse rassedifferenten Denkens und traditioneller Deutungsmuster von Unehelichkeit. Mit Kategorisierungsprozessen im Aufnahmeverfahren niederlĂ€ndischer Sonderschulen fĂŒr Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zwischen 1949 und 1990 beschĂ€ftigt sich Nelleke Bakker und zeigt auf, wie Professionen inhaltliche und prestigebezogene Gewinne durch schulische FeldzugĂ€nge erwerben. Michaela Vogt und Agneta Floth verdeutlichen anhand schulischer ÜberprĂŒfungsverfahren in der DDR, dass und wie die VerstĂ€ndigung ĂŒber scheinbar kindbezogene Probleme damals und heute auch als Chiffre fĂŒr die Verdeckung von Blind- und Fehlstellen im Schul- und Bildungssystem gelesen werden kann.

Insgesamt vermögen die BeitrĂ€ge verstĂ€ndlicherweise nicht alle gleichermaßen dem Anspruch des Sammelbandes gerecht zu werden. Sie bilden auch in ihrer aktuellen diskursiven Relevanz unterschiedliche AnschlussfĂ€higkeiten – einige BeitrĂ€ge bearbeiten zentrale SchlĂŒsselaspekte, andere liefern weitere Beispiele und Konkretisierungen fĂŒr aktuell eher (ab)geschlossene DiskursstrĂ€nge (wie die nach Inklusion als Ziel oder als Prozess). In der Gesamtschau erweist sich das vorgestellte DiskursverstĂ€ndnis als tragfĂ€hige theoretische Klammer, um eine Vielzahl von Perspektiven im Inklusionsdiskurs gewinnbringend im Sinne eines Metadiskurses zu verbinden.
Birgit Papke (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Birgit Papke: Rezension von: Vogt, Michaela / Boger, Mai-Anh / BĂŒhler, Patrick (Hg.): Inklusion als Chiffre?, Bildungshistorische Analysen und Reflexionen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152476.html