Die Debatte um die Professionalisierung angehender Lehrpersonen ist ein Dauerthema erziehungswissenschaftlicher Auseinandersetzung. Eine erhöhte Aufmerksamkeit entstand zuletzt durch das BMBF-Programm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ (QLB), über das Forschungsprojekte in Lehramtsstudiengängen gefördert wurden. Zu den vielfältigen Anforderungen an die Qualifizierung der nächsten Lehrer*innengeneration zählt die Vorbereitung auf die Umsetzung inklusiver schulischer Bildung. Diese ist von besonderer Bedeutung, da hier ein bildungspolitisches Ziel gesetzt ist, bei dem das Selbstverständnis der Lehrer*innenrolle verunsichert wird und sich die Aneignung von Wissen nicht als hinreichend erweist.
Die 2021 publizierte Dissertationsschrift von Maren Oldenburg rekonstruiert mittels Dokumentarischer Methode studentische Orientierungen zur inklusiven Bildung vor und nach Ende eines Seminars zum Thema „Behinderung und Benachteiligung“, das ab dem 1. Semester im Lehramtsstudium Gymnasium, berufliche Bildung und Sonderpädagogik belegt werden konnte. Die zwei leitenden Forschungsfragen der Studie lauten: „Welche Orientierungen zu Inklusion und Differenzen der untersuchten Gruppen von Studierenden lassen sich rekonstruieren? Inwiefern lassen sich in diesem Kontext Bezugnahmen zu den Schüler*innenperspektiven rekonstruieren?“ (90). Die zentrale Erkenntnis, die aus der Rekonstruktion der impliziten Wissensbestände von vier Studierendengruppen hervorgeht, fasst die Autorin mit Orientierungen zusammen, die primär durch eine Homogenitätsillusion gekennzeichnet sind. Hierdurch entstehen schwer vereinbare Spannungsverhältnisse zwischen dem inklusiven Anspruch und der Reproduktion/Dekonstruktion von Differenzen. Zugleich zeigt sich nur eine marginale Berücksichtigung der Lernendenperspektive.
Die in neun Kapiteln strukturierte Qualifikationsarbeit beginnt mit der Betrachtung der Universitäten als privilegierte Bildungsorte. Damit ist die Arbeit über gesellschaftliche Strukturen und wissenschaftlichen Konstituierungen gerahmt. Hier wird zugleich die Verortung der Studie in der QLB-Maßnahme „Diversitätssensibilität in der inklusiven Schule“ vorgenommen, bei der Inklusion als Querschnittsaufgabe verstanden und u.a. über kasuistische Lehrveranstaltungen von 2015 bis 2018 umgesetzt wurde. Es folgt eine breite Hinführung zur inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung, die rechtliche, soziologische und politische Perspektiven darlegt und vielfältige Forschungsbefunde integriert. Eine Zuspitzung erfolgt auf die pädagogische Perspektive, bei der die Bedeutung der Schüler*innen als Adressat*innen pädagogischen Handelns fokussiert und diese in Beziehung mit der ersten Phase der Lehrer*innenbildung gebracht wird. Dieser Fokus wird auch in das Kapitel 3 übernommen. Hier erfolgt die Darlegung der drei geläufigen Professionsansätze der Lehrer*innenbildung: kompetenztheoretisch, strukturtheoretisch und berufsbiographisch, die hinsichtlich ihrer Bezüge zur Schüler*innenperspektive betrachtet werden. Das Theoriekapitel schließt mit einer praxeologischen, berufsbiographischen Perspektive auf Lehrer*innenprofessionalität und bahnt bereits den Weg für die methodischen Entscheidungen. Bevor diese jedoch dargelegt werden, schließen sich noch drei weitere Kapitel an: zum einen zur Differenzsensibilität mit Darlegung verschiedener Modelle von Behinderung, zum anderen zur kasuistischen Seminarkonzeption sowie ein separates Hauptkapitel zur handlungsleitenden Fragestellung.
Das methodische Vorgehen und die methodologische Abgrenzung für den umfangreichen empirischen Teil der qualitativ-rekonstruktiven Studie folgen. Vorgestellt werden die Datenanalyse mittels Dokumentarischer Methode, das Sample (vier Gruppen mit je 3-5 Studierenden, die zu Beginn und Ende des Seminars interviewt wurden) und das Gruppendiskussionsverfahren. Diese methodischen Setzungen werden mit ihren Limitationen diskutiert und mit den bereits im Theorieteil dargelegten Konzepten, wie bspw. Doing/Undoing Difference, in Verbindung gebracht.
Das Kernstück der Arbeit bildet die 180 Seiten umfassende Ergebnisdarstellung in Kapitel 8, die sich auf Material aus acht Gruppendiskussionen bezieht. Hier sind die Interviewdaten jeweils auf den von der Autorin festgelegten drei Analyseebenen vorgestellt. Zunächst erfolgt umfangreich die „Fallbeschreibungen der Gruppen“ (129-257). Es folgt die Ebene zwei mit „Orientierungen – Orientierungsrahmen – Vergleichsdimensionen: eine theoretische Analyse“ (258-293), die an die Stelle einer Typenbildung tritt, auf die aufgrund fehlender strukturidentischer gruppenübergreifender Schlüsse verzichtet wird. Die dritte Ebene, „Diskussion der rekonstruierten thematischen Anker im Kontext inklusionsorientierter, differenzsensibler Lehrer*innenbildung“ (294-306), offenbart den wesentlichen Erkenntnisgewinn der Analyse. Es zeigen sich vier Relevanzstrukturen, die als bedeutsam für die Orientierungen der untersuchten Studierenden hervorgehoben werden: (1) Es dokumentiert sich eine „Homogenitätsillusion von Schule und Unterricht“ (294), bei dem alle Schüler*innen einer Lerngruppe zum gleichen Zeitpunkt denselben Schulabschluss erwerben und entsprechend im Unterricht parallel am gleichen Lerngegenstand arbeiten sollten. (2) Daneben wird ein deutlicher „Bezug zur eigenen Schulzeit“ (196) sichtbar, wie er bereits vielfach für die Lehrer*innenbildung als konstituierend nachgewiesen wurde. (3) Mit dem dritten Aspekt zeigt sich eine Antwort auf das zentrale Forschungsinteresse und zwar im „Bezug zu den Schüler*innenperspektiven zur Verhandlung eigener (angehender) Positionen“ (198). Hier dokumentiert sich, dass die Studierenden die Perspektive einzelner Schüler*innen nur im geringen Ausmaß reflektieren und diese auch kaum dazu beitragen, die eigenen Annahmen kritisch zu prüfen. Stattdessen dienen diese Perspektiven als Gesprächsanlass, die eigene Position zu verhandeln und für die Gestaltung einer Lehr-Lern-Beziehung als relevant zu erachten. Dazu zählt bspw. die Ausrichtung des Unterrichts, wobei eine Konkretisierung von Schüler*innenorientierung ausbleibt. (4) Schließlich wird noch die „Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen“ (301) als zentrale Gelingensbedingung hervorgehoben, die mit Verunsicherungen bezüglich Zuständigkeiten und Kompetenzerwartungen einhergeht. Kritisch anzumerken ist, dass sich die interessanten Ergebnisse verwässern, indem sie unmittelbar subsumtionslogisch in Beziehung mit bewährten theoretischen Konstrukten gesetzt werden, wie bspw. Helspers Antinomien oder Cloerkes Kontakthypothese. Als zentrales Ergebnis zeigen sich ähnliche Orientierungen vor und nach dem Seminar, so dass keine nennenswerte Veränderung durch das einsemestrige Lehrangebot zu verzeichnen ist.
Im abschließenden Kapitel 9 „Herausforderungen an inklusionsorientierte Forschung und Lehre“ sind die Ergebnisse zusammengeführt, aus denen wichtige weiterführende Gedanken hervorgehen. Mit dem Bogen zum Ausgangspostulat, Universitäten als privilegierte Orte zu konzeptualisieren, leiten sich hier Implikationen für die Anforderungen an inklusionsorientierte und differenzsensible Lehrer*innenbildung ab. Diese werden mittels Fragen an die Seminargestaltung und -nutzung konkretisiert. Dabei gerät der aktuelle Trend zu kasuistischen Formaten in den Blick, deren Grenzen sich in der vorliegenden Forschungsarbeit zeigen. Das Buch schließt mit Fragen an die Forschung, die auf Mechanismen von Delegation und Externalisierung, die Einflüsse der Berufsbiographie auf die Lehrer*innenprofessionalität sowie die Entwicklung einer dekonstruktivistischen Haltung zielen. Die Perspektive begrenzt sich dabei jedoch auf die Studierenden und lässt die Dozent*innen außen vor.
Die Dissertation von Maren Oldenburg kann denjenigen als Lektüre empfohlen werden, die sich mit der kontroversen Frage befassen, wie die Professionalisierung der nächsten Lehrer*innengeneration für die Aufgabe der schulischen Inklusion gestaltet werden kann. Sie bietet nicht nur Ansatzpunkte für die Gestaltung von inklusionsspezifischen Lehrveranstaltungen, sondern weist auch Grenzen von solitären, lehramtsübergreifenden Angeboten zum Thema Inklusion mittels kasuistischen Vorgehens auf, die für die Diskussion um die Konzeption von Modul- und Veranstaltungsformaten an universitären Lehrer*innenbildungsstätten nutzbar ist. Zugleich ist die Lektüre auch Lehramtsstudierenden zu empfehlen, die zum einen die umfangreichen Querverweise für einen Blick über Diskussionsstränge inklusiver Bildung nutzen können. Zum anderen stellt das Buch nicht zuletzt einen Anlass dar, die Stabilität von studentischen Orientierungen (selbst-)kritisch zu hinterfragen.
EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)
Schüler*innen – Studierende – Inklusion
Orientierungen auf dem Weg zu differenzsensibler Lehrer*innenbildung?
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(411 S.; ISBN 978-3-7815-2472-9; 46,00 EUR)
Silke Trumpa (Fulda)
Zur Zitierweise der Rezension:
Silke Trumpa: Rezension von: Oldenburg, Maren: Schüler*innen – Studierende – Inklusion, Orientierungen auf dem Weg zu differenzsensibler Lehrer*innenbildung?. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152472.html
Silke Trumpa: Rezension von: Oldenburg, Maren: Schüler*innen – Studierende – Inklusion, Orientierungen auf dem Weg zu differenzsensibler Lehrer*innenbildung?. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152472.html