Gemeinsames Lernen und die damit einhergehenden Entwicklungen der Handlungskontexte von Akteur*innen in Einzelschulen empirisch zu beforschen, ist für Inklusionsforschung ein bedeutungsvolles Thema. Einschlägige Studien zeigen auf, dass gerade in der Praxis schulischer Akteur*innen spannungsreiche Konstellationen entstehen. Pädagogisch-normative Ansprüche an inklusive Schulen, bildungspolitische Programme, administrative Vorgaben, organisationale Rahmenbedingungen und Handlungslogiken der Akteur*innen in der schulischen Praxis lassen sich nicht immer widerspruchsfrei zusammenführen. Benjamin Badstieber setzt sich in seiner Dissertationsschrift in einer dreistufigen Mixed-Methods-Studie das Ziel, Schulleitende als Akteur*innen in Einzelschulen zu untersuchen, denen einerseits in der Untersuchung von (inklusiver) Schulentwicklung eine hohe Relevanz zugerechnet wird und die andererseits in der Inklusionsforschung noch wenig untersucht wurden. Dementsprechend erscheint das Forschungsdesiderat, das der Autor aufdeckt und bearbeitet, hochspannend und -relevant.
Zu Beginn arbeitet der Autor die Fragestellung heraus (Kap. 1) und setzt sich mit Theorien des schulischen Wandels auseinander (Kap. 2). Daran anschließend zeichnet er Inklusion als Begriff sowie als Entwicklung in Nordrhein-Westfalen (NRW) nach (Kap. 3 und 4). In den Kapiteln fünf und sechs fokussiert der Text Schulleitungen als Akteur*innen in (inklusiven) schulischen Kontexten. Die methodischen Überlegungen bzgl. des Mixed-Method-Designs sowie der qualitativen und quantitativen Teilstudien finden in Kapitel sieben Raum. Ergebnisse der Promotionsarbeit, die Diskussion dieser sowie daraus abgeleitete Bilanzierungen und Perspektiven werden in den Kapiteln neun bis elf dargestellt.
In der Konturierung eines soziologischen Verständnisses von Schule baut das Forschungsdesign v.a. auf der neuen Theorie der Schule nach Fend auf. Der Autor fokussiert dementsprechend Rekontextualisierungsstrategien von Schulleitenden in Schulen des Gemeinsamen Lernens. Diese nehmen eine Zwischenposition zwischen Bildungspolitik und -administration und den Akteur*innen in der Einzelschule ein und werden als zentrale Personengruppe entworfen, die Ansprüche an die schulische Handlungspraxis für diese rekontextualisieren und bestimmte Programme in Schulen etablieren wollen oder müssen. Als weitere theoretische Säule erarbeitet der Autor unterschiedliche Verständnisse von Inklusion, um anschließend eine Unterscheidung zwischen transformatorischen und systemkonformen Verständnissen von Inklusion zentral zu setzen (48). Dies erscheint mit Blick auf eine Untersuchung, die die Rekontextualisierung von Transformationsansprüchen fokussiert, schlüssig.
Vor dem Hintergrund der zentral gestellten Inklusionsverständnisse resümiert der Autor inklusionsbezogene internationale, nationale und bundeslandspezifische (NRW) Entwicklungen sowie Forschung zu Schulleitenden und skizziert so umfassend, innerhalb welcher von spannungsvollen und teilweise paradoxen Ansprüchen bestimmten Beziehungen Schulleitungen in der Realisation des Gemeinsamen Lernens in ihren Schulen handeln (müssen). So wird die Gestaltung einer Schule des Gemeinsamen Lernens immer wieder als „Balanceakt“ (94) herausgearbeitet, bei dem die Schulleitungen einerseits Gestaltungsmöglichkeiten haben, andererseits aber mit „Positionsschwächen“ (87) zu kämpfen haben. Wie sich der Balanceakt im Gemeinsamen Lernen gestaltet, zeigt der Autor prägnant in einer Beschreibung des (aktuell noch lückenhaften) Forschungsstands auf.
Die Mixed-Methods-Studie untersucht das Schulleitungshandeln in zwei unterschiedlich methodisch angelegten Teilstudien: Anhand der Daten einer deskriptiv sowie interferenzstatistisch ausgewerteten Fragebogenstudie erhebt der Autor u.a. die expliziten Inklusionsverständnisse der Schulleitungen sowie ihre Selbstverständnisse im Umgang mit dem Gemeinsamen Lernen. Zentral arbeitet der Autor u.a. vier Cluster heraus, die unterschiedliche Selbstverständnisse der Schulleitenden angesichts des Gemeinsamen Lernens subsumieren: So bilden sich „ausgeprägte Gestalter mit geringer Belastung“ (157), „ausgeprägte Gestalter mit Belastung“ (ebd.), „Gestalter-Verwalter mit geringer Belastung“ (ebd.) und „Gestalter-Verwalter mit hoher Belastung“ (ebd.) ab. Die Komparation dieser Cluster macht deutlich, dass sich die miterhobenen Kontextfaktoren Schulform sowie Erfahrungen und Dispositionen als relevant für die Zuordnung der Schulleitenden zu den Clustern ergeben. Insgesamt sind die Ergebnisse der quantitativen Studie weitgehend konform zu den aufgestellten Hypothesen und überraschen im Abgleich mit dem Forschungstand zuerst einmal nicht. Allerdings finden sich durch die quantitative Studie bisher überwiegend theoretisch angenommene Aspekte empirisch und forschungsmethodisch überzeugend überprüft und (weitestgehend) bestätigt. Hierin ist ein großer Mehrwert der Studie zu sehen.
Mit Blick auf implizite Wissensbestände bietet das Buch Ergebnisse der qualitativ-rekonstruktiven Teilstudie des Mixed-Methods-Designs, in der zwölf Schulleitungen in problemzentrierten Expert*inneninterviews befragt wurden. Die Interviews wurden in Anlehnung an die Dokumentarische Methode nach Nohl ausgewertet. Zentrale Ergebnisse der Analyse sind vier Fallgruppen: „Transformatorisches Gestalten in widersprüchlich erlebten Kontexten“ (183), „(Wett-)Eifern in belastend erlebten Kontexten“ (198), „Pragmatisch organisieren und Administrieren“ (213) und „Problematisieren und Delegieren in widersprüchlich erlebten Kontexten“ (227). Nach der Lektüre bleibt der Eindruck, dass keine der Schulleitungen sich von einem auf Behinderung oder sonderpädagogischen Förderbedarf fokussierten Verständnis lösen kann bzw. will (257 ff.). Es stellt sich also die Frage, ob sich eine Transformation im Sinne einer Überwindung einer Zwei-Gruppen-Theorie, wie sie in den theoretischen Überlegungen skizziert wird (48), überhaupt im Datenmaterial abzeichnet. Der große Mehrwert der qualitativ rekonstruktiven Studie wird aber in der differenzierten Darstellung der vier Fallgruppen deutlich. So eröffnet die Teilstudie neue Perspektiven und Ausdifferenzierungen des Wissens für eine noch ‚junge‘ Schulleitungsforschung in inklusiven Kontexten.
Die Ergebnisse der beiden Teilstudien führt der Text in vier „[f]allgruppenspezifischen Rekonstexutalisierungsstrategien“ (253) und in „fallgruppenübergreifenden Rekontextualisierungsstrategien“ (263) zusammen. Diese sieht der Autor als Umsetzungsszenarien, die sich für Schulleitungen innerhalb der eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten inklusiver Einzelschulen ergeben. Diese Szenarien lassen sich als weitere Abstraktion der Ergebnisse der Teilstudien verstehen. Aus forschungsmethodischer Sicht lässt sich diese weitere Abstraktion kritisch hinterfragen, da die Teilstudien unterschiedliche Wissensebenen adressieren (explizites Wissen vs. implizites Wissen) und so ggf. Differenzierungen der Teilstudien nivelliert werden. Gleichzeitig bietet diese Abstraktion den Lesenden eine kondensierte Darstellung übergreifender Ergebnisse der beiden Studien, die der Autor abschließend für Anregungen für schulische Praxis sowie weitere Forschungsvorhaben nutzt.
In der Gesamtschau bietet das hier rezensierte Buch für Forschende mit einem besonderen Interesse an Schulentwicklungsprozessen und Schulleitenden in Schulen des Gemeinsamen Lernens neue und hochrelevante Erkenntnisse bzgl. eines Forschungsfelds, das bisher zu wenig beleuchtet wurde. Gerade die beiden Teilstudien bieten einen breiten Fundus an Anknüpfungspunkten, die in weiteren Forschungsvorhaben und einer differenzierten theoretischen Debatte aufgegriffen werden sollten.
EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)
Inklusion als Transformation?!
Eine empirische Analyse der Rekontextualisierungsstrategien von Schulleitenden im Kontext schulischer Inklusion
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2021
(313 S.; ISBN 978-3-7815-2440-8; 44,00 EUR)
Georg Geber (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Georg Geber: Rezension von: Badstieber, Benjamin: Inklusion als Transformation?!, Eine empirische Analyse der Rekontextualisierungsstrategien von Schulleitenden im Kontext schulischer Inklusion. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152440.html
Georg Geber: Rezension von: Badstieber, Benjamin: Inklusion als Transformation?!, Eine empirische Analyse der Rekontextualisierungsstrategien von Schulleitenden im Kontext schulischer Inklusion. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152440.html