Obwohl Beobachtung, Prüfung und Selektion von Schüler:innen zum pädagogischen Alltagsgeschäft gehören, blieben sie lange „Leerstelle pädagogischer Reflexion“ [1] oder wurden als Praktiken aufgefasst, die die Schule lediglich „im Auftrag“ [2] für die Gesellschaft vollzieht. Der zu besprechende Sammelband, der aus einem internationalen Workshop im Jahr 2017 hervorgegangen ist, gehört zu jenen Projekten, die sich in den letzten Jahren der Bearbeitung dieser Leerstelle widmeten. Insgesamt 15 Beiträge beleuchten Diskurse wie Praktiken der Schüler:innenbeurteilung und -auslese zwischen 1880 und 1980 vornehmlich in Deutschland und der Schweiz.
Den Ausgangspunkt bildet die von den Herausgeber:innen als „Inklusions-Paradox“ (8) charakterisierte Situation des Schulsystems um 1900. Die sukzessive Durchsetzung der Schulpflicht und die Etablierung der Jahrgangsklasse als Organisationsprinzip führten dazu, dass sich die Vorstellung einer ‚normalen‘ (Schul-)Kindheit etablierte und den in diesem Zusammenhang identifizierten Abweichungen mit exkludierenden Praktiken begegnet wurde. Zentrales Anliegen des Bands ist es, das dabei „entstehende Zusammenspiel“ (7) zwischen der Etablierung und Ausdifferenzierung von Bildungsinstitutionen, den Praktiken der Beobachtung und Prüfung sowie den Debatten um Begabung und Leistung in einer längeren Perspektive zu erfassen. Die Einleitung skizziert dazu bereits zentrale Einsichten und nennt auch alle Einzelbeiträge, verzichtet aber leider darauf, diese strukturiert vorzustellen. Trotz inhaltlicher Überschneidungen und einzelner Querverweise zwischen den Beiträgen wirkt der Sammelband so zunächst heterogener, als er eigentlich ist. Zumindest wäre eine deutlichere Systematisierung der „‚verwickelten‘ Entwicklungen“ (11) durch die Herausgeber:innen für die Lektüre hilfreich gewesen.
Im Folgenden sollen die Beiträge gruppiert und zueinander in Bezug gesetzt werden.
Eine erste Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit Konzepten von ‚A/Normalität‘ und der Entstehungsgeschichte der Sonderpädagogik. Jona Garz, Vera Moser und Stefan Wünsch unterziehen die sogenannte Kielhorn-Rede als „Gründungsmythos nicht nur der Hilfsschule, sondern zuweilen auch der Sonderpädagogik als Disziplin“ (32) einer Re-Lektüre. Die Hilfsschule verstehen sie als Projekt einer expertisebegründeten Bearbeitung der ‚Sozialen Frage‘, die das Hilfsschulkind diskursiv hervorbrachte und darüber Ordnungsvorstellungen verhandelte. Die Pädagogik stellte bei der Begründung der neuen Schulform nicht die zentrale Referenz dar. Vielmehr wurden neben Verweisen auf Kriminalitätsstatistiken oder die Lage der Volksschulen in den Industriestädten vor allem Wissensbestände aus Psychiatrie und Religion aufgerufen.
Jona Garz betrachtet die Expertisierung und Wissensproduktion zwischen Pädagogik und Psychiatrie in einem Beitrag über den Leiter der Berliner Idiotenanstalt Hermann Piper. Dessen Bemühungen, die ‚anormale‘ Hirnaktivität von Kindern mittels Schreibproben sicht- und ‚Bildungsunfähigkeit‘ quantitativ messbar zu machen, führten zwar ins Leere, ließen ihn aber zum Experten im Bereich der ‚Idiotie‘ werden. Dass im Anstaltsalltag die Grenzziehung zwischen ‚normal‘ und ‚anormal‘ wiederum auf Grundlage qualitativer Beobachtung durch schulisches Personal vollzogen wurde, zeigt Garz‘ Beitrag ebenso wie der von Michèle Hofmann zur Kategorisierung ‚idiotischer‘ Kinder im Kontext der im 19. Jahrhundert entstehenden Anstalten, Asyle und Spezialklassen in Basel und Zürich. Die Verstetigung der Spezialklassen für ‚Schwachbegabte‘ sowie die Professionalisierung der pädagogischen Ausbildung lassen sich in Patrick Bühlers Beitrag zu den Anfängen der Schweizer Heilpädagogik weiterverfolgen.
Thomas Hoffmanns Beitrag zu Übungsschulen für ‚Gehirnkrüppel‘ zeigt, dass die Heilpädagogik gemeinsam mit der Medizin auch für die Rehabilitation hirnverletzter Soldaten des Ersten Weltkriegs zuständig war. Die betroffenen Soldaten wurden im Diskurs um Kriegsverletzte aufgrund ihrer spezifischen Verletzung als Kinder codiert, die durch eine Störung in der ‚normalen‘ Entwicklung zurückgeworfen seien. Der medizinische Optimismus bezüglich der Rehabilitationsfähigkeit des Gehirns fand seine Grenze im bei Bühler skizzierten „therapeutischen ‚Pessimismus‘“ (92) der Heilpädagogik, der in der Konsequenz sowohl eine ‚Heilung‘ des Hilfsschulkinds als auch neue Forschungsansätze der Medizin aus dem pädagogischen Wissenskanon ausschloss.
Der überzeugende Beitrag von Nadja Wenger über die St. Galler Fürsorgestelle für Anormale in den 1940er Jahren richtet den Blick auf die als ‚anormal‘ beurteilten und für den Ausschluss aus der Regelschule bestimmten Kinder. Die Verknüpfung der Hilfsschule mit der ‚Sozialen Frage‘ wird hier ebenso plastisch wie die „Ambivalenz des Sozialstaats“ (255): Die Schüler:innen stammten fast ausnahmslos aus der Unterschicht – und nahmen die häufig angeordnete Maßnahme einer Fremdplatzierung teils als Bestrafung wahr. Darüber hinaus gab es in dem Kanton noch kaum Spezialklassen, sodass die Diagnose einer verminderten ‚Bildungsfähigkeit‘ hier keine ‚Spezialbildung‘, sondern nur eine ‚Versorgung‘ in einer Anstalt zur Konsequenz hatte.
Die Relevanz der konkreten lokalen Bedingungen und vorhandenen Bildungsinstitutionen für die beurteilten Schüler:innen wird auch im Beitrag von Fanny Isensee zum Einsatz von Intelligenztests im New York der 1920er Jahre deutlich. Isensee ordnet diesen in die eugenisch gefärbte städtische Politik der Regulierung von Immigration ein. Die Ansätze einer rationalisierten Schulverwaltung stießen an ihre Grenzen, wenn Kinder mit geringen Englischkenntnissen im Rahmen sogenannter Reclassification Projects zwar durchgetestet wurden, mangels Plätzen in den für sie ‚passenden‘ Klassen aber nicht umverteilt werden konnten.
Vier Beiträge widmen sich der Prüfung und Selektion in der Zeit des Übergangs vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Verluste im Ersten Weltkrieg und unter neuen (bildungs-)politischen Rahmenbedingungen erfuhren Fragen einer möglichst ökonomischen und zugleich gerechten Auslese und der Steuerung des Aufstiegs durch Bildung eine neue Brisanz.
Der erhellende Beitrag Susanne Schregels zu sogenannten Begabtenschulen kann als Verbindungsglied zwischen den Schwerpunkten des Bands gelesen werden. Mit dem Begriff des „Resonanzeffekt[s]“ (136) macht sie deutlich, dass die Intelligenzforschung ein graduell ausdifferenziertes Spektrum an Intelligenzkonzeptionen zwischen zwei Extremen des ‚Unter- und Übernormalen‘ hervorbrachte. Diese Resonanzeffekte spiegeln sich in den Debatten um Hilfs- wie um Begabtenklassen wider, die parallel zu- und unter Bezugnahme aufeinander z. B. eine Individualisierung des Unterrichts oder Homogenisierung von Leistungsgruppen forderten.
Rebecca Heinemann beleuchtet mit William Stern und seinem personalistischen Begabungskonzept einen der Protagonist:innen dieser Debatten, die sich u. a. mit der Gestaltung der Auslese an unterschiedlichen Schwellen des Bildungssystems auseinandersetzten. Dies zeigen die Beiträge von Christina Alarcón Lopez zur Entstehung des Grundschulgutachtens sowie von Johanna Lerch zur Arbeit der Berliner Berufsberatung. Beide arbeiten heraus, dass die Psychologie mit neuen Vermessungstechniken das pädagogische (Laien-)Wissen nicht einfach zu verdrängen vermochte. Zwar galten die Lehrer:innen als ungeschult in der Diagnostik, verstanden sich aber durch die langfristige Beobachtung im Alltag als „Expert*innen des Kindes“ (107).
Drei Aufsätze schließlich fokussieren Prüfende und ihr Verhältnis zu Standardisierungsbemühungen. Joachim Scholz‘ und Kerrin von Engelhardts Beiträge zum deutschen Abituraufsatz zeichnen die Einsätze um eine Objektivierung des Lehrer:innenurteils sowie eine Vereinheitlichung der Bewertungskriterien nach. Zudem argumentieren sie am Beispiel verschiedener Berliner Abiturjahrgänge im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, dass Lehrpersonen gerade in diesem offenen Prüfungsformat den größten Spielraum in der Bewertung hatten und im Urteil über die ‚Gesamtbildung‘ der Prüflinge das propagierte meritokratische Prinzip unterlaufen konnten.
Michaela Vogt vergleicht Hilfsschulaufnahmeverfahren in der DDR und der BRD bis in die späten 1970er Jahre. Sie zeigt anhand einer Analyse einzelner Gutachten, dass sich die Auslese nicht einfach steuern ließ und die Entscheidung über die Zuweisung zur Regel- bzw. Hilfsschule im Falle ähnlicher Beurteilungen von Kindern unterschiedlich ausfallen konnte. Dass Vogt dafür den Begriff „willkürlich“ (270) wählt, irritiert, betont doch der Beitrag, dass bildungspolitische Vorgaben, Vorstellungen von ‚A/Normalität‘ sowie Handlungen der Akteur:innen stets zeitlich und räumlich bedingt gewesen seien. Überzeugend sind allerdings die von Vogt aufgeworfenen Fragen nach dem „Nicht-Dokumentierten“ (271) und der Rolle der Familien im Entscheidungsprozess, die es weiter zu erforschen gilt.
Bedauerlicherweise widmet sich kein weiterer Beitrag der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine erstaunliche Lücke stellt die Zeit des Nationalsozialismus dar. Dies ist ein Schwachpunkt des Sammelbands, der mit dem im Titel angegebenen Untersuchungszeitraum 1880–1980 mehr verspricht. So erfahren die Leser:innen viel über die Diskurse und Praktiken der Prüfung und Selektion bis in die 1930er Jahre und die Bedeutung, die die Ausbildung der Wohlfahrtsstaaten sowie der politische Umbruch um 1918 hatten. Synthesen oder Perspektiven zur Selektionsfunktion der Schule – unter Berücksichtigung weiterer Ungleichheitskategorien – oder zu den Konsequenzen des Inklusions-Paradoxes über diese Zeit hinaus fehlen dagegen.
Durch Dopplungen ergibt sich auch ein Zerrbild: Zwar wird z. B. der Einfluss der Intelligenzforschung und experimenteller Prüfungsmethoden stets als gering eingeschätzt, ihre Protagonist:innen tauchen aber in zahlreichen Beiträgen auf. Stattdessen hätte z. B. eine Fallstudie, die die Wissensbestände von Eltern oder der oft an Ausleseprozessen beteiligten Personen aus den Wohlfahrtsämtern und Kirchen thematisiert, den Band bereichern können.
Eine der Stärken des Bandes ist die Betonung der engen Kopplung zwischen Schule und Gesellschaft. Es wird klar, dass die Schule „in ihrer eigenen Logik“ und „für die Schule“ [3] selektierte, sie diese Selektion zugleich gesellschaftspolitisch legitimierte und darüber hinaus die gesellschaftliche Ordnung mit verhandelte.
Zudem erhellt der Band die Wissensproduktion zwischen verschiedenen Disziplinen und zeigt die Notwendigkeit, Diskurse zur historisieren, um zu verstehen, wer wann als ‚heilbar‘, ‚erziehbar‘, ‚begabt‘ galt. Die offengelegten Ambivalenzen bei Versuchen der Vereindeutigung und Sichtbarmachung von ‚Leistung‘ vermögen auch gegenüber Versprechungen neuer Vermessungs- und Prüfungstechniken zu sensibilisieren.
Besonders überzeugt der Band schließlich da, wo die Praxis von Expert:innen und die Konsequenzen für konkrete Schüler:innen in spezifischen Räumen beleuchtet sowie deren Interessen und Perspektiven einbezogen werden. Zudem lädt er in der Gesamtschau dazu ein, die Geschichte moderner Schule nicht nur entlang pädagogischer Institutionen und Disziplinen zu untersuchen, sondern in eine allgemeine Geschichte des Aufwachsens im sich ausgestaltenden Wohlfahrtsstaat zu integrieren.
[1] Ricken, N. & Reh, S. (2017). Prüfungen – systematische Perspektiven der Geschichte einer pädagogischen Praxis. Zeitschrift für Pädagogik 63, 3, 247–258, S. 247.
[2] Breidenstein, G. (2018). Das Theorem der „Selektionsfunktion der Schule“ und die Praxis der Leistungsbewertung. In S. Reh & N. Ricken (Hrsg.), Leistung als Paradigma. Zur Entstehung und Transformation eines pädagogischen Konzepts (S. 307–327). Wiesbaden: Springer VS, S. 324.
[3] Ebd.
EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)
Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1980
Bildungsgeschichte. Forschung – Akzente – Perspektiven
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(277 S.; ISBN 978-3-7815-2458-3; 24,90 EUR)
Anne Otto (Halle-Wittenberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anne Otto: Rezension von: Reh, Sabine / Bühler, Patrick / Hofmann, Michèle / Moser, Vera (Hg.): Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1980, Bildungsgeschichte. Forschung – Akzente – Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152458.html
Anne Otto: Rezension von: Reh, Sabine / Bühler, Patrick / Hofmann, Michèle / Moser, Vera (Hg.): Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1980, Bildungsgeschichte. Forschung – Akzente – Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152458.html