Der vorliegende Sammelband versteht sich als „ordnender Überblick“ (7) über die verschiedenen Zugänge und Perspektiven der Arbeit mit und an Fällen in Lehre und Forschung und verspricht damit, Ordnung in die Unordnung der diffusen kasuistischen Herangehensweisen zu bringen. Entstanden ist der Band aus einer 2017 abgehaltenen Tagung des Projekts Kasuistische Lehrer*innenbildung für inklusiven Unterricht (KALEI) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Der Band gliedert sich in vier sogenannte „Systematisierungskomplexe“ (8), die zugleich selbst als Ordnungsschemata kasuistischer Zugänge gelesen werden können.
Den vier Abschnitten vorangestellt und als einführend zu verstehen, ist der Aufsatz der Herausgeber:innen. Dieser gibt einen kurzen, aber sehr aufschlussreichen und an herausgearbeiteten Dimensionen orientierten Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser disziplinären Zugänge. Die implizite Erkenntnis daraus lautet, dass es eine einheitliche Kasuistik aufgrund der differenzierten Perspektiven nicht gibt – ein Befund, der später im Band auch von Thomas Wenzl aufgegriffen wird.
A) Fälle disziplinär diskutieren – Fälle interdisziplinär verorten (5 Aufsätze; 21-124)
Die fünf Artikel dieses Komplexes greifen das Thema der Fallorientierung aus der Sicht ihrer jeweiligen Disziplin auf und versuchen dabei aufzuzeigen, wie sich darin die jeweilige Arbeit am Fall darstellt und nutzen lässt. Der im Titel des Abschnitts versprochene duale – disziplinäre und interdisziplinäre – Blick wird sogleich im ersten Beitrag von Merle Hummrich eingelöst, indem sie einerseits die Kasuistik anderer Fachdisziplinen in Kontrast setzt und daran anschließend eine gelungene idealtypische Systematisierung von kasuistischen Perspektiven vorschlägt. Besonders die Miteinbeziehung der Theorie-Praxis-Debatte und der Aspekt der Normativität wirken dabei erhellend. Der Beitrag von Friederike Heinzel vertieft die Systematisierung der kasuistischen Zugänge in der Schulpädagogik und Lehrer*innenbildung, in dem sie verschiedene Ordnungsversuche aufzeigt und bespricht. Dies hilft dabei, die verschwommene Landschaft der Kasuistik klarer zu erkennen. Ursula Bredel und Irene Pieper greifen die bislang unterbelichtete fachdidaktische Perspektive auf, in dem sie beispielhaft an zwei Fallbeschreibungen von Unterrichtsverläufen auf diverse Vorzüge der fallanalytischen Zugänge hinweisen. Der Vergleich unterschiedlicher Zugänge der Kasuistik in der Erwachsenenpädagogik wird in einem Beitrag von Jörg Dinkelaker vollzogen, in dem er das Modell der Sozialen Welt aufgreift, wodurch er jedoch Gefahr läuft, den scheinbaren Gegensatz von Theorie und Praxis als zwei voneinander getrennte Welten zu reproduzieren. Die Sicht der Sozialpädagogik wird von Diana Handschke und Bettina Hünersdorf in anregender Weise aufgegriffen, indem sie auch auf die spezielle Perspektive auf Normalität und Normalisierung in dieser Disziplin eingehen – gefolgt von Überlegungen zur Dekonstruktion dieser Normalität mittels Kasuistik, die auch abseits der Sozialpädagogik einen Mehrwert versprechen.
B) Mit Fällen forschen – durch Fälle Wissen schaffen (2 Aufsätze; 125-168)
Das kurze Kapitel zur wissenschaftlichen Perspektive auf Kasuistik wird von Carla Schelle eingeleitet, die einen weiteren Ordnungsversuch unternimmt, Falldarstellungen in verschiedenen Modi und Funktionen zu unterscheiden und zu sortieren. Werner Helsper weist in seinem Beitrag auf die Rückbesinnung auf den Einzelfall hin, der in der zunehmenden Quantifizierung, aber auch in der qualitativen Forschung teilweise verloren geht. Er untersucht dabei verschiede Forschungsmethod(ologi)en auf ihr Potenzial hin, einer „Imaginerie des Praxisbezugs“ (162) (s. a. den Beitrag von Andreas Wernet im Band) durch Fallarbeit zu entgehen, um eine fallrekonstruktive universitäre Lehrer*innenbildung zu ermöglichen.
C) Mit Fällen lehren – an Fällen lernen (5 Aufsätze; 169-258)
Der dritte Abschnitt startet mit einem Ordnungsversuch von Zugängen zur Fallarbeit in der universitären Lehre, indem unterschiedliche Modi und deren Ziele in Kontrast gesetzt werden. Richard Schmidt und Doris Wittek finden in ihrer Meta-Analyse von Ordnungssystemen unterschiedliche Systematisierungsmethoden und vier Idealtypen der Kasuistik im universitären Setting. Tobias Leonhard vertieft daraufhin die Kasuistik für die Schul- und Berufspraktischen Studien, die er als Zwischensphäre der Lernorte der Hochschule und des Schulfeldes begreift. Dabei nimmt er auch die Notwendigkeit der Pädagogischen Hochschulen und ihrer Lehrenden in den Blick, die für das Gelingen fallbezogener Lehre verantwortlich seien (der geschilderte Schweizer Lagebericht lässt sich auch auf Österreich übertragen). Olaf Krey, Thorid Rabe und Michael Ritter weisen daraufhin auf die bislang eher randständige Rolle der Kasuistik in der Fachdidaktik (s. a. Artikel von Ursula Bredel und Irene Pieper im Band) hin. Anhand zweier ausführlicher Beispiele in der Physik- und Deutschdidaktik erarbeiten sie Ansätze und Ziele der Kasuistik und erkennen dabei den Mehrwert, aber auch Spannungsfelder und Grenzen der kasuistischen Herangehensweise für die Fachdidaktik. Marcus Syring widmet sich in seinem Artikel der videobasierten Kasuistik und zeichnet dabei historische Entwicklungen sowie konkrete Ziele, Wirkungen und Merkmale dieser nach, wobei dies als einziger Beitrag aus dem Fokus des kompetenzorientierten Ansatzes geschieht. Benjamin Krasemann gibt abschließend einen Überblick über die verschiedenen Fallarchive im deutschsprachigen Raum.
(D) (Quer-)Perspektiven eröffnen – (Un-)Ordnungen neu denken (3 Aufsätze; 259-319)
Richard Schmidt und Doris Wittek eröffnen mit ihrem zweiten Beitrag für diesen Sammelband den abschließenden Abschnitt und legen den Fokus auf die Variante der rekonstruktiven Kasuistik. Aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung und der fehlenden Passung des Habitus der Studierenden mit den institutionsgebundenen Normen sehen die Autor*innen in dieser Form der Kasuistik ein „unerreichbares Ideal universitärer Lehre“ (271). Thomas Wenzl vertieft in seinem Beitrag schließlich einmal mehr die interdisziplinäre Sicht und kommt im Vergleich mit der juristischen und medizinischen kasuistischen Lehrbuchliteratur zum Schluss, dass die Annahme und das Ziel der Kasuistik, sie stärke die Reflexionsfähigkeit und sei dadurch der pädagogischen Praxis dienlich, ein Trugschluss sei, der einem kompetenzorientierten Professionalisierungsverständnis gleiche. Die oft zitierte Nähe zur Kasuistik der Rechtswissenschaft und Medizin dekonstruiert Wenzl, indem er deren wissenschaftsferne Lösungsorientierung hervorhebt, die der rekonstruktiven Kasuistik der Erziehungswissenschaft widerstrebe. Diese Perspektive des wissenschaftlichen Anspruchs universitärer Kasuistik greift auch Andreas Wernet im abschließenden Kapitel des Sammelbandes auf, indem er von einem „hysterischen Praxisanspruch“ (300) spricht, den er anhand verschiedener „Fallstricke der Kasuistik“ (299) erläutert. Die Kasuistik dürfe nicht der Versuchung des Praxisanspruchs unterliegen, der auf Dauer den wissenschaftlichen Anspruch kontaminieren könnte.
Durch die angenehm reflexiven Überlegungen wird das Anliegen der Herausgeber:innen deutlich, die trotz der vielfältigen und dabei diffusen Perspektiven auf erziehungswissenschaftliche Kasuistik die Anstrengung auf sich nehmen, zu einem Selbstverständnis kasuistischer Forschung und Lehre beizutragen. Auch die vorliegenden Ordnungsversuche stellen keine endgültigen dar, was auch nicht das Anliegen dieses Bandes darstellt. Ganz im Gegenteil – er regt zum Weiterdenken an und vielleicht wäre ein Schubladensystem im Kasuistik-Baukasten auch gar nicht hilfreich, damit die Kasuistik weiter ein „unordentlicher Begriff“ (18) bleiben kann.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Kasuistik in Forschung und Lehre
Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Ordnungsversuche
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(324 S.; ISBN 978-3-7815-2431-6; 21,90 EUR)
Michael Holzmayer (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Holzmayer: Rezension von: Wittek, Doris / Rabe, Thorid / Ritter, Michael: Kasuistik in Forschung und Lehre, Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Ordnungsversuche. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152431.html
Michael Holzmayer: Rezension von: Wittek, Doris / Rabe, Thorid / Ritter, Michael: Kasuistik in Forschung und Lehre, Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Ordnungsversuche. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152431.html